Die Tote an der Rosenbank

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Kommissar Velmond hört es wispern

Das Gespräch mit Gunter Terborg hatte seine Neugier angestachelt. Velmond beschloss, irgendwann auch mal zur Rosenbank zu pilgern. Irgendwann, wenn die Jahreszeit ein wenig einladender wäre. Aber unverhofft kommt oft.

Die Kollegen aus Bozen erbaten dringend die Mithilfe von den Münchner Ermittlern in Kastelruth und vor Ort. Bei den Pathologen mehrten sich die Zweifel an der Selbsttötung. Zwar habe der Mageninhalt zweifellos eine Überdosis an Barbituraten ergeben, in Kombination mit Alkohol wohl auch zum Tode führend, aber es gab auch Kratzspuren am Hals und Hautreste unter den Fingernägeln, die man sich so nicht erklären könne. Keinesfalls handle es sich um Abschürfungen aufgrund von Stürzen. Zudem müsste dringend das Hotelzimmer von Frau Uhlen freigegeben werden. Also müsse jemand ihre Habseligkeiten abholen. Zudem müsse ja auch ihr PKW nach Deutschland rückgeführt werden.

So saßen alsbald der Kommissar und seine Assistentin Uta Möbius in Velmonds Peugeot und brausten in aller Herrgottsfrühe, noch vor Anbruch der Dämmerung, in Richtung Brennerpass und weiter über Sterzing und Brixen, wo man eine kurze Kaffeepause einlegte, nach Kastelruth. Velmond ließ die Möbius fahren. Er genoss die Zweisamkeit wie ein unverdientes Glück. Sie waren nun mal ein gutes Team, und jeder wusste, wie mit den Gefühlen und der Nähe des anderen umzugehen war - im Dienstverhältnis und mit guten 30 Jahren Altersunterschied.

Je südlicher sie kamen, um so freundlicher wurde das Wetter. Föhn hatte eingesetzt. Die späte Sonne ließ die Berghänge in allen Herbstfarben leuchten. Wenn es zeitlich ausginge, könnten sie vielleicht, vielleicht sogar gemeinsam zur Rosenbank aufsteigen, bevor die Kriminal-Assistentin dann allein mit dem Wagen von Frau Uhlen wieder zurück fahren müsste. Er - Velmond - brauchte sicher noch einen oder zwei Tage länger und mietete sich gleich im Hotel „Enzian“ ein.

Mit der Begründung, man müsse das Tageslicht ausnutzen, um geschwind zum Fundort der Toten aufzusteigen, warfen sich beide gleich in ihre Bergwander-Kluft, schnallten ihre Rucksäcke um und wollten starten, als die Hotelchefin einige Zweifel anmeldete, ob sie wohl so ohne Ortskenntnis den richtigen Weg finden würden. Zufällig meldete sich gerade die Kellnerin Josefine zu ihrem freien Tag ab, als sie vom Vorhaben der beiden Ermittler hörte.

„Wenn es Sie nicht stört, zeige ich Ihnen den Weg bis zu einer Stelle, wo Sie den Aufstieg nicht mehr verfehlen können!“

Na ja, mit zwei hübschen Frauen zu wandern, war ja auch nicht von der Hand zu weisen, dachte sich Velmond. Es bliebe ja noch genug Zeit für die Gemeinsamkeit mit der Uta.

Kaum hatten sie die letzten Häuser hinter sich gelassen, erwies es sich, dass die junge Kellnerin ihre Dienste nicht ohne Hintergedanken angeboten hatte.

„Wissen Sie, der Herr Terborg, der ist ja Stammgast bei uns. Immer allein. Er sucht die Einsamkeit, sagt er immer, weil er in seinem Beruf mit so vielen Menschen zusammen sein muss. ‚Und jeder Mensch ist ja’, so hatte er mir mal gesagt, ‚jeder Mensch ist ein Schicksal, wenn man sich so wie ich auf ihn einlässt!’ Und dann müsse er einfach mal diese Schicksale abschütteln. Das gehe am besten in der freien Natur! Aber seit der mit dieser Frau Uhlen bei uns aufgetaucht war, wirkte er wie verwandelt. Verändert - irgendwie. Wie Verliebte sind sie jedenfalls nicht miteinander umgegangen. Aber was dann geschah, das wissen Sie wahrscheinlich noch gar nicht. Kurz nach der Abreise war die Uhlen schon wieder da, und zwar in Begleitung einer Frau Pernice. Viel jünger und etwas schnippisch. Na ja, eigentlich darf ich sowas nicht ausplaudern. Aber die beiden hatten was miteinander. Und dann kamen immer mehr Damen, die offenbar alle irgendwie mit Herrn Terborg zu tun hatten. Wenn ich ihn nicht schon so oft bedient hätte, und da lernt man schon Menschen kennen, hätte ich gedacht, hoppla, hat der einen Weiber-Fanclub! Und alle wollten zu dieser ominösen Bank. Na ja, das ist schon schön da oben. Aber schöne Plätze haben wir hier überall!“

„Können Sie sich an Namen erinnern?“

„Ja, da kam eine Frau Springer, und dann eine ganz feine Dame, wahnsinnig gut gekleidet und sehr, sehr nett. Das war die Frau Schweizer, mit einem ganz tollen Vornamen: Damaris. Kriegt man natürlich im Restaurant normalerweise nicht mit. Aber unsere Chefin führt einzelne Gäste gern zu einem Tisch mit anderen, wenn sie es wünschen. Dann stellt sie die Gäste mit Namen vor.

Aber ich fand das schon ein bisschen übertrieben, dass die Frau Uhlen jetzt schon wieder da war. Und wieder zu dieser Bank da oben. Da hätte ich ihr schon noch andere Aussichtspunkte nennen wollen. Was sie bloß da oben gesucht hat? Besondere Steine? Sie hatte ja immer so einen Steinhammer bei sich. Wofür? Bergkristall gibt es hier nicht!“

So wichtig diese Informationen für Velmond und Möbius auch waren, sie waren froh, als die geschwätzige Josefine sie dann allein weiter wandern ließ. Sie müsse ja an ihrem freien Tag vieles erledigen. Und der ‚Einstieg zum Aufstieg’ sei nun nicht mehr zu verfehlen.

Ja, die letzten hundert Höhenmeter hatten es in sich. Velmond spürte, dass er nicht mehr der Jüngste war und leider ganz und gar aus der Übung. Aber er wollte gegenüber der Möbius keine Schwäche zeigen, die wie eine Gazelle über die steinigen Schwellen und Wurzeln hüpfte. Nun hatte auch die Herbstsonne ihre Kraft entfaltet. Sie kamen tüchtig ins Schwitzen, ehe endlich, endlich oben der Gebirgssattel in Sicht kam.

Ja, das war natürlich ein phantastischer Blick an diesem Föhntag! Nichts an der Schilderung Terborgs war übertrieben. Nein, es war alles noch viel, viel schöner, ergreifender. Als sie vor der Rosenbank standen, umarmten sich die beiden Wanderer aus vollem Herzen. Dann gönnten sie sich ein paar Minuten Rast – nicht ohne Zögern – sogar auf dem ausgewitterten Brett, ehe sie mit der Arbeit begannen.

Die Arbeit? Nun - zunächst das absolute Schweigen. Stille, Hören, bis alles ringsum zu wispern beginnt. Der Wind in den strohigen Gräsern, das Rauschen, das von der Felswand wie ein imaginärer seidiger Wasserfall auf sie herabrieselte. Unten im Tal das rhythmische Scheppern eines Eisenbahnzuges, der über eine Brücke fuhr. Das Bellen eines Hundes. Geröll, das ins Rutschen kam, weil vielleicht doch ein paar Gämsen oder Rehe irgendwo hinüber gewechselt waren. Die Schwingen von Dohlen, die sich bald um die Bank herum versammelten, in der Erwartung, dass ihnen Brocken zugeworfen würden. Schwirrend umflatterten sie die Meditierenden, sobald sie sich zu regen begannen.

Uta Möbius war aufgestanden und zur Felswand geschlichen. Sie schaute hinauf. Es gab dort einen kleinen Vorsprung, den man mit etwas Mühe erklimmen konnte. Zugedeckt mit einer Matte erfrorenen Grases. Und sie musste feststellen, dass sie nicht die Erste war, die von dieser höheren Warte den schönen Ausblick genoss. Leider - oder für die Kriminalistin eher förderlich? - waren dort einige Hinterlassenschaften verblieben, die Frau Möbius - man kann ja nie wissen - in kleine Plastiktütchen verschwinden ließ. Und, siehe da, etwas tiefer, aber sehr schwer zu erreichen, lag in einem Felsspalt eine Sekt- oder Champagnerflasche. Die war der Spurensicherung bisher entgangen.

Auch Velmond war inzwischen aufgestanden. Er kniete hinter der Bank; dort, wo die Tote gelegen haben musste und wo sich sogar noch einige vertrocknete Reste der Rose fanden, die der Wind bisher nicht verweht hatte.

„Wer bringt sich hier um?“ fragte er halblaut.

„Und schleppt deshalb zwei Flaschen Sekt oder Champagner mit nach oben?“ Uta Möbius hatte inzwischen in waghalsiger Kletterei die leere Heidsiek-Flasche geborgen und ebenfalls in einer großen Klarsichthülle versorgt.

Hatte hier ein Terborg-Gelage stattgefunden? Ein Terborg-Fanclub-Gelage?

E i n e Frau - wohl mitnichten; denn schon eine Flasche allein zu leeren .... na ja, es kommt natürlich darauf an, wie lange man sich Zeit lässt.

Velmond hatte stets einen starken Magneten dabei, den er gern über Gräser (oder auch Teppichböden) gleiten ließ - eine äußerst primitive Metallsuch-Methode. Aber einiges kam damit doch zutage, verlorene Geldstücke, Flaschenkapseln, Schlüssel. Hier hingen auf einmal zwei Haarspangen dran. Und zwei aufgebogene Kettenglieder von einer Halskette.

Schweigend suchten sie den ganzen Platz ab, holten mit Stöcken Papier- und Obstreste aus den Höhlungen unter Felstrümmern, die als Ersatz für Abfallkörbe herhalten mussten. Warum warf jemand ein paar Handschuhe weg? Kekspackungen, leere Plastikflaschen, Papiertaschentücher, Bonbonpapiere. Wertvoll für die Ermittlungen? Wer weiß?

Bald mussten sie schon wieder an den Abstieg denken, sich schweren, aber auch leichten Herzens von der Rosenbank trennen, die für sie auf alle Zeit mit einer Toten verbunden sein würde - ebenso wie für den Gunter Terborg, der wohl nie mehr hierhin aufsteigen würde.

Gemeinsam nahmen sich Velmond und Möbius dann noch das Einzelzimmer der Uhlen vor. Die Bozener Kollegen waren natürlich ebenfalls tätig gewesen. Sollte von denen nichts Verdächtiges beschlagnahmt worden war, dann sah hier nichts danach aus, als ob jemand zu seiner letzten Stunde aufgebrochen wäre. Dass es keinen Abschiedsbrief gegeben habe, das wussten die beiden Münchner ja schon. Diese Thalida war wohl definitiv nicht dabei; denn Josefine hätte es ja ausgeplaudert. Dann hätten die beiden sich in einem Doppelzimmer eingemietet. Viel gab es nicht zu finden. Einen Reiseführer „Dolomiten“ in der Nachttisch-Schublade - von einem „Nordlicht“, das die Weite des Marschlandes und des Meeres liebte.

Uta Möbius fand Haarspangen im sogenannten Kulturbeutel; von derselben Art, wie Velmond sie oben am Berg mit seinem Magneten eingesammelt hatte.

 

Alsbald mussten sie sich trennen. Uta Möbius steuerte den großen AUDI aus der Tiefgarage. Den gründlich zu durchsuchen müsste Aufgabe der Münchner Spuri sein. Immerhin hatte Velmond noch schnell Klebestreifen über die Polster gleiten lassen und jede Menge Haare eingefangen. Es könnte ja sein, dass Corinna Uhlen ihre Mörderin schon mitgebracht hatte. Aber wen? Thalida? Iris? Luisa? Terborg am Ende? Velmond wollte das alles noch nicht zuende denken. Wie sieht ein Kofferraum aus, wenn man irgendwo hinfährt, um sich umzubringen? Sicher enthält er nicht vier Packungen mit je 6 Flaschen Magdalener! Dorthin - sagte sich Velmond - müsste er morgen auch noch zwecks Spurensicherung hinfahren und einen kleinen Vorrat dieses kernigen Rotweins mit nach Hause nehmen.

Aufregendes gibt es nicht mehr zu berichten. Der Besuch bei den Bozener Kollegen verlief freundlich, kompetent, emotionslos, was Velmond von sich nie behaupten konnte. Ob mit dem Opfer oder mit dem Täter - stets versuchte er, sich in sie „hineinzuleben“. Er bat die Bozener, die Meldezettel auch aus den anderen Hotels und Pensionen in Kastelruth und Seis am Schlern der letzten 14 Tage auf Gäste aus Deutschland hin auszuwerten und ihm nach Möglichkeit eine Liste zu schicken.

Mit 12 Flaschen Magdalener und 12 Flaschen Terlaner trat Velmond am nächsten Tag die Heimfahrt an. Als er noch einmal von einer der Serpentinen seinen Blick dorthin lenkte, wo er die Rosenbank vermutete, da haute er aufs Steuerrad und fluchte „Sapperment! Dass wir darauf nicht gekommen sind! Die Uhlen hätte ja da oben mit jemandem zusammengetroffen sein können, der von der anderen Seite auf- und wieder abgestiegen war. Zu spät gewispert!“

In München angekommen, konnte ihm Uta Möbius mit einer wichtigen Entdeckung vor den Augen herum wedeln.

„Schauen Sie mal, was ich gefunden und natürlich auch angehört habe! Diese CD hatte die Uhlen in ihrem Autoradio. Und wer ist drauf: Terborg! Terborg und seine virtuelle Wanderung zu seinem Lieblingsplatz.

W a a h n sinn - diese Stimme, diese Stimmung, diese Musik, das Adagio von Barber. Beinahe wäre ich auf einen liegengebliebenen LKW aufgefahren, so hat der mich in Alpha gelullt. Mann, so ähnlich muss der Rattenfänger von Hameln auf die Ratten gewirkt haben wie der Terborg auf die Weiber - und auf mich! Ich geb’s ja zu.“

In der Mittagspause legten sie die CD in einen Recorder.

Leise, pianissimo beginnt das „Adagio for Strings“ op. 11 von Samuel Barber. In diese sanfte, allmählich anschwellende, von Streichern getragene Melodie fügt sich die Stimme von Gunter Terborg ein. Nein, er nennt sich nicht beim Namen.

Immer, wenn ich diese Musik höre, dann entsteht für mich eine Fülle von beglückenden Bildern. Eine Landschaft öffnet sich von unglaublicher Harmonie und Schönheit. Ich gehe einen Weg. Ich gehe meinen Weg, den Weg meines Lebens. Ein sanfter Wind weht und fächert mir den erfrischenden Duft von Wiesenblumen zu. Rechts und links von mir öffnen sich Weiden bis zu den bewaldeten Hängen. Über mir spielen übermütige Schwalben. Sie steigen hinauf in die Bläue des Himmels, um sinnentaumelnd, zwitschernd wieder hinab zu tauchen, fast bis in die Kronen der mit weißen Blüten üppig geschmückten Obstbäume, die meinen Weg begleiten. Hörst du das Summen der Bienen? Siehst du die gelben und bunten Falter, die sich dem Spiel des Windes hingeben? Links drüben, ja, jetzt erst vernehme ich es, in dieser wunderbaren Melodie dieses Tages - das Glucksen, das Rauschen, das Murmeln des Baches, der mich ein Stück weit begleiten wird.

Schweigen. Und nur die auf und abschwellende Musik von Barber.

Ich höre meine Schritte. Irgendwo weiden Kühe. Hörst du die emsigen Glocken? Jetzt, ja, ganz deutlich - ein Kuckuck. Leicht steigt mein Weg bergan. Ein Gatter öffnet sich mit rostigem Quietschen. Die Bäume rücken jetzt näher heran. Kleine Bächlein queren den Weg. Schwerer wird der Duft üppiger Kräuter. Ich verhalte. Will nichts an mir vorüberstreichen lassen, keinen Laut, keinen summenden Käfer, kein Rascheln der Schlange, die meinen Weg kreuzt. Alles formt und fügt sich zu dieser wunderbaren Melodie. Hörst du sie auch?

Schweigen. Und wieder anschwellend das Adagio.

Ich erreiche den Wald. Sonnenstrahlen brechen durch die schwarzen Fächer der Fichten wie durch die hohen Fenster einer Kathedrale. Meine Schritte werden leiser. Ich schreite auf einem Teppich von Moos und Fichtennadeln.

Jetzt geht es steiler bergan. Schmal und schmäler wird der Pfad. Ich lasse die hohen Bäume zurück. Jetzt heißt es, Schritt vor Schritt zu setzen. Mühsamer geht es, über Stock und Stein. Noch ist das Ziel nicht in Sicht. Nur die graue Felswand, die heute im Glanz der Sonne viel freundlicher auf mich wirkt. Schweiß bildet sich auf meiner Stirn. Ich verhalte, folge mit meinen Augen dem majestätischen Flug eines Bussards.

Barber’s Adagio

Jetzt ist es bald geschafft. Es sind nur noch ein paar Serpentinen. Der Weg windet sich wie in kleinen Schluchten. Links und rechts die Pracht der Alpenrosen. Kleine Krüppelkiefern dazwischen. Das ersehnte Ziel im Blick scheint meine Schritte zu beflügeln. Ich eile voller Ungeduld. Nun, nun endlich bin ich oben! Ich bin oben! Der Blick weitet sich über Bergspitzen und ein weites, tiefes Tal. Eine Harmonie von Gottes Schöpfung, saftige grüne Matten bei den Almhütten, in der Ferne das gleißende Weiß der Gletscher, die Bläue des Himmels, das schwirrende Gekrächze der Dohlen, die mich umflattern, der harzige Duft aus den dichten, vor dem Wind geduckten Fichten rechts neben mir, eng zusammengeschart, sich gegenseitig Schutz gewährend. Links der Berg felsig ansteigend. Hinter mir die Pracht des in sonnigem Ocker grüßenden Sella-Massivs.

Und nun lädt zur Rast diese kleine, aus rohem Holz zusammengenagelte Bank, unter der eine Brennesselstaude Schutz gesucht hat. Sie - oder ich! Mit meinem Stock muss ich einige Stengel köpfen. Ich finde zur Ruhe. Die Geschwätzigkeit der ersten Eindrücke weicht der Be-Sinnung. Keine Hast. Nichts läuft dir davon. Du kannst bleiben. Rasten. Mit allen Sinnen diese Harmonie in dich aufnehmen. Nichts Grandioses fordert dir etwas ab. Eher Bescheidenes. Kleine Blüten, bunte Gräser, das Muhen der Kühe. Irgendwo bellt ein Hund. Ein majestätisch dahinziehener Raubvogel wehrt die übermütigen Angriffe der Dohlen ab. Von der Felswand tropft ein kleines Rinnsal.

Der Wegweiser. Vier verwitterte, nur noch schwach lesbare Holzpfeile, einer hinabweisend ins Etschtal, einer hinaufzeigend in den Fels für die kühnen, unermüdlichen Bergsteiger, einer nach rechts auf einen Höhenweg, und dann jener dort hinab, von wo ich aufgestiegen war. Der Rückweg aber hatte Zeit! Jegliche Zeit!

Jetzt beginne ich zu malen. Nein, nicht mit Pinsel, Tusche und Papier. Nur mit den Augen. Jetzt erst geben sich die Farben zu erkennen; denn die Gräser sind nicht grün, die Steine nicht grau oder schwarz, der Weg schimmert wie Seide. Ich kann es nicht mehr beschreiben. Es gibt keine Wörter dafür - vielleicht nur diese Musik. Oder eine andere. Ganz andere. Vielleicht ist sie noch gar nicht komponiert. Oder sie klingt wie der heute nicht immer so sanfte Wind, der aus dem Tal heraufweht und tausend kleine Harfen zugleich zum Klingen bringt.

Ich bin!“

Mit diesem Ruf endete die Aufnahme. Uta Möbius und Lothar Velmond - selbst in dieser bürokratischen, martialischen Welt waren sie von dieser ebenso virtuellen wie virtuosen Wanderung ergriffen.

Uta Möbius traute sich kaum, diese Verzauberung aufzulösen.

„Ja, so war es. Zugegeben, auch ich kann jetzt jederzeit, wenn mir danach zumute ist, wieder dorthin zur Rosenbank wandern. Einfach wunderbar! - Und wer noch?“

„Jede Teilnehmerin seiner Sommer-Akademie, der er diese CD geschickt hat! Ich fürchte, wir müssen sie alle einvernehmen: die Frau Pernice, die der Frau Uhlen offenbar sehr nahe gestanden hat, diese Schweizerin .... wie hieß die noch?“

„Die hieß Schweizer mit Nachnamen, wenn sich die Kellnerin richtig erinnert hat. Damaris mit Vornamen. Dann gab es noch eine Frau Springer, Iris, und eine Louise oder Luisa de Valmont. Wer weiß, vielleicht sind Sie ja auch ein ‚von’ Velmond, ein Graf, mit einer verwunschenen Burg in den Cordilleren.“

„Wir werden uns die Arbeit teilen müssen. Kollege Elsterhorst fährt doch gern nach Norden. Er muss ja diesmal nicht auf ein Schiff und wird nicht in die Fänge der Mafia geraten. Kann sogar bis Köln mit dem ICE durch die Landschaft flitzen. Vielleicht hält der ja auch in Wesel. Dann einen Leihwagen nehmen bis zu dem Nest am Niederrhein, wo diese Thalida Pernice wohnt. Und Frau Uhlen gewohnt hat. Thalida - auch kein alltäglicher Name!

Dann wäre es mir sehr lieb, wenn er sich auch dieser Luisa annehmen würde. Irgendwie bin ich da namensmäßig zu nah dran. Dann kann er ihr ungeniert erzählen, was ich für verrückter Typ bin und dass es wirklich keine Zierde ist, mit mir verwandt zu sein, und sei es über einen Burgherren in Kalabrien. Verraten Sie ihm aber nicht, wie oft er umsteigen muss, um dieses Eifeldörfchen zu erreichen.“

„Vielleicht labt er sich an Gerolsteiner Sprudel! Der kommt ja da in der Nähe aus der Erde!“

„Ich werde diese schmucke Damaris aufsuchen: Die wohnt in Ihringen am Kaiserstuhl, da gibt’s einen herrlichen Silvaner! Leider gibt es von da keinen PKW rückzuführen, Möbius!“

„Da wäre noch die Iris Springer! Die gehörte offenbar auch zu der Clique vom Frauenversteher Terborg! In Heidelberg! - Elsterhorst wird Sie beneiden und diese Ihre Dienstreisen für absolut überflüssig halten. Er tippt sowieso auf stilvollen Selbstmord. Da hätten wir die wenigste Arbeit mit!“

Luisa de Valmont

Maurice Elsterhorst stand auf dem winzigen Balkon seines Zimmers im II. Stock der Gerolsteiner Pension, in die es ihn verschlagen hatte.

Es war morgens. Ein leichter Nieselregen verhüllte die Aussicht wie mit einer Tüllgardine. Oberhalb der tief liegenden Wolken schien das, was sie hier als Berge bezeichneten, dahin zu treiben wie verlassene graue Schiffe. Er konnte bis zum Bahnhof sehen, zur Brücke, über die er am Vorabend sein Gepäck geschleppt hatte, und zu der Straße, die er überquert hatte, um dahin zu gelangen, wo er jetzt war.

Nein, hatte es geheißen, das Hotel sei leider belegt, aber er könne ein Pensionszimmer haben. Was sollte er anders machen?

Die Fahrt von München hierher hatte fast sieben Stunden gedauert, unnötig lang. Warum musste man erst nach Norden, um dann wieder nach Süden zu fahren? Warum musste ausgerechnet er, Kommissar Maurice Elsterhorst, in der Eifel recherchieren, während Kollege Velmond sich mit seiner hübschen Sekretärin im sonnigen Süden herumtrieb?

Elsterhorst hatte seit langem die Gewohnheit, ungeliebte Orte nur mit den Anfangsbuchstaben in seinem Notizbuch zu vermerken. Vielleicht wollte er damit seine Missachtung ausdrücken, oder er hoffte, dass sich die Erinnerung daran umso schneller verflüchtigen würde.

„Ankunft G. (Eifel) gegen 17:00 Uhr“ lautete der Eintrag.

Nicht immer war dieses Bemühen von Erfolg gekrönt. Schließlich konnte er seinen Hund nicht einfach R. rufen, um Erinnerungen zu löschen, die er gar zu gern löschen würde. Um nichts in der Welt würde der schwarze Labrador, der sich neben ihn auf den Balkon gezwängt hatte, auf einen anderen Namen hören als auf „Rinaldo“, obwohl er, Elsterhorst, in der Londoner Rinaldo Road einige der schlimmsten Erfahrungen seines Berufslebens hatte machen müssen.

Nachdem er sich eingerichtet und Rinaldo mit dem mitgebrachten Hundefutter versorgt hatte, war es zu spät gewesen, um noch nach dem Haus jener Frau zu suchen, die er im Fall Corinna Uhlen befragen sollte. Eine Telefonnummer hatte die Luisa auf der Anwesenheitsliste der Sommer-Akademie nicht angegeben, die sie zusammen mit Corinna Uhlen und einigen anderen besucht hatte.

Nun also ein neuer Tag - in dieser ihm unheimlich fremden Gegend. Also machte er sich auf die Suche nach dem Raum, in dem es das Frühstücksbuffet geben sollte. Nur wenige Tische waren besetzt – jeder mit nur einem Mann. Alle lasen sie „Die Trierische Volkszeitung“ und blickten kaum auf, als Elsterhorst sich dem Buffet näherte. Unbemerkt konnte er große Mengen an Wurst und Schinken auf seinen Teller häufen, so dass Rinaldo, der im Zimmer bleiben musste, mit einem guten Frühstück rechnen konnte. Im Hinausgehen traf er das Mädchen, das das gebrauchte Kaffeegeschirr abräumte.

 

„Burgstraße 34, wo ist denn das?“

Draußen auf der nassen Straße folgte er ihren Anweisungen. Ein Stück geradeaus, eine Treppe hinauf, an der Kirche vorbei, dann den Berg hoch und rechts in die Seitenstraße.

Die Treppe schien ihm endlos. Die Kirche war genau so grau wie die Schieferdächer, die nun unter ihm lagen. Der Berg war steil und die Seitenstraße wohl eher ein Weg. Nummer 34 war das zweite von einigen Reihenhäusern.

Mehrere Stufen führten zu der Haustür. Weder Namensschild noch Klingel waren zu finden. Am Nachbarhaus bewegten sich die Gardinen. Dann erschien eine Frau in altmodischer Kittelschürze und Pantoffeln.

„Wo wollen Sie denn hin?“

„Zu Frau Luisa de Valmont. Ich habe diese Adresse bekommen.“

„Kennen Sie die?“

Die Frage drückte ein solches Erstaunen aus, dass Elsterhorst sofort hellhörig wurde. Und vorsichtig.

„Ich habe etwas auszurichten.“

„Die ist ausgezogen.“

Schon kamen auch andere Frauen aus ihren Häusern. Elsterhorst konnte auf gute Erfahrungen mit geschwätzigen Nachbarinnen zurückblicken. Schon einmal war es ihm gelungen, durch deren Gerede den Geheimnissen einer in München verschwundenen Witwe auf die Spur zu kommen.

„Der sucht die ´spanische Gräfin`, die Valmont!“

„Die ist weg, Gott sei Dank!“

„Seit wann?“

„Genau weiß ich das auch nicht. Kann so vor 14 Tagen gewesen sein. Mit Möbelwagen, ihrem ganzen Krimskrams, Gedöns, Katze und allem!“

„Vor 14 Tagen genau“, mischte sich eine andere ein. „Da kam dieser Einschreibebrief, den der Jupp – das ist unser Briefträger – mir nicht geben wollte. Als ob mich das interessieren würde, was die für Post kriegt.“

„Ja, natürlich, am nächsten Tag kam er wieder. Vormittags. Da war sie noch da. Am Abend stand schon ein Lastwagen da und hat alles mitgenommen. Viel war es ja nicht.“

„Wissen Sie, wo sie hin gezogen ist?“

„Na ja, gesagt hat sie nichts, verabschiedet hat sie sich auch nicht. Musste sie auch nicht als feine Gräfin. Aber mein Mann, der hat den Fahrer gekannt. Nach S.“

Aus Datenschutzgründen und selbst in der Erinnerung kürzte Elsterhorst den Namen dieses Ortes ab.

„Da hätte sie noch ein Haus. Und niemand wusste davon. Wollen Sie dieses verlassene Haus jetzt vielleicht mieten? Ich kann Sie hereinlassen. Wir haben den Schlüssel vom Makler.“

Das Haus war leerer als leer. Sogar die Tapeten waren heruntergerissen.

„Die hätten sie sehen sollen! Lauter Tiere und Blumen und Buchstaben, die auf dem Kopf stehen.“

„Haben sie Frau de Valmont öfter besucht?“

„Besucht? Ich habe sie überhaupt nie besucht. Aber einmal, als sie nicht da war, dachte ich, es riecht so komisch, als ob es brennen würde. Da haben mein Mann und ich mal nachgesehen!“

Das Haus war so leer, als sei es niemals bewohnt gewesen, abgesehen vielleicht von ein paar wenigen hellen Stellen im Fußboden, wo einmal ein paar Möbel gestanden hatten. Rinaldo bekam einen Niesanfall und auch Elsterhorst hielt einen Moment die Luft an. Die Luft war merklich erfüllt von einem sehr starken Duft. Weihrauch? Moschus? Nein, es war Rosenduft. Wahrscheinlich hatten Räucherstäbchen oder Duftkerzen hier gebrannt, die diesen Geruch verströmten.

Es gab keine Schubladen aufzuziehen, keine Schranktüren zu öffnen.

Er betrat den größten der Räume, aber auch der wirkte ziemlich klein. Das Fenster bot einen Blick auf die grauen Felsen auf der anderen Seite des Tals. Dann erblickte in einer Ecke eine Vase, in der sich eine verwelkte, ehemals wohl dunkelrote Rose befand. Von ihr ging kein Duft mehr aus. Einige Blätter waren schon abgefallen.

Vorsichtig schob Elsterhorst die Vase zur Seite, neigte sie, um zu sehen, ob sie irgendetwas anderes als abgestandenes Wasser enthielt. Unter der Vase lag eine Tarotkarte, die Königin der Schwerter. In der linken Hand hält sie das Schwert, in der rechten einen abgeschlagenen Kopf. Sollte die „Gräfin“ hier einen Salon für illegales Glücksspiel betrieben haben?

Da es nichts weiter zu sehen gab, verließ er das Haus, schloss ab und steckte die Spielkarte in seine Tasche.

Draußen wartete seine Informantin, der den Schlüssel zurück gab.

„Gefällt es Ihnen?“

„Sagen Sie mal, wurde dort Karten gespielt oder so etwas?“

„Gespielt ist gut. Die hat die Karten gelegt. Verstehen Sie, was ich meine? Da kamen immer wieder Leute, die wohl an so etwas glauben. 100 Euro hat sie verlangt für das bisschen auf die Bildchen gucken.“

„Woher wissen Sie das so genau?“

„Ach, woher schon? So etwas spricht sich doch herum. Einmal soll sie es sogar am Heiligen Abend gemacht haben. Niemand hätte sich gewundert, wenn da plötzlich ein großer schwarzer Hund ums Haus gelaufen wäre, wie es die Bauern erzählen.“

Sie warf einen misstrauischen Blick auf Rinaldo, der blasiert an ihr vorbei sah.

„Rinaldo ist kein Höllenhund“, betonte Elsterhorst im Weggehen.

„Rinaldo?“ fragte die Frau. „Was für ein Name!“

Und darin gab ihr Elsterhorst sogar Recht.

Diesmal hatte Elsterhorst Glück. Als er sich am Bahnhof erkundigte, wie man denn nach S. komme, sagte man ihm, dass in zehn Minuten ein Bus fahre. Um 11:30 Uhr also. Der stand auch schon da, Dieselgestank verbreitend. Nicht viele Leute schienen dorthin zu wollen.

Irgendwann kam eine Abzweigung.

„Hier müssen Sie raus“, erklärte der Fahrer. „Endstation!“

Elsterhorst stand auf der Straße, der Bus wendete, und weit und breit war kein Mensch zu sehen.

„Was nun?“ wandte er sich an Rinaldo.

Der wusste Rat. Er lief einen Abhang hinunter. Unten lag das Maar, wie ein blaues Auge, in dem sich jetzt sogar ein paar Sonnenstrahlen spiegelten. Auch Häuser waren zu sehen.

S. ist ein hübscher Ort, wenn man nicht gerade dienstlich da ist. Es gab sogar ein Landgasthaus. Das hat Elsterhorst überrascht. Mit einem Speisesaal wie in einer Stadt. Er bevorzugte die „Schenke.“

Das Essen war gut. Rinaldo bekam ungefragt eine Schale Wasser und teilte sich mit Elsterhorst das Fleischgericht.

Der schaute sich um und sah einen Tisch, der wohl ausschließlich mit Einheimischen besetzt war.

„Kennen Sie eine Frau de Valmont?“

„De was?“

„De Valmont. Spanierin so viel ich weiß. Sie soll hier ein Haus haben und vor kurzem dort eingezogen sein.“

Sie berieten sich in einem für Elsterhorst unverständlichen Dialekt.

„Der meint die Verrückte, die jetzt im Römerhaus wohnt.“

„Ja“, sagte schließlich einer. „Die ist vor 14 Tagen ganz hierher gezogen. Das Haus ist eine gute halbe Stunde zu Fuß von hier entfernt. Es steht am Waldrand. Im Keller soll es noch Knochen von Römern geben. Hier!“

Er zeichnete eine Skizze und gab sie Elsterhorst.

„Aber die ist nur am Abend da. Tagsüber rennt die im Wald herum, um Wurzeln auszugraben. Wie früher die Hexen!“

Alle lachten.

Elsterhorst bedankte sich und überlegte, wie er die Zeit bis zu Abend verbringen könnte. Die Stunden schlichen dahin, während er sich im Ort herumtrieb, ein Heimatmuseum besichtigte, Kaffee trank und langweilige Spaziergänge machte.

Als es endlich dämmerte, stand er vor dem beschriebenen Haus. Es hatte nichts Unheimliches an sich. Der Garten war zwar ungepflegt, aber im nächsten Jahr würden üppige Rosensträucher erblühen. Wieder gab es kein Namensschild. Anstelle einer Klingel konnte man einen Klopfer betätigen. Die Tür hatte nur eine Klinke und kein Schloss.

Auf sein Klopfen hin wurde sie sofort geöffnet.

Vor ihm stand eine Frau, die eher nach Woodstock gepasst hätte als in die Eifel. Sie war fast so groß wie er, trug einen langen geblümten Rock und eine rote Tunika. Sie war barfuss. Das lange schwarze Haar hing ihr bis zu den Hüften. Ihre Augen waren so grün, dass Elsterhorst vermutete, dass es sich dabei um gefärbte Kontaktlinsen handeln müsste.

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