Alexander von Humboldts Messtechnik

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Alexander von Humboldts Messtechnik
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Werner Richter / Manfred Engshuber

Alexander von Humboldts Messtechnik

Instrumente – Methoden – Ergebnisse

Alexander von Humboldts

Messtechnik

Instrumente

Methoden

Ergebnisse

Prof. Dr.-Ing. habil. Werner Richter

Prof. Dr.-Ing. Manfred Engshuber

epubli

Impressum

Copyright: © 2014 Werner Richter

Herstellung und Verlag: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN 978-3-8442-9056-1

Humboldts wissenschaftliche Leistungen

waren in erster Linie die Leistungen

eines Entdeckers mit dem Messinstrument.

Peter Honigmann

Bildleiste auf der Vorderseite unten: Gravur auf dem Sextant von Jesse Ramsden, den Alexander von Humboldt auf seinen Reisen in Amerika und Asien benutzt hat. Dieser Sextant wird in Straßburg aufbewahrt(Ville de Strasbourg, Conservation des Musées, Château de Rohan). Die Inschrift lautet:

Al. v. Humboldt, Amer. u. Sib. 1799-1804 und 1829.

(Quelle: bearbeitetes Detail einer Abbildung aus [3, S. 194])

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1. Einführung

1.1. Wissenschaft und Technik um 1800

1.2. Instrumente und Methoden

1.3. Maßsysteme

2. Zeitmessungen

3. Temperaturmessungen

4. Ortsbestimmungen und Navigation

4.1 Problemkreis

4.2. Trigonometrische Ortsbestimmung

4.3. Barometrische Höhenmessung

4.4. Navigation

5. Messungen von elektrischen und magnetischen Größen

5.1 Elektrizität

5.2 Magnetismus

6. Analytische Untersuchungen

6.1. Problemkreis

6.2. Eudiometrie

6.3. Bestimmung der Luftgüte mit dem Volta’schen Eudiometer

6.4. Kohlenstoffdioxidgehalt der Luft

6.5. Luftfeuchte und Regen

6.6. Transparenz der Luft und Himmelsbläue

6.7. Gewässer-Untersuchungen im Tal von Mexiko

Schrifttum

Namensregister

Sachwortregister

Anhang: Bilder und Tabellen

Die Autoren

Vorwort

Fachgespräche mit Kollegen der Ingenieurwissenschaften und der Technikgeschichte über das Werk des großen Naturforschers Alexander von Humboldt führten bald auf die Frage, ob und in welchem Umfang Humboldts Forschungen auch Wechselwirkungen mit der materiellen Produktion im Verlauf der Industriellen Revolution ausgelöst haben könnten. Weitgehende Übereinstimmung herrschte darüber, dass Humboldts Hauptanliegen einer Erforschung der Natur in ihrem Gesamtzusammenhang galt. Seine Beziehungen zur Technik waren jedoch vorwiegend die eines Nutzers. Neue Techniken und Technologien zu entwickeln stand nicht im Fokus seiner Interessen, wohl aber gab er an Instrumentenbauer seiner Zeit Ratschläge zur Verbesserung ihrer Instrumente. Deren Entwicklungsstand war seinerseits abhängig von den bis dahin gesammelten naturwissenschaftlichen Kenntnissen und Erkenntnissen und unterlag ebenso den jeweils aktuellen Hypothesen noch unbekannter Zusammenhänge. Das kommt besonders in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Ausdruck: Gerade dieser Zeitraum ist – neben den gesellschaftlichen Umwälzungen – geprägt von großen Fortschritten in allen Zweigen der Naturwissenschaften, im ingenieurwissenschaftlichen wie im fertigungstechnischen Bereich.

Damit ist auch das Umfeld vorgegeben und es sind die seinerzeitigen Grenzen umrissen, innerhalb derer Humboldt und seine Zeitgenossen ihre höchst arbeitsintensiven, risikoreichen und durch aufwändige Messungen gestützten Erkundungen und Beschreibungen ausführen und interpretieren konnten.

Bei unseren Recherchen in Richtung eines Einwirkens von Alexander von Humboldt auf den technischen Fortschritt und vielleicht auf noch hypothetische Zusammenhänge mit anderen Disziplinen fiel auf, dass bei den Schilderungen des Gebrauchs der verwendeten Instrumente und bei der Angabe von gewonnen Messdaten zwar oft die Termini „sehr genau“ oder „besser als“ auftauchen. Konkretere Aussagen im Sinne einer heute selbstverständlichen Angabe von relativen Unsicherheiten sind selten und dann oft nur verbaler Art. Interessant wäre sicher auch die mathematische Aufarbeitung der von Humboldt aufgezeichneten und oft erst später ausgewerteten Messdaten. Diese stehen ihrerseits oft in engem Zusammenhang mit den astronomischen und geografischen Berechnungen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Darauf einzugehen würde unseren Wirkungskreis überschreiten.

Wir beschränken uns deshalb vorwiegend auf Aussagen über die von Humboldt auf seinen Reisen benutzten Instrumente und Methoden zur Erfassung der vielen Orts- und Klimadaten und deren messtechnischen Eigenschaften. Gerätebeschreibungen in früheren Publikationen (incl. der in den Humboldt’schen Aufzeichnungen) sollen dabei weder kopiert noch variiert werden, sondern es wird eine Abschätzung der Gütemerkmale aus heutiger ingenieurwissenschaftlicher Sicht versucht. Im Vordergrund stehen dabei die von Humboldt genutzten Methoden und Techniken, mit denen er gesicherte Messergebnisse erreichen wollte und auch erzielte, diese kritisch bewertete und mit anderen Angaben verglich.

Eine solche Betrachtung erfordert allerdings auch Rückgriffe auf den in den 17./18./19. Jahrhunderten existierenden Kenntnisstand in den Naturwissenschaften, deren Teildisziplinen und über die verfügbare Technik. Dabei notwendig erscheinende Reflexionen auf manche Unsicherheiten und Fehldeutungen von Gelehrten der damaligen Zeit sind vielleicht sogar geeignet, die Bewertung der Gesamtleistung Humboldts um einige Nuancen zu erweitern – wohlgemerkt aus unserer ingenieurtechnisch geprägter Sicht, und ohne Bezüge auf die vielen botanischen, zoologischen, ethnographischen oder soziologischen Aspekte in seinen Arbeiten.

Für Natur- und Technikwissenschaftler wird manche Rückschau vielfach Bekanntes wiederholen. Wir wollen damit aber auch Lesern anderer Disziplinen das schon damals breite Wissensspektrum erläutern, mit dem sich Humboldt befassen musste, um seine großen Vorhaben in Angriff nehmen und ausführen zu können.

Ergiebige Quellen für unsere Betrachtungen waren – neben der Fülle an Literatur von und über Alexander von Humboldt – speziell seine Reisetagebücher, die Frau Dr. Margot Faak systematisch erschlossen hat [1], sowie zwei neuere Bücher von F. Brandt [2] und M. Schöppner [5]. Für diese für uns äußerst wertvollen Vorarbeiten gebührt den Autoren und Herausgebern unser herzlicher Dank.

Ebenso danken wir ausdrücklich Herrn Dr. Ingo Schwarz von der Alexander-von-Humboldt-Forschungsstelle der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften Berlin, und Frau Univ.-Prof. (i.R.) Dr. Dr. Dagmar Hülsenberg, Ilmenau für die fördernde Begleitung, ohne die eine solche von uns beabsichtigte Arbeit nicht zu bewältigen gewesen wäre. Gleichermaßen danken wir Herrn Prof. Dr. Andreas Hebestreit, Leipzig, Frau Dr. Anke Richter, Rossendorf und Herrn Freiherr Georg von Humboldt, Bammenthal für wertvolle helfende Hinweise.

Döbeln und Ilmenau, im März 2014

Werner Richter, Manfred Engshuber

1. Einführung
1.1. Wissenschaft und Technik um 1800

Der Zeitraum ab Mitte des achtzehnten Jahrhunderts bis weit in das neunzehnte Jahrhundert hinein war geprägt von Veränderungen in der Gesellschaft, deren Abfolge und Wirkungsbreite im wahren Wortsinne nachhaltig gewesen ist. Solche Veränderungen werden berechtigt als Revolutionen bezeichnet, seien es die Französische Revolution, die bürgerlichen Revolutionen in anderen Ländern oder die Industrielle Revolution. Derart große gesellschaftliche Umwälzungen blieben verständlicherweise nicht ohne Auswirkungen auf Wissenschaft und Technik. So befand sich die Produktion materieller Güter ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ebenfalls in einer revolutionären Umbruchphase. Der Übergang von der überwiegend manuellen Fertigung in Manufakturen, die in Handarbeit Luxus- und Konsumgüter (Gobelins, Porzellan, Glaswaren, Nähnadeln, Lederwaren, Waffen) herstellten, hin zur maschinengestützten Serienproduktion ist ein wesentliches Kennzeichen der Industriellen Revolution. Weitere und nicht weniger bedeutende Aspekte sind neben der Umwälzung der sozialen Verhältnisse die radikalen Veränderungen der Arbeitsbedingungen und der Arbeitsumgebungen in bis dahin nicht bekanntem Umfang.

 

Mechanische Energie aus dem Betrieb von Wasser- und Windmühlen wurde zwar genutzt, war aber standortgebunden, und die Dauerleistung von Menschen und Tieren als mobil einsetzbare animalische Energielieferanten hatte enge Grenzen. Langzeitig kann der Mensch mechanisch nur etwa 100 Watt leisten1. In den englischen Kohlegruben z. B. dienten unter Tage Pferde als Zugtiere zum Kohletransport. Pferde können etwa die fünffache Menge an Arbeit des Menschen verrichten, benötigen dazu aber auch etwa die fünffache Menge an Nahrungsenergie2. Bei steigender Kohleförderung wäre also bald die gesamte verfügbare landwirtschaftliche Nutzfläche nötig gewesen, nur um die eingesetzten Zugtiere ernähren und damit die Kohleförderung steigern zu können. Die Umwandlung eines vorhandenen fossilen Energieträgers (Steinkohle und auch Holz) in mechanische Energie war also eine Art Zwangsbedingung für eine quantitative und qualitative materielle Entwicklung. Erst die Verbrennung von Kohle zur Dampferzeugung und deren Umsetzung in mechanische Arbeit mit Hilfe der Dampfmaschine ermöglichte eine maschinelle Großproduktion3. Zusätzlich begünstigt wurde das durch Transportmöglichkeiten größerer Massen auf dem Wasserweg, was eine rein ortsgebundene Nutzung von Energie weitgehend ersetzen konnte.

Diese durch eine neu erschlossene Energiequelle provozierten Wandlungsprozesse fanden schnell ihren Niederschlag in den Naturwissenschaften, in der Philosophie und in der Ökonomie. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden mit der industriellen Entwicklung neue Erkenntnisfelder, neue Theorien und neue Berufsgruppen. Eine großtechnisch betriebene Energieumwandlung erforderte Fachkenntnisse über thermische Umwandlungsprozesse und eine verlässliche Berechenbarkeit von Konstruktionsteilen. Beide Bereiche bedingten einander, denn tragische Unfälle bei Dampfkessel-Explosionen erforderten eine theoretische Durchdringung der Ursachen und Auswirkungen, und durch verbesserte Theorien wuchsen zugleich die Effizienz von Prozessen und die Sicherheit von Produkten.

Die einsetzende industrielle Produktion benötigte also Fachleute, die eine Verbindung von mathematischen und naturwissenschaftlichen Kenntnissen beherrschten und diese anwenden konnten. Solche Ingenieure4 wurde erstmalig in Frankreich an der École polytechnique ausgebildet. Dort lehrten im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts berühmte Wissenschaftler wie Pierre-Simon Laplace, Joseph-louis Lagrange, Siméon Denis Poisson und Augustin-louise Cauchy, mit deren Namen viele für den Ingenieur selbstverständliche Gesetzmäßigkeiten und Formeln verknüpft sind. Ein typisches Beispiel dafür ist die sog. Laplace-Transformation, mit der reelle Funktionen aus dem Zeitbereich in den komplexen Frequenzbereich überführt und auf diese Weise elegant lösbar gemacht werden. Die rein statische Betrachtungsweise technischer Vorgänge ließ sich also mit Hilfe der Infinitesimalrechnung auf zeitabhängige Größen ausdehnen. Die Ingenieurwissenschaften erlangten durch die Verbindung von Theorie und Praxis ihre zunehmende Selbstständigkeit5.

Weniger beeinflusst von großtechnischen Prozessen blieb ein eher elitärer Berufszweig. Nur in wenigen Orten in Europa gab es Werkstätten, die in der Lage waren, Messinstrumente für die naturwissenschaftliche Forschung herzustellen. Meistens standen sie in direkter oder indirekter Verbindung mit universitären Laboratorien oder privaten Forschern. Bedurfte es schon erheblicher technologischer Kenntnisse und handwerklicher Fertigkeiten, um Behausungen, Bekleidung, Werkzeuge und Waffen und nicht zuletzt Schmuck für die Obrigkeiten herzustellen, so erforderte die Herstellung von Geräten zur Zeitbestimmung, der Gestirnbeobachtung und für den Warenaustausch materieller Güter spezielle Materialkenntnisse und vor allem ganz spezielle Fertigkeiten6. Dafür eingesetzte Materialien waren neben Glas und Silber vorwiegend Messing. Dessen Korrosionsbeständigkeit und die gegenüber Eisen leichtere mechanische Bearbeitung waren entscheidende Gründe für seine Verwendbarkeit.

Historisch betrachtet ist ein solcher Berufszweig „Instrumentenbauer“ aber uralt: bereits 6000 B.C. beherrschten die Sumerer das Löten bei der Fertigung von Goldschmuck, und die Archäologie kennt aus der Vorzeit eine Fülle von Werkzeug-Fundstücken zum Sägen, Schleifen oder Bohren von Knochen, Holz oder Stein und wenig später auch von Kupfer, Bronze und Eisen. Gleichermaßen erforderte die Beobachtung der Gestirne und von anderen Naturerscheinungen Gerätschaften zur Bestimmung von Zeiten, Längen und Winkeln7. Ohne solche Hilfsmittel wären etwa Claudius Ptolemäus oder Eratosthenes von Kyrene nicht zu ihren Erkenntnissen gekommen.

Wie kurz skizziert, waren weittragende Umwälzungen in Wissenschaft und Gesellschaft die wesentlichen Kennzeichen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die Physik war so weit fortgeschritten, dass ein mechanistisches Menschenbild (siehe Abschnitt 5.1) kursieren konnte, und die Astronomie hatte ihrerseits das heliozentrische Weltbild gefestigt. Die wissenschaftlich-empirische Chemie hatte ihr alchimistisches Image teilweise abgestreift und war praktizierter Alltag in jedem Laboratorium. Zur Beschreibung von chemischen Umsetzungen dominierten aber noch Fluidums-Theorien verschiedenster Art. Weit verbreitet war die Vorstellung, dass bei der Verbrennung ein hypothetisches Fluidum, das Caloricum (Wärmestoff) oder Phlogiston8, entweichen und bei Abkühlung wieder in die Substanz eindringen könne. Ähnlich dazu gab es viele Vorstellungen, dass irgendein Fluidum für Stoffänderungen oder Phasenübergänge verantwortlich sei, welches nur noch nicht zu bestimmen war. Ein anschauliches Beispiel dafür ist die langjährige Beschäftigung des Schweizer Meteorologen und Glaziologen Jean-André Deluc mit dem Schmelzen von Gletschern, der Regenbildung und der Entstehung von Gewittern, für die ein „fortleitendes“ und ein „elektrisches“ Fluidum maßgebend seien (siehe Abschnitt 6.1). Andere Forscher postulierten für die Gravitation ein „schweremachendes“ Fluidum.

Derartige Unsicherheiten in der Bewertung von Stoffänderungen bei thermischen Einflüssen reichen bis weit in das 19. Jahrhundert und wurden erst durch einen umfassenden Energiebegriff beseitigt. Ausgehend vom Pendel hatten sich zwar schon viele Denker mit mechanischer Energie, so dem Zusammenhang zwischen potentieller und kinetischer Energie, befasst (Wilhelm Leibniz: „Erhaltung der Kraft“), aber noch 1800 sprach Thomas Young nur von mechanischer Energie – andere energetische Phänomene waren für ihn ohne Bezug dazu. Das also war das Umfeld9, und Brandt schreibt in [2, Seite 15], dass sich Humboldt erst spät in seinem großen Werk Kosmos sehr zögerlich und nur kurz damit befasst hatte.

Die neue Technik Dampfmaschine und deren zum Betrieb erforderlichen Dampferzeuger waren aber die treibende Kraft für weitgreifende Überlegungen zu den möglichen Energieformen, deren Umwandlungsmöglichkeiten und ihrer Äquivalenz. Der deutsche Arzt Robert Mayer formulierte 1842 den Energieerhaltungssatz: „Energie kann weder erzeugt noch vernichtet, sondern nur umgewandelt werden“10, und dem englischen Bierbrauer James Prescott Joule gelang 1850 der quantitative Nachweis des mechanischen Wärmeäquivalents11. Schließlich konnte gezeigt werden, dass mechanische, chemische (Josua Gibbs 1870) und Elektroenergie (Werner von Siemens 1882) einander äquivalent sind. Das aber waren Erkenntnisse, die erst nach Humboldts Lebzeiten zu Fundamentalsätzen von Naturwissenschaft und Technik wurden.

Ähnlich kontrovers verliefen die Diskussionen über die Entstehungsgeschichte der Erde. Angeregt durch seine Studien bei Abraham Gottlob Werner in Freiberg, war Humboldt anfänglich noch Neptunist12. Erst durch seine Erkenntnisse auf der Südamerikareise schwenkte er endgültig zu den Plutonisten über [5, S. 101]. Weiter ist zu bedenken, dass man, durch den Bergbau befördert, im 18. Jahrhundert schon viele Mineralien kannte. Aber noch im Jahr 1800 waren erst 32 der 92 natürlichen Elemente nachgewiesen, und es waren noch längst nicht alle physikalischen und chemischen Eigenschaften dieser Elemente bekannt. Auch die Analysemethoden dafür waren mehr Empirie als Wissenschaft, denn erst mit Martin Heinrich Klaproth (1743 – 1817) setzte sich die gravimetrische Analyse (exakte Wägung der Reaktionsprodukte) allmählich durch.

Generalisierend kann gesagt werden, dass Alexander von Humboldt in einer Epoche großer gesellschaftlicher Umwälzungen lebte und wirkte [24]. Seine beiden großen Reisen nach Südamerika und Russland finden in jener Zeit statt, und sein Interesse war vordringlich auf eine physische Weltbeschreibung, wie er es nannte, gerichtet. Technologische Umwälzungen in der produzierenden Wirtschaft gab es seinerzeit erst in wenigen Ländern, und das vor allem in der englischen Textiltechnik und im Maschinenbau. Humboldt hat diese Entwicklungen sicher zur Kenntnis genommen, Wechselwirkungen mit seiner forschenden Tätigkeit betrafen aber eher die Geologie13 und die Erkundung von Rohstoffen, ganz speziell auf seiner Russlandreise [3].

Bemerkenswert ist aus heutiger Sicht die damals offenbar noch weitgehend unkompliziert funktionierende Kommunikation zwischen Wissenschaftlern verschiedener Länder. Obwohl es weittragende kriegerische Auseinandersetzungen gab und oft das Wohlwollen der jeweiligen Territorialfürsten fördernd oder bremsend wirkte, konnte über die Grenzen hinweg kommuniziert werden und Kollegen im In- und Ausland bekamen offenbar recht schnell neue Informationen. Immerhin wurde mit den damals verfügbaren Kommunikationsmitteln eine Entdeckung von physikalisch-chemischen Zusammenhängen erstaunlich vielen Partnern innerhalb weniger Jahre bekannt. Derartige Bezüge zur damaligen naturwissenschaftlichen und technischen Welt bilden somit ein Umfeld für die „explorative Neugier“ [2] und das Wissenschaftsverständnis der Naturforschers Alexander von Humboldt einschließlich seiner ethnologischen Forschungen und zoologischen und botanischen Erkundungen14.

Es darf vermutet werden, dass eine wirtschaftliche Nutzung und der Erwerb von Schutzrechten, die damals eher von territorialer Reichweite waren, weniger im Vordergrund standen15. Vielleicht erschien auch manchem Gelehrten eine industrielle Verwertung in großem Umfang als noch sekundär oder sogar außerhalb seines Interesses16 - primär dominierten für manche wohl eher die wissenschaftlichen Fragestellungen17.

In den folgenden Kapiteln wird der historische Hintergrund der jeweiligen Fachgebiete mit einbezogen. Das gilt speziell für den Messvorgang: Der alte Lehrsatz Messen heißt Vergleichen betont zwar den Vergleichsaspekt beim Messen, beantwortet aber nicht die Fragen „wie messen?“ und „womit?“. Die Antworten sind ebenso vielgestaltig wie problembehaftet, und sie werden uns weitgehend beschäftigen. Wir folgen dabei gern der Feststellung von R.-R. Wuthenow im Vorwort zu [5]:

„(…)dass es um das(…)Faktum des exzessiven wie gewissenhaften Gebrauches geht, den der große Reisende von den damals neuesten und meist sehr teuren Instrumenten machte; die größte Genauigkeit bei Beobachtung und Messung war ihm eben nicht minder wichtig als die abenteuerliche Erfahrung der tropischen Welt des südlichen amerikanischen Halbkontinents“.

1.2. Instrumente und Methoden

Die Humboldt’schen Originalschriften und vor allem seine Reisetagebücher enthalten meist nur kurze Angaben über von ihm auf Reisen mitgeführte und eingesetzte Geräte und Messinstrumente. Seltener sind Aussagen über die eigentliche Wirkungsweise. Genannt wird oft der jeweilige Hersteller, auch manchmal eine Gerätenummer18. Die auf seinen Reisen geführten Tagebücher ([6] bis [12]) waren dagegen ursächlich seine persönlichen Datenspeicher im Sinne der Sammlung von vielen Fakten und Zahlenwerten, um sie dann in späteren Veröffentlichungen auswerten zu können (siehe [1]). Die damaligen Umstände auf den Reisen (Transport, Unterbringung, Wetter, Zeitprobleme) ließen offensichtlich weder Zeit noch Raum für eine sofortige umfassende Präsentation.

 

Jedes Messgerät hat je nach Konstruktionsprinzip eine erreichte Fertigungsgüte und zusammen mit den Einsatz- und Umgebungsbedingungen eine spezifische Aussagequalität. In heutiger Terminologie ist diese Qualität in der Messunsicherheit zusammengefasst. Die Richtigkeit eines Messergebnisses hängt zudem von dem gewählten Messverfahren, vom Versuchsaufbau, von den Umgebungsbedingungen und nicht zuletzt vom Geschick des Experimentators19 ab. In ein Gesamtergebnis gehen oft weitere Messwerte ein, die mit anderen Instrumenten gewonnen wurden und ihrerseits ebenfalls ungenau sind. Ein Gesamtergebnis und die Messabweichungen sind dann rechnerisch ermittelte Größen20, die auch von außen wirkende Einflussgrößen mit berücksichtigen21.

Festlegungen dazu, wie sie heute in internationale Normen umfassend Eingang gefunden haben, gab es vor zweihundert Jahren nicht. Aus den Angaben in Humboldts Tagebüchern lassen sich aber Grenzen ableiten, innerhalb deren der „richtige“ Wert eines Einzelwertes gelegen hat. Dieser Problematik war sich Humboldt sehr wohl bewusst, weil er immer darauf bedacht war, eine zu bestimmende Größe mehrfach zu messen und deshalb eine Einzelmessung entsprechend kritisch bewertete. Mit dem Zusammenfassen von Einzelwerte sollten Naturgesetzlichkeiten durch hinreichend sichere Zahlen aufgefunden und belegt werden, wohl wissend, dass der entsprechende Wissensvorrat insgesamt unzureichend sein konnte22.

Zur Zeit seiner Amerikareise war zum Beispiel die Bildung eines einfachen arithmetischen Mittelwerts die noch übliche Verfahrensweise, d. h. die wiederholt an gleicher Stelle und unter gleichen Bedingungen gemessenen Einzelwerte wurden aufsummiert und durch die Anzahl der Messungen geteilt. Diese Zusammenfassung von einzelnen Messwerten zu einem „mittleren“ Wert musste erwartungsgemäß sicherer sein als ein Einzelwert.

Carl Friedrich Gauß befasste sich in Hannover seinerzeit ausgiebig mit der Auswertung von astronomischen Messungen und entwickelte daraus die Methode der kleinsten Quadrate: Die Summeaus denQuadratenderAbweichungen wird minimiert, was auf das wahrscheinlichste Ergebnis für eine vorher gewonnene große Zahl von Messwerten führt. Mit dieser Methode werden Fehler der Einzelbeobachtungen mehr oder weniger gut ausgeglichen („Ausgleichsrechnung“), und sie ist unentbehrlich für eine exakte Auswertung von Beobachtungs- und Messergebnissen23. Gauß hatte sich schon früh damit beschäftigt, aber erstmals 1810 darüber publiziert. Da Humboldt mit Carl Friedrich Gauß erst 1826 persönlich bekannt wurde, ist nicht anzunehmen dass er die Ausgleichsrechnung um 1800 schon kannte, angewendet hat oder anwenden ließ. Mit der Methode der Mittelwerte gelang ihm allerdings schon die schlüssige Verbindung von Temperatur- und geografischen oder anderen Daten zu neuen Erkenntnissen.

Die von Humboldt in seinen Briefen und Ausrüstungsverzeichnissen erwähnten Geräte und Instrumente24, die er auf seinen Reisen mitführte, gestatteten ihm astronomische, geomagnetische, barometrische und Temperaturmessungen25. Sie wurden benötigt, um sein großes Arbeitsprogramm abarbeiten zu können, das er 1807 so umschrieb ([16, S. 38], zitiert in [2, S. 17]):

„Ich habe es gewagt, ein physikalisches Gemälde der Äquinoctialgegenden zu entwerfen. Ich habe versucht alle Erscheinungen zusammenzustellen, welche den Boden und den Luftkreis, von den Küsten des stillen Meeres an bis zum Gipfel der Kordilleren, dem Beobachter darstellt. Dasselbe umfaßt: Vegetation; Thiere; Geognostische [geologische] Verhältnisse; Ackerbau; Luftwärme; Grenzen des ewigen Schnees; Elektrische Tension der Atmosphäre Abnahme der Gravitation; Dichtigkeit der Luft; Intensität der Himmelbläue; Schwächung des Lichts beym Durchgang durch die Luftschichten; Strahlungsbrechung am Horizonte und Siedehitze des Wassers in verschiedenen Höhen über der Meeresfläche.“

Mehrere Publikationen der letzten Jahre beschreiben die von Humboldt benutzten Instrumente und sein methodisches Vorgehen, vor allem die detailreichen Arbeiten von Brand [2], Honigmann [3] und Schöppner [5]. Darauf wird in der Folge mehrfach Bezug zu nehmen sein. Bei Seeberger [4] werden viele Instrumente aus Humboldts Zeit oder von ihm selbst benutzte Geräte in ausgezeichneter Bildqualität wiedergegeben.

Die von Brand in [2] akribisch recherchierte Auflistung der von Humboldt benutzten Messgeräte umfasst insgesamt 84 (!) Positionen, u. a.

7 Geräte zur Zeitmessung

14 Geräte zur Messung von Geophysik und Magnetismus

24 optische Geräte zur Höhen- und Lagebestimmung

5 Thermometer

9 Barometer und Geräte zur Höhenbestimmung

12 Geräte für Klimakunde, Meteorologie und elektrophysikalische Untersuchungen

4 sonstige Geräte.

Brand hat dazu die einschlägigen Schriften von und über Alexander von Humboldt incl. des Nachlasses ausgewertet, so dass seine Liste von weitgehender Vollständigkeit sein dürfte. Natürlich hat Humboldt nicht auf jeder Reise das gesamte Spektrum mitgeführt – bei Durchsicht aller Verzeichnisse dominieren aber Instrumente und Gerätschaften zur Orts-, Höhen- und Lagebestimmung, zur Ermittlung klimatischer Daten und Zustände sowie zur Luft- und auch Wasseranalyse, wie das obige Zitat deutlich formuliert. Die folgenden Kapitel werden sich mit diesen Geräten beschäftigen.

Einen erheblichen Teil seiner Reisevorbereitungen widmete Alexander von Humboldt der methodischen Vorbereitung und dem Studium von verfügbaren Unterlagen. Zusätzliche Reisen in europäische Länder verfolgten den gleichen Zweck. In Dresden und Umgebung übte er sich beispielsweise in barometrischen Höhenmessungen. Sein Bezugspegel war dabei die Elbe, genauer der seinerzeit gültige (mittlere) Elbspiegel. Die Zahlenangaben im Tagebuch sind Relativwerte [9, S. 56V]. So ermittelt er die Höhe der Festung Königstein zu 140,39 Toisen über der Elbe, die dort gegenüber Dresden um 5,27 Toisen höher anzusetzen ist. Ebenso verglich Humboldt in [9, S. 61R] seine barometrische Höhenmessung des Schlossberges von Töplitz (jetzt: Teplice, CR; 88,6 Toisen = 172,68 m) mit den Angaben von Schluckenau aus dem Jahr 1779 von etwa 90 Toisen.

Ein weiteres Beispiel für die Gründlichkeit seiner Vorgehensweise sind Notizen zur Österreich-Reise 1796 in [9, S. 63R]. Für Salzburg hat er in verfügbaren Kartenwerken folgende Koordinaten gefunden und durch eigene Messungen überprüft (Tabelle 1 auf Seite 24).

Die Begründung für seine eigenen Messungen findet sich in einem Brief vom 28.10.1797 [22]:

„Da in der ganzen Stadt keine Mittagslinie gezogen ist und selbst die Polhöhe unbekannt ist, so habe ich die heiteren Tage zum Sextanten benutzt (…)“.

Während die Breitenangaben in Tabelle 1 fast identisch sind, weisen die Längenangaben zum Teil erhebliche Unterschiede auf. Ursache ist die seinerzeit ungenügend genaue Zeitbestimmung (siehe Kapitel 2) – ein Grund mehr, die jeweils besten verfügbaren Instrumente zu benutzen und auf der Basis des eigenen Kenntnisstandes die Ergebnisse kritisch zu hinterfragen.

Tabelle 1: Koordinaten von Salzburg26


Alle diese Studien und Lernprozesse waren Voraussetzung für die enormen späteren Leistungen bei der Erkundung und Erforschung vorher wenig erschlossener Territorien, was zusammenfassend als Physikalische Geografie Humboldts bezeichnet wird [23]. Humboldts wissenschaftliche Leistungen waren, so Honigmann in [3], vorallem wissenschaftliche Leistungen eines Entdeckers mit dem Messinstrument. Es ging weniger darum, neue Berge oder Länder zu entdecken, als vielmehr um zuverlässigere Werte von Dingen, die dem Namen nach zwar bekannt, aber nicht oder nur ungenügend datiert waren.