Ökologie der Wirbeltiere

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Ökologie der Wirbeltiere
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Werner Suter

Ökologie der Wirbeltiere

Vögel und Säugetiere

Haupt Verlag

1. Auflage 2017

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie: detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright © 2017 Haupt Bern

Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Umschlaggestaltung: Atelier Reichert, D-Stuttgart

Satz: Die Werkstatt Medien-Produktion GmbH, D-Göttingen

Grafiken: Sabine Seifert, Satz/Grafik/Lektorat, D-Stuttgart

Trotz intensiver Recherchen war es nicht in allen Fällen möglich, die Rechteinhaber der Abbildungen ausfindig zu machen. Berechtigte Ansprüche werden selbstverständlich im Rahmen der üblichen Vereinbarungen abgegolten.

E-Book Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim

UTB-Band-Nr.: 8675

ISBN 978-3-8463-8675-0

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

«Weshalb ein solches Buch schreiben?» fragte der Autor eines in diesem Buch mehrfach zitierten Standardwerks in seinem Vorwort. Schließlich favorisieren die akademischen Institutionen nicht die Produktion von Büchern, sondern jene von Beiträgen in wissenschaftlichen Zeitschriften, weil diese heute die anerkannten Einheiten im System der Leistungsbewertung sind. Er folgerte aber, dass es dennoch gute Gründe gebe, die Schaffenskraft auch einmal in ein Lehrbuch zu stecken. Manche Einzelfragen lösten sich erst durch ihre Einbettung in den größeren Zusammenhang, und die umfassendere Perspektive, die ein Buch biete, gäbe oft auch Anlass zu neuen Fragen. Und ein Kapitelgutachter schrieb mir: «Ein Lehrbuch hat einen viel nachhaltigeren Effekt als 20 Zeitschriftenartikel.» Diesen Aussagen schließe ich mich gerne an. Letztlich hat dieses Buch dieselbe Entstehungsgeschichte wie zahlreiche Bücher vor ihm: Es ging aus dem Skript einer langjährig gehaltenen Vorlesung, im vorliegenden Fall an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich ETHZ, hervor. Das Skript seinerseits entstand, weil kein entsprechendes Lehrbuch existierte, das die Vorlesung hätte begleiten können.

Welche Nische füllt also dieses Buch? Es möchte eine moderne Einführung in die Ökologie der Wirbeltiere mit Schwerpunkt Vögel und Säugetiere sein, die zunächst auf Studierende im Übergangsbereich von der Bachelor- zur Masterstufe ausgerichtet ist, daneben aber von einem weiten Kreis von Fachleuten in Wissenschaft und Praxis (Wildtiermanagement, Naturschutz etc.) als Fachbuch zum Thema genutzt werden kann. Fischbiologen und Herpetologen mögen mir die liberale Verwendung des Begriffs «Wirbeltiere» verzeihen, der im Untertitel dann auf Vögel und Säugetiere eingegrenzt wird. Die taxonomische Fokussierung auf die beiden endothermen Wirbeltiergruppen erlaubt bei vielen Themen eine in sich geschlossene Betrachtungsweise. Innerhalb der Vögel und Säugetiere wird versucht, über die Wahl der Beispiele allen höheren taxonomischen Einheiten Raum zu gewähren. Dass Herbivoren und größere Prädatoren in einzelnen Kapiteln etwas übervertreten sind, ist zu einem Teil beabsichtigt, zu einem andern aber eine Folge des ungleichen Forschungs- und Kenntnisstands über die verschiedenen verwandtschaftlichen Gruppen.

Auf der Sachebene ist es mir ein Anliegen, nicht nur die Breite der ökologischen Themen einigermaßen abzudecken, sondern auch gewissen Themen mehr Gewicht zu geben, die in anderen Ökologiebüchern eher stiefmütterlich behandelt werden. Das betrifft etwa ökophysiologische und verhaltensökologische Aspekte der Ernährung, evolutionsbiologische Grundlagen des Reproduktionsverhaltens, Wanderungen, die ausführliche Behandlung der Prädation oder von Parasitismus und Krankheiten sowie die Fokussierung auf exemplarische Themen der Naturschutzbiologie.

Bezüglich der Gewichtung von Theorie und empirischen Befunden wird versucht, eine Balance zu halten. Die Themen werden über die Theorie eingeführt und diese, wenn möglich, in einem evolutionsbiologischen Kontext besprochen. Wichtig ist mir stets, dass die Theorie durch empirische Evidenz gestützt wird – wo diese fehlt, wird auch die Theorie nicht weiter ausgeführt. Wo aber Befunde reichlich vorhanden sind, werden sie in der Art eines kurzen Reviews besprochen. Das Kapitel 9 ist ein gutes Beispiel: Es geht nicht nur darum, welche verschiedenen Effekte Prädation theoretisch haben kann, sondern auch darum, wie häufig diese verschiedenen Effekte tatsächlich sind.

Der geografische Fokus ist grundsätzlich global; entsprechend sind die Beispiele und zitierten Arbeiten ausgewählt, wobei natürlich die über die Kontinente ungleich verteilte Forschungsintensität abgebildet ist. Gelegentlich wird allerdings ein Thema bewusst mit einem geografischen Schwerpunkt behandelt, so etwa im Kapitel «Naturschutzbiologie».

Ein Wort ist auch zur verwendeten Literatur angebracht. Die verbreitete Praxis, nur neueste Arbeiten zu zitieren, wird oft kritisiert, weil sie zum «Wiederkäuen» von Ideen führt und so die eigentliche Autorschaft der Ideen verleugnet. Obwohl ich die Kritik teile, halte ich es hier genauso, aber aus anderem Grund. Das Buch soll nämlich auch helfen, dem Leser oder der Leserin die Literatur aufzuschließen, und da eignen sich die neuesten Artikel besser, denn mit ihnen als Startpunkt kann man sich zurückarbeiten. Deshalb machen Artikel ab dem Jahr 2000 den größten Teil der hier zitierten Literatur aus. Etwas ältere Arbeiten werden zitiert, wenn es sich um bedeutende Einzelarbeiten oder Reviews handelt oder wenn seither nichts Gleichwertiges zum Thema mehr erschienen ist. Zitierte Arbeiten mit Erscheinungsjahr vor 1980–1985 sind in der Regel Klassiker, in denen wichtige neue Ideen, Theorien und Konzepte begründet wurden.

Die intensive Verwendung jüngster Literatur lässt auch Raum für neueste Ideen, sich abzeichnende Entwicklungen, oder die Infragestellung von bisher akzeptierten «Wissen», auch wenn diese den Test der Zeit noch nicht bestanden haben. In diesem Fall versuche ich, die spekulative Natur entsprechender Aussagen im Text klar auszudrücken, zum Beispiel durch: «Neueste Ergebnisse deuten darauf hin, dass …». Dem erwähnten Aufschließen der (englischsprachigen) Literatur dienen auch zwei weitere Merkmale: Erstens wird bei wichtigen Fachbegriffen immer auch die englische Version in Klammer angefügt, und zweitens werden am Schluss der Kapitel die wichtigsten (englischen, in Einzelfällen auch deutschen) Lehrbücher zum Thema vorgestellt, zusammen mit einem Kommentar bezüglich Inhalt und Ausrichtung – eine subjektive Note ist dabei natürlich nicht zu vermeiden.

Eine letzte Erklärung verlangt auch eine andere Eigenheit des Textaufbaus: die teilweise ungewöhnlich langen Abbildungsunterschriften. Die Abbildungen (und wenigen Tabellen) sollen nicht nur die Aussagen im Lauftext illustrieren, sondern diesen auch vertiefen und ergänzen. Besonders lange Abbildungsunterschriften verfolgen oftmals einen Gedanken, der den Fluss des Lauftextes sprengen würde. Größeren Exkursen sind hingegen die eingestreuten Boxen gewidmet.

Der Anforderungen an ein Lehrbuch sind viele, aber eine der wichtigsten ist die inhaltliche Richtigkeit. Ich durfte auf die großzügige Hilfe einer großen Zahl von Kollegen und Kolleginnen zählen, die ganze Kapitel oder Teile davon begutachteten, Fehler und Unstimmigkeiten identifizierten, Literaturhinweise gaben oder zeigten, wie sich der Text verbessern ließ. Mein herzlicher Dank diesbezüglich geht an Einhard Bezzel (Staatliche Vogelschutzwarte, Garmisch-Partenkirchen), Claudia Bieber (Veterinärmedizinische Universität Wien), Kurt Bollmann (Eidgenössische Forschungsanstalt WSL), Roland Brandl (Philipps-Universität Marburg), Bruno Bruderer (Schweizerische Vogelwarte Sempach), Marcus Clauss (Universität Zürich), Marco Heurich (Nationalpark Bayerischer Wald), Ueli Hofer (Naturhistorisches Museum der Burgergemeinde Bern), Markus Jenny (Schweizerische Vogelwarte Sempach), Petra Kaczensky (Veterinärmedizinische Universität Wien), Peter M. Kappeler (Georg-August-Universität Göttingen/Deutsches Primatenzentrum), Felix Liechti (Schweizerische Vogelwarte Sempach), Rachel Muheim (Universität Lund), Peter Neuhaus (University of Calgary), Gilberto Pasinelli (Schweizerische Vogelwarte Sempach), Roland Prinzinger (Goethe-Universität Frankfurt am Main), Heinz Richner (Universität Bern), Kathreen E. Ruckstuhl (University of Calgary), Michael Schaub (Schweizerische Vogelwarte Sempach), Fritz Trillmich (Universität Bielefeld), Kristina Vogt (KORA Raubtierökologie und Wildtiermanagement, Muri), Raffael Winkler (Naturhistorisches Museum Basel) und Barbara Zimmermann (Hedmark University College). Für weitere Verbesserungen am Text bin ich Lukas Jenni, Rolf Holderegger, Martin Obrist und Thomas Sattler dankbar. Fehler im Text, welche alle Aktionen zu ihrer Ausmerzung überstanden haben, sind allein meine Schuld. Sachdienliche Hinweise nehme ich sehr gerne unter werner.suter@wsl.ch entgegen.

 

Auch bei der Beschaffung der Abbildungen durfte ich große Unterstützung genießen. Aus dem Archiv der Schweizerischen Vogelwarte Sempach stellten Christian Marti und Marcel Burkhardt eine Anzahl Fotos verschiedener Autoren unentgeltlich zur Verfügung. Weitere Abbildungen verdanke ich Joel Berger, Tim Blackburn, Kurt Bollmann, Isabella Capellini, Maria Dias, Tzung-Su Ding, Peter und Rosemary Grant, Marcus Hamilton, Walter Jetz, Johannes Kamp, Brian McNab, Ken Nagy, Stuart Phinn, Matt Rayner, Patrick Robinson, Heiko Schmaljohann, Josef Senn, Claire Spottiswoode, Marius van der Merwe, Rory Wilson und Raffael Winkler. Raphaël Arlettaz, Claudia Müller und Beat Naef-Daenzer stellten Datensätze zur Verfügung, während Marianne Haffner, Alena Klvaňová und Brian Sullivan die Herstellung weiterer Abbildungen ermöglichten. Ihnen allen gilt ebenfalls mein Dank.

Seitens des Haupt Verlags Bern wurde ich stets zuverlässig und auf zuvorkommende Weise von Regine Balmer und Martin Lind begleitet, welche für die sorgfältige Gestaltung und Produktion dieses Buchs einstanden. Für die Erstellung verschiedener Grafiken danke ich Sabine Seifert, für das Layout des Buches der Werkstatt Medien-Produktion (Göttingen) und Claudia Bislin für das Korrektorat.

Um auf den Beginn des Vorworts zurückzukommen: Ich bin meiner Arbeitgeberin, der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL sehr dankbar, dass sie mir großzügig die Arbeitszeit einräumte, die für die Entstehung dieses Werks notwendig war. Und zum Schluss ‒ und ganz besonders ‒ danke ich meiner Frau Dorothee für ihr Verständnis und ihre Geduld, wenn zum wiederholten Male «das Buch» wieder Priorität über die familiären Angelegenheiten beanspruchte.

Birmensdorf, Ende April 2017

1 Vögel und Säugetiere – eine Einführung


Abb. 1.0 Impala (Aepyceros melampus) mit Rotschnabel-Madenhackern (Buphagus erythrorhynchus)

Kapitelübersicht
1.1 Diversität der Vögel und Säugetiere
1.2 Vögel und Säugetiere – die endothermen Wirbeltiere
1.3 Sinnesleistungen
Chemische Signale
Licht und Sehvermögen
Schall und Hörvermögen
1.4 Mauser der Vögel
Funktionen des Federkleids
Gefiederfolgen
Mausertypen und -strategien
Geschwindigkeit der Mauser
Zeitpunkt der Mauser

Dieses kurze Kapitel stellt einige grundlegende Charakteristika von Vögeln und Säugetieren (auch: Säugern) vor, soweit sie später im weiteren ökologischen Zusammenhang Bedeutung haben. Wie viele Arten existieren weltweit? Was ist eine Art überhaupt? So einfach der Umgang mit Arten ist, so schwierig wird die Definition, wenn sie allumfassend sein soll. Deshalb existieren verschiedene Artkonzepte.

Auch ein Blick auf die Systematik der Vögel und Säugetiere lohnt sich: Säugetiere sind eine monophyletische Einheit, weil sie auf einen einzigen Vorfahren zurückgehen, während das «Gegenstück» dazu jene der Reptilien ist; die Vögel bilden eine Linie innerhalb der Reptilien. Sie unterscheiden sich aber von den übrigen Reptilien durch die Endothermie; dieses Merkmal haben sie mit den Säugetieren gemeinsam. Die Fähigkeit, eine konstante Körpertemperatur aufrechtzuerhalten, ist von großer ökologischer Bedeutung und hat zur Folge, dass die Lebensweisen von Vögeln und Säugetieren in vielen wichtigen Punkten vergleichbar sind. Deshalb kann ihre Ökologie gut in einem Buch gemeinsam besprochen werden.

In manchen Teilen ihrer morphologischen Ausstattungen unterscheiden sich Vögel und Säugetiere jedoch, sodass sich auch unterschiedliche ökologische Anpassungen entwickelt haben. Man muss sich zudem bewusst sein, dass viele Vögel und Säugetiere über Sinnesleistungen verfügen, die uns Menschen ohne technische Hilfsmittel verborgen bleiben. So können sie etwa die entsprechenden Signale in einem weiteren Frequenzbereich wahrnehmen (Schall und Licht), oder sie besitzen Rezeptoren für Signale, die uns weitgehend fehlen (zum Beispiel für elektrische Felder oder Erdmagnetismus). Oft lassen sich Eigenheiten der Verhaltensökologie nur verstehen, wenn diese Fähigkeiten bekannt sind.

Die äußere Isolationsschicht ist bei Vögeln (Federn) weit aufwendiger als bei Säugetieren (Haare) beschaffen. Deren jährliche Erneuerung – Mauser respektive Haarwechsel – greift deshalb bei Vögeln viel nachhaltiger als bei Säugetieren in den Jahreszyklus ein, denn die energetischen Kosten bedingen eine genaue zeitliche Einpassung zwischen Fortpflanzung und Zug, die beide ebenfalls kostenintensiv sind. Der letzte Teil dieses Kapitels ist daher der Mauser der Vögel gewidmet.

1.1 Diversität der Vögel und Säugetiere

Wenn wir zu Beginn unserer Beschäftigung mit der Ökologie der Vögel und Säugetiere zunächst wissen wollen, wie viele Vogel- und Säugetierarten es überhaupt gibt oder, korrekter ausgedrückt, wie viele wissenschaftlich beschrieben sind, so ist die Antwort einfach: Die Artenzahl der «höheren» Wirbeltiere ist im Gegensatz zu jener der Pflanzen und wirbellosen Tieren einigermaßen überschaubar. Gemäß der Zusammenstellung durch die Weltnaturschutzorganisation IUCN («The World Conservation Union»: International Union for Conservation of Nature and Natural Resources) sind es gegenwärtig gut 10 400 Vogelarten und 5 500 Säugetierarten. Die Zahlen für Reptilien (in der traditionellen Klassifikation; Kap. 1.2) und Amphibien liegen mit 10 400 respektive gut 7 500 Arten in derselben Größenordnung. Diesen stehen aber über 33 000 Fischarten, 1,3 Mio. Arten von Wirbellosen und über 310 000 Pflanzenarten gegenüber (http://www.iucnredlist.org/about/summary-statistics).

Auch die Zahl der jährlichen Neuentdeckungen von Vögeln und Säugetieren hält sich in Grenzen. Seit dem Jahr 2000 wurden jährlich 3–8 Vogelarten neu entdeckt sowie etwa 24 Säugerarten neu beschrieben (Reeder et al. 2007). Die letztere Zahl enthält auch taxonomische Revisionen – das heißt, die Zahl bekannter Arten steigt auch dadurch, dass bereits beschriebene Formen oder Unterarten neu in den Artrang erhoben werden. Der Anstieg der Zahl der Vogelarten in den vergangenen 30 Jahren von etwa 9 000 auf den heutigen Wert ist größtenteils auf solche Revisionen zurückzuführen. Diese gründen einerseits darauf, dass mit besseren Daten vermehrt relevante biologische Unterschiede zwischen vordergründig ähnlichen Taxa aufgedeckt werden («taxonomic progress»; Sangster 2009), andererseits aber auch darauf, dass unabhängig vom favorisierten Artkonzept (Box 1.1) vermehrte Bereitschaft herrscht, solche Unterschiede stärker zur Artabgrenzung zu gewichten (de Queiroz 2007).

Box 1.1 Artkonzepte

Wenn wir von einer Art (species) sprechen, wie das auch in diesem Buch auf praktisch jeder Seite mehrfach geschieht, machen wir uns in der Regel keine Gedanken zur Definition des Konzepts «Art». Gerade bei Vögeln und Säugetieren sind viele der Arten, mit denen wir im wissenschaftlichen oder im praktischen Tagesgeschäft zu tun haben, als biologische Einheit genügend stark von verwandten Formen abgegrenzt, sodass keine Schwierigkeiten bei deren Einordnung als eigene Art auftreten. Manchmal ist die Differenzierung zwischen verwandten Formen aber undeutlich. Dann stellt sich die Frage, welche Kriterien verwendet werden sollen und wie stark sie zu gewichten sind, um einer Form Artrang zuzugestehen oder sie allenfalls als Unterart (subspecies) einer anderen Art zu führen. Teilweise ist dieser Vorgang abhängig davon, welche Definition der Art man anwendet. Eine stringente Definition, die allen Resultaten evolutionärer Prozesse gerecht wird, gibt es nicht, und so sind im Lauf der Zeit über 20 verschiedene Artkonzepte entwickelt worden. Diese lassen sich in drei Gruppen einteilen (Kunz 2012):

1. Das morphologische (phenetische) Artkonzept beruht lediglich auf dem numerischen Vergleich gemeinsamer Merkmale; eine Art umfasst die Individuen mit größter Kovariation zwischen vorhandenen und fehlenden Merkmalen. Im Vergleich zu den folgenden beiden Konzeptgruppen stützt sich dieses Konzept nicht auf die biologischen Prozesse, die zur Artbildung beigetragen haben. Die Taxonomie fossiler Arten muss notgedrungen auf diesem Konzept basieren.

2. Das biologische Artkonzept (in erweiterter Form das Genfluss-Konzept) definiert eine Art als eine Gruppe natürlicher Populationen, die sich untereinander kreuzen können und von anderen Gruppen reproduktiv isoliert sind; die Isolationsmechanismen sind in der Biologie der Organismen (und nicht der Geografie) begründet. Das biologische Artkonzept wurde vom deutsch-amerikanischen Zoologen Ernst Mayr begründet (Mayr 1942, 1963) und ist in einer etwas weiter entwickelten Form, zumindest bei der Beschäftigung mit Wirbeltieren, das verbreitetste Konzept.

3. Das phylogenetische (kladistische) Artkonzept ist explizit evolutiv ausgerichtet: Eine Art besteht aus einer Gruppe von Organismen, die alle denselben gemeinsamen direkten Vorfahren besitzen.

Die phylogenetische Systematik ist bezüglich der Klassifizierung aller höheren Einheiten unangefochten; in ihr ist das Kladogramm (Abb. 1.1) die einzige Grundlage des Systems (Systematik) und der Klassifikation. Die Identifizierung der Verzweigungspunkte ist aber, wie Abbildung 1.1 zeigt, selbst bei höheren Einheiten nicht immer eindeutig möglich; bei der Artabgrenzung kann es dann schnell eine Frage des subjektiven Empfindens sein, wo die letzte Verzweigung angesetzt wird. Im Vergleich dazu ist das Kriterium des Genflusses des biologischen Artkonzepts wesentlich eindeutiger (Lee 2003). Deshalb funktioniert das biologische Artkonzept auf der lokalen Ebene recht gut, weil sympatrische (das heißt zusammen vorkommende) Arten in der Regel morphologisch und verhaltensbiologisch recht gut differenziert sind. Probleme ergeben sich hingegen bei der Betrachtung in größeren Räumen, wo geografische Variation zu spielen beginnt und sich graduell reproduktive Isolation zwischen allopatrischen (das heißt räumlich getrennten) Populationen einstellt. Wo also soll die Trennlinie gezogen werden, die zwei Arten definiert? Man hat deshalb am Beispiel der Vögel versucht, basierend auf einem biologischen Artkonzept, hierzu quantitative Kriterien festzulegen (Tobias et al. 2010). Das zunehmend akzeptierte System (del Hoyo & Collar 2014) beruht darauf, dass die Differenzierung zwischen sympatrischen Arten anhand verschiedener Merkmale quantifiziert wird, womit sich dann Schwellenwerte für die Artabgrenzung bei allopatrischen und parapatrischen (räumlich sich anschließenden) Formen kalibrieren lassen (Tobias et al. 2010).