Read the book: «Die Schülerrepublik im Schloss Reichenau», page 6

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ERÖFFNUNG OHNE POMP

Über die Eröffnung des Seminars Reichenau Mitte Juni 1793 besitzen wir ein Inserat, das in den bei Deutschlands Gelehrten viel beachteten «Intelligenzblättern der Allgemeinen Literatur-Zeitung von Jena» erschien:

«Ohne alle Festivität und Gepränge hat nun die neulich angekündigte Erziehungsanstalt zu Reichenau in Graubünden ihren Anfang genommen; indem bereits der Herr Direktor Nesemann nebst einem katholischen und zwei reformierten Lehrern, so wie eine Anzahl reformierter und katholischer Zöglinge aus vornehmen und bürgerlichen Geschlechtern seit acht Tagen das dasige Schloss bezogen und diese kunstlose aber nützliche Anstalt eröffnet haben. Es wird nun an treuer Ausführung des Plans gearbeitet, und bei erwartender verhältnismässiger Anzahl von Zöglingen soll auch das katholische, so wie das reformierte Professorat ohne Verzug besetzt werden.»127

Dieser unspektakuläre Auftritt des Seminars steht in krassem Gegensatz zum Zirkus um die Verlegung des Seminars Haldenstein nach Marschlins im Jahre 1771, die begleitet von «einem mächtigen Tross, mit Ross und Wagen» stattgefunden und in einem dreitägigen Fest kulminiert hatte.128 Damals waren gegen achtzig Schüler mit Mobiliar und Schulmaterial umgesiedelt worden. Baron Ulysses von Salis, Herr von Marschlins, bevollmächtigter Minister Frankreichs, der grandiose Inszenierungen zu organisieren gewohnt war, hatte prominente Gäste eingeladen und kräftig die Propagandatrommel für seine Schule gerührt, auch ein weiteres Mal, als er sie 1775 in ein Philanthropin verwandelte.129

Seit jenen gloriosen Zeiten war mehr Demut in Bünden eingekehrt; das Selbstbewusstsein der Adelsgeschlechter war geknickt und ihr Reichtum, der sich aus drei Quellen spies – Pensionswesen, Handel und Untertanenlande –, hatte durch die Französische Revolution und die Entlassung der Bündner Regimenter eine beträchtliche Einbusse erlitten. Ohne Geld schwand auch der Einfluss auf die Politik. Bescheidenheit und Zurückhaltung entsprachen eher dem neuen Zeitgeist als der barocke Luxus des Salis-Marschlins.

Tscharner und Nesemann, die Gründer des Seminars Reichenau, achteten nicht auf die Meinung des Publikums, wenn sie etwas Neues an die Hand nahmen, ja sie scheuten geradezu die Öffentlichkeit und meldeten sich kaum zu Wort, wenn es nicht unbedingt nötig war. Davon zeugt auch der Prospekt vom 22. Mai 1793, der mit minimalen Veränderungen am 1. August neu aufgelegt wurde: Die Leistungen sollten für sich sprechen. Dabei blieb es für die nächsten anderthalb Jahre.

Als der Romanautor und Dramatiker Heinrich Zschokke im August 1796 nach Reichenau kam und Anfang 1797 die Direktion übernahm, änderte sich dies; er kritisierte die bisherige Werbepraxis und schlug eine verstärkte Propaganda vor, denn nur wenn von Zeit zu Zeit über die Fortdauer und Neuerungen des Instituts berichtet werde, bleibe das Interesse geweckt.

Was aber waren die Eigentümlichkeiten des Seminars Reichenau, die es verdient hätten, dass man darüber Worte verlor? Zunächst sah alles nach einer üblichen Internatsschule aus. Die wenigen Schüler und die geringe Zahl an Lehrern erlaubten es noch nicht, den vorgesehenen Plan ganz zu entfalten. Krisen, welche das Seminar erschütterten, stellten sich dem Ausbau weiter entgegen. In einem Prospekt und einem öffentlichen Brief vom 1. Februar 1795 ist erstmals von einem Schülertribunal beziehungsweise einer Schulrepublik die Rede.130 Es ist aber anzunehmen, dass diese Institution bereits seit Sommer 1794 bestand.

LEHRER UND SCHÜLER

Es bereitete Tscharner erhebliche Mühe, sechs Lehrer zusammenzubringen, um alle vorgesehenen Fächer unterrichten zu lassen. Nesemann hatte sich zwar schnell überzeugen lassen und als künftiger Direktor einen Vertrag zu günstigen Bedingungen abgeschlossen, danach aber stockte die Anwerbung. Als reformierten Hauptlehrer hätte Tscharner gern den routinierten Jakob Valentin gewonnen, der mit Genehmigung des Bundstags seit 1789 als Leiter der Familienschule Jenins den Titel Professor tragen durfte.131 Obwohl Tscharner sein Anliegen eindringlich vorbrachte und ihn beschwor, die neue Stelle anzunehmen, weil das Seminar sonst nicht gedeihen könne, war Valentin nicht willens, seine relative Unabhängigkeit bei gesicherten Einkünften – er war 1787 an Stelle seines verstorbenen Vaters als Pfarrer in Jenins nachgerückt – mit einer ungewissen Stellung zu vertauschen, zumal er sich in der ihm angetragenen Position hinter Nesemann zurückgesetzt fühlte.132 Tscharner bot ihm ein Gehalt von 700 Gulden an, 100 weniger als Nesemann, geringere Privilegien und keinen Anteil an den Geschenken der Eltern.

Die Suche nach einem katholischen Hauptlehrer verlief ebenfalls harzig, weil kein guter Theologe, sondern ein Pädagoge gefragt war, der in mehreren weltlichen Fächern beschlagen sein musste und beispielsweise moderne Sprachen, Handelsfächer oder Naturwissenschaften auf Mittelschulniveau unterrichten konnte. Das sah das Curriculum eines Bündner Priesters nicht vor, falls er sich nicht jahrelang als Hauslehrer bei einem weitgereisten und gebildeten Kaufmann oder Politiker verdingt hatte. Tscharner wandte sich wegen eines Italienischlehrers sogar an Pfarrer Maffioli in Mailand, der ihm auch nicht weiterhelfen konnte.133

Die nächste Schwierigkeit, einen guten Mathematik- und Physiklehrer, gleich welcher Konfession, zu finden, der, wie Martin Planta in Haldenstein, den geisteswissenschaftlich orientierten Nesemann ergänzen konnte, liess sich ebenfalls nicht lösen. Die Anstellung scheiterte häufig an Gehaltsforderungen, an Bedenken, sich in eine abgeschiedene Berggegend zu begeben, und an der Anzahl Unterrichts- und Aufsichtsstunden, die von den Lehrern in Reichenau gefordert wurde. Tscharner sandte vergeblich Anfragen nach einem geeigneten «Subjekt» an Bekannte in der Schweiz134 und wandte sich an den Pädagogen Christian Gotthilf Salzmann in Schnepfenthal, den er schon auf der Suche nach Lehrern für Jenins in Anspruch genommen hatte.135

Nicht einmal ein Zeichenlehrer konnte aufgetrieben werden, obwohl sich drei Lehrer bewarben, darunter Martin Friedrich Bernigeroth aus Leipzig, der schon in Haldenstein und Marschlins Zeichenmeister gewesen war und sich auch als Tanzmeister empfahl.136 Hier lag die Sachlage anders: Ein solcher Lehrer hätte angesichts der zunächst kleinen Schülerzahl in Reichenau kein Auskommen gehabt, sondern wäre in Chur auf eine zweite Anstellung oder Privatschüler angewiesen gewesen. Tanzen, Zeichnen, Musik und Fechten waren Freifächer, die von den Eltern extra bezahlt werden mussten, wozu wenige bereit waren. Die Schule gab sich republikanisch; Tanzen, Musik und Fechten aber waren Fertigkeiten, die damals eher mit der Erziehung zum Edelmann in Zusammenhang gebracht wurden.

Nach verschiedenen Absagen hatte Tscharner zur Schuleröffnung neben Nesemann vier Lehrer gefunden, drei reformierte und einen katholischen, deren Eignung nicht in allen Fällen erprobt war: Rusterholz, Juvenal, den Katholiken Deporta und Kniesel. Von den beiden Letzteren wissen wir nicht viel; Kniesel verliess die Schule schon nach einem halben Jahr, nachdem er eines Gelddiebstahls bezichtigt worden war.137 Er fand im Anschluss eine Anstellung bei Friedrich Anton von Salis-Soglio im Bergell.

Aus einer Aufstellung Tscharners vom Mai 1793 geht hervor, dass er mit den Lehrern folgendes Jahresgehalt vereinbarte: Nesemann 800 Gulden, Rusterholz 600, Deporta 400, Juvenal 300 und Johannes Caprez, reformierter Pfarrer der Nachbargemeinde Tamins, 200.138 Diese Zahlen geben die zeitliche Belastung der Betreffenden wieder. Deporta, ein katholischer Pfarrer, blieb nicht einmal ein Jahr und nahm im Februar 1794 eine Stelle im Regiment Christ in sardinischen Diensten an. Caprez wurde schon vor Beginn durch Kniesel ersetzt, und nach dessen Entlassung blieb sein Platz vakant, so dass nur noch vier bezahlte Lehrer tätig waren. Im Dezember 1793 bezogen Nesemann und Deporta das gleiche Gehalt wie im Mai vorgesehen, während Rusterholz noch 500 Gulden erhielt und Juvenal neu 400 Gulden.139 Kurze Zeit darauf wurde Nesemanns Gehalt aus Spargründen um 100 Gulden verringert.140

Der schon ältere Anton Gubert Juvenal hatte sich am 27. Dezember 1792 von Chiavenna aus um eine Lehrerstelle für Italienisch, Rechnen und Violinspiel beworben141 und unterrichtete in Reichenau Italienisch, Französisch und Rechnen. Johann Heinrich Rusterholz (1760–1806) aus Wädenswil, bis 1790 Lehrer an der Stadtschule in Chur, hatte im gleichen Jahr das Knabeninstitut «Rietli» in Zürich Unterstrass gegründet. Schon im Juni 1787 hatte ihn Tscharner als zweiten Lehrer an die Jeninser Nationalschule holen wollen, aber erst 1793 folgte er Tscharners Ruf nach Reichenau und erteilte Rechnen, Französisch, Schreiben, Naturkunde und Geografie. Deportas Unterricht beschränkte sich auf Latein und katholische Religion, während Nesemann die übrigen Fächer und Stufen abdeckte, einsprang, wo es nötig war, und im Wintersemester 1793, das Anfang Dezember begann, reformierten Religionsunterricht, Philosophie, Rhetorik, Geschichte, Geografie und Französisch gab.

Diese Informationen entnehmen wir einem handschriftlichen Stundenplan Tscharners aus jener Zeit.142 Darin sind 16 Schüler mit ihrem Pensum aufgelistet, die meisten aus Graubünden, zwei aus Mailand und einer aus Ravensburg. Einige Namen wurden später gestrichen, andere ergänzt. Leider fehlen bei den Schülern genaue Angaben und die Daten des Zu- und Abgangs. Bei der Schuleröffnung waren es offenbar noch weniger als zwölf und einen guten Monat später vierzehn.143 In dieser Grössenordnung bewegte sich die Schülerzahl auch in den ersten Jahren.

Tscharner hatte Bekannte auf die Schule aufmerksam gemacht und sie gefragt, ob sie ihre Söhne nach Reichenau schicken möchten oder andere dafür empfehlen könnten. In seinen «Reichenauer Notanda» sind mehrere Listen mit Namen enthalten. Am 3. Mai 1793 wurden 39 Kinder «zugesagt», 144 im Herbst darauf 22 «mit Gewissheit angemeldet». Das waren teils nur Bereitschaftsbekundungen, noch kaum feste Zusagen zum sofortigen Schuleintritt. So waren zwei Söhne des Präfekten Francesco Conrado von Baldenstein (im Hochgericht Domleschg) angemeldet, die erst 1796 oder 1797 ins Seminar kamen. Der eine von ihnen, der spätere Ornithologe Thomas Conrado, war 1793 erst neun Jahre alt. Vater Conrado war selbst einst Zögling des Seminars Haldenstein, also Schüler von Nesemann gewesen, und dies war wohl entscheidend, dass er seine Söhne für Reichenau schon einmal vormerkte. Das Gleiche traf auch für den Basler Fabrikanten und späteren Politiker Johann Lukas Legrand zu, ebenfalls Schüler von Haldenstein, der mit Interesse verfolgte, wie das Seminar Reichenau sich entwickelte, seine beiden Söhne Johann und Daniel aber erst 1795 nach Reichenau schickte, als sie 13 und 12 Jahre zählten.

Nicht alle Einträge lassen sich entschlüsseln, da die Schüler in den Listen oft nur mit Nachnamen erscheinen, vielleicht noch mit Herkunftsort oder Berufsbezeichnung des Vaters. Es handelte sich ja nur um Notizen Tscharners. In der Liste vom Mai 1793 waren, wie erwähnt, 39 Anwärter eingetragen; nur rund ein Drittel kam jedoch gleich, und auch von diesen besitzen wir selten Angaben über Herkunft, Muttersprache, Alter und die Dauer ihres Aufenthalts in Reichenau.

Eine Alterslimite für die Aufnahme wird in den Prospekten für Reichenau nicht genannt, dies im Unterschied zu Tscharners Plan für die Jeninser Nationalschule vom März 1788, wo ein Höchsteintrittsalter von zwölf Jahren vorgesehen war, da «die Kinder von gewissen Lastern noch frei und da hier kein Anlass zur Verführung ist».145 Viele Eltern hatten aber offenbar Bedenken, ihre Söhne in diesem frühen Alter in die Fremde zu schicken, aus verschiedenen Gründen, vielleicht auch aus Sorge um ihre Gesundheit und ihr Wohlergehen. Immerhin war es oft das erste Mal, dass sie über längere Zeit von zu Hause abwesend waren.

Tscharner hatte im Herbst 1793 seine vier ältesten Söhne «mit Gewissheit» angemeldet: Johann Baptista (1779–1857) und Johann Friedrich (1780–1844) hatten seit 1786 die Familienschule Jenins besucht; ihretwegen hauptsächlich hatte ihr Vater diese Schule gegründet. Sie traten im Juni 1793 ins Seminar Reichenau über und blieben dort bis Ende 1796, um dann an die Universität Erlangen zu gehen. Der nächstältere Sohn Johann Georg (1782–1819), der 1789 als Siebenjähriger in die Jeninser Schule kam, trat ebenfalls zum Zeitpunkt der Eröffnung ins Seminar Reichenau ein, während bei Peter Conradin (1786–1841) bis 1796 zugewartet wurde. Es ist zu vermuten, dass das Alter der Knaben zwischen zehn (beim Eintritt) und achtzehn Jahre (beim Austritt) betrug. Das lässt sich auch aus den Fächern schliessen, in denen sie unterrichtet wurden: Die jüngeren erhielten von Nesemann Religionsunterricht, die älteren (ab 14 oder 15 Jahren) Philosophie; im Wintersemester 1793/94 traf Letzteres offenbar nur für einen einzigen Schüler zu, Ruggiero aus Mailand.

Je mehr Kinder von Anfang an das Seminar besuchten, desto tiefer konnte das Schulgeld angesetzt und desto besser das schulische Angebot werden, ohne dass sich ein erheblicher Verlust in der Gesamtrechnung ergab, was Tscharner in Rücksicht auf seine Mitgesellschafter unbedingt vermeiden wollte. Die starke Fluktuation von Semester zu Semester erforderte es, dass immer wieder neue Schüler angeworben werden mussten. Die Abgänge hingen selten oder nie mit schulischem Misserfolg zusammen, sondern, wie es scheint, mit dem Gesundheitszustand der Kinder, ihrem Alter und äusseren, nicht zu beeinflussenden, und manchmal auch politischen Faktoren, die in der Geschichte des Seminars Reichenau eine wesentliche Rolle spielten.

Das Schulgeld war mit 100 Gulden, das «Tischgeld» für Unterkunft, Essen und die anderen Auslagen mit 200 Gulden zurückhaltend kalkuliert; dies war der Betrag, den schon 1761 ein Kind im Seminar Haldenstein bezahlen musste. Einige Eltern hatten sich eine Reduktion oder Ausnahmereglung mit einem Gegengeschäft ausbedungen, was Tscharner offenbar akzeptierte, 146 so Lehrer Juvenal, der für seinen Sohn das volle Tischgeld von 200, aber nur ein Schulgeld von 81 Gulden zu bezahlen hatte. Dagegen wurde für den Schüler Pestalozzi aus Malans ein Schulgeld von 112 Gulden gefordert; vielleicht weil er Einzelunterricht benötigte oder ein Freifach wie Zeichnen, Musik, Tanzen oder Fechten belegte, wofür eigens ein Lehrer aus Chur geholt werden musste. Kurz nach der Eröffnung, am 10. Juli 1793, stellte Tscharner fest, dass die 14 Schüler im Durchschnitt 284 Gulden zahlten und sich bei Einnahmen von 224 und Ausgaben von 291.30 Gulden ein Defizit von beinahe 70 Gulden pro Kopf ergeben würde, ohne Berücksichtigung der Verzinsung des Kapitals und der Möbel, Bücher und der Naturalien- und Kupferstichsammlung im Schätzwert von 1500 Gulden, die er aus seinem Bestand aus Jenins mitgebracht hatte.147

Im Inserat vom 23.Juni 1793, das sich vorwiegend an Eltern im Ausland richtete, wurde die Gebühr mit 351 Gulden angegeben, 130 Gulden für den Unterricht und 221 Gulden für Unterkunft, Essen und anderes.148 Die Differenz zu den anderen Angaben ist nicht ganz verständlich, da mit der gleichen Währung (Churer Gulden) gearbeitet wurde. Vielleicht war eine Quersubvention beabsichtigt. Das Inserat enthält noch die Mitteilung, dass weitere Lehrer eingestellt würden, sobald die Zahl der Schüler sich erhöhe.

EIN GEHEIMNISVOLLER FREMDER

Ähnlich wie bei Lebensläufen ranken sich zuweilen auch um Institutionen Anekdoten und Legenden, die eifrig nacherzählt und blumig ausgeschmückt werden, weil sie die Merk- und Denkwürdigkeit erhöhen. Das Seminar Reichenau bildet darin keine Ausnahme. Ein Höhepunkt in der Schulgeschichte ist zweifellos die Erzählung, wie der junge preussische Dichter Heinrich Zschokke im August 1796 auf seiner Durchreise durch Bünden in Chur eintraf, dort sein vorausgeschicktes Gepäck nicht vorfand und sich vom Seminar Reichenau so begeistern liess, dass er kurzerhand die Leitung übernahm, um sie nach eigenen Vorstellungen umzugestalten und zum Erfolg zu führen.149 Was davon stimmt, werden wir erfahren.

Die zweite Erzählung handelt vom Aufenthalt von Louis-Philippe (1773–1850), der nach der Julirevolution 1830 als «Bürgerkönig» den französischen Thron bestieg. Wie der Herzog von Orléans, sein Vater, der den Übernamen Philippe Égalité erhielt, sympathisierte auch sein Sohn mit der Französischen Revolution. Er wurde mit 17 Jahren Mitglied des Jakobinerclubs und trat der Revolutionsarmee bei, wo er als Generalleutnant unter General Dumouriez 1792 an der Kanonade von Valmy teilnahm und am Sieg von Jemappes Anteil hatte. Als Mitverschwörer an einem Putschversuch von Dumouriez musste er im Frühjahr 1793 fliehen, suchte inkognito Exil in die Schweiz, wurde mehrfach von Spionen aufgespürt und erhielt von General Montesquiou, der sich als Emigrant in Bremgarten aufhielt, den Rat, er solle in Reichenau Unterschlupf suchen. Louis-Philippe war da noch keine 20 Jahre alt. Montesquiou stand mit Aloys Jost, der unter ihm in der republikanischen Armee gedient hatte, im Briefverkehr. Es wurde verabredet, Louis-Philippe solle als harmloser Südfranzose auftreten und sich unter dem Pseudonym Chabos als Lehrer einstellen lassen, mit der Garantie, dass ausser Jost, Tscharner und Nesemann niemand seine Identität erfahren werde, auch die anderen Lehrer nicht.150 Bis Chur begleitet von einem Diener, übernahm Louis-Philippe dort sein Reisebündel und traf allein und zu Fuss am frühen Morgen des 24. Oktobers 1793 in Reichenau ein, wo er an der Türe klingelte und von Jost empfangen wurde, den er als einen 33-jährigen, in blauen Samt gekleideten Mann mit schon schütterem blondem Haar beschrieb.151 Nesemann weilte zu jener Zeit in Chur.

Jost zeigte dem jungen Prinzen zunächst die mit französischen Büchern kärglich ausgestattete Bibliothek, dann sein Quartier, ein geräumiges, aber in dieser Jahreszeit düsteres Zimmer im Seitenflügel des Schlosses, das bisher Georg Anton Vieli benutzt hatte. Darin befanden sich ein Tisch, ein Stuhl, eine Pritsche und ein grosser Ofen, der vor Hitze summte. Mit dem Bett, auf dem bloss eine Strohmatratze lag, konnte sich Louis-Philippe bis zum Schluss nicht anfreunden, und Jost lieh ihm einige Decken aus.


8 — Lehrer Chabos alias Louis-Philippe, Herzog von Orléans, im Schloss Reichenau. Der nachmalige und letzte König der Franzosen (1830–1848) liess für seine königliche Galerie dieses Gemälde anfertigen (jetzt in Versailles), von dem er, als Dankbarkeit für seine Zufluchtsstätte, dem Schlossherrn von Reichenau eine Kopie schenkte. Das Louis-Philippe-Zimmer im Schlossflügel ist heute noch zu besichtigen; es wurde im 19. Jahrhundert für Bündenreisende zum touristischen Anziehungspunkt.

Vor dem Abendessen stellte Jost ihn Rusterholz, Juvenal, Deporta und den ungefähr 15 Schülern als ihren neuen Lehrer vor. Aus Briefen von Louis-Philippe an General Montesquiou wissen wir einiges über seinen Aufenthalt in Reichenau und kennen seine Einschätzung der Kollegen.152

Deporta, ein bereits älterer Priester, schrieb er, habe sich mit liebenswürdigen Worten an ihn gewandt, während Rusterholz einige Sätze in schlechtem Französisch stammelte. Juvenal, den Louis-Philippe als kleingewachsen, mit Adlergesicht und Siebentagebart schildert, habe einen blauen, fremdartig geschnittenen Anzug getragen, eine schwarze Weste, wie man sie von Basken kannte, eine grüne amerikanische Hose und eine Mütze, die seinen glänzenden Kahlkopf bedeckte. Deportas Pflichten bestanden nach der Aussage von Louis-Philippe darin, den einzigen katholischen Schüler (also Ruggiero) in Religion zu unterweisen, einige Stunden Latein zu erteilen, die Messe zu lesen und die gemeinsame Tafel zu präsidieren, an der auch Jost gewöhnlich teilnahm.

Juvenal habe sich mit ruckartigen Bewegungen und feurigem Blick auf ihn gestürzt, um sich zu erkundigen, ob er Musiker sei, und sei enttäuscht gewesen, als Louis-Philippe verneinte. Er sei Violinist, habe Juvenal in einem italienischen Wortschwall erzählt, stamme aus der Dauphiné, aus der seine Familie durch den Widerruf des Edikts von Nantes vertrieben worden sei. Später sei er ins Bergell gekommen, das er nach dem Verlust seines ganzen Vermögens mit seinem Sohn verlassen habe, um sich als Repetitor zu verdingen. Die Musik sei sein einziger Trost, und er suche vergeblich einen Gefährten, der seine Vorliebe teile.

An jenem Abend wurde Suppe, gekochtes und gebratenes Fleisch und Sauerkraut gereicht. Louis-Philippe verabscheute Sauerkraut und andere ihm ungewohnte Speisen. Schon beim Anblick einer fettigen Pastete, die ausgesehen habe, als sei sie mit Schnecken gefüllt (tourte de limaçons), wurde ihm übel. Auch in Butter gekochte Dörrfrüchte und gebratene Teigwaren mochte er nicht. Jost ärgerte sich über diese Ansprüche und das für einen Offizier ungehörige, unbeherrschte Verhalten.153

Der junge Prinz muss mit seinem gezierten Benehmen, den feinen Hemden und Halstüchern, die er täglich wechselte, in Reichenau wie ein bunter Vogel gewirkt haben.154 Er lebte zurückgezogen, war viel mit seiner Korrespondenz beschäftigt und oft kränklich. Nachdem Nesemann seine Fähigkeiten geprüft hatte, wurde ihm, bis sein Deutsch sich verbessert habe, ein einzelner Schüler zugewiesen. Als Entgelt für Essen und Unterkunft sollte er täglich zwei Lektionen erteilen, am Morgen Geometrie, am Nachmittag Arithmetik oder Geografie.155 Nach Ablauf von drei Monaten würde man dann ein Honorar für seine Tätigkeit festlegen. Louis-Philippe willigte ein, wollte aber für seinen Unterhalt bezahlen, und so legte man einen Preis von vierzig Sous täglich fest, die er entrichten sollte, sobald er wieder über Geld verfüge. Dafür brachte ihm Jost frische Früchte und Süssigkeiten aufs Zimmer, der Hausdiener bürstete seine Kleider und reinigte die Schuhe, und seine Wäsche wurde regelmässig gewaschen und gebügelt, ohne dass jemand es bemerken sollte.

Louis-Philippe gab sich Mühe, nicht aufzufallen, ass zusammen mit den Lehrern und Schülern, und wenn er die Speisen nicht vertrug, begnügte er sich mit Brot. Dem Stundenplan vom Wintersemester 1793/94 zufolge erteilte er Ruggiero (Louis-Philippe schrieb ihn «Rugié») von 9 bis 10 Uhr Geometrie. Vielleicht nahm auch Merkel aus Ravensburg daran teil, weil manchmal von zwei Schülern die Rede ist.156 Merkel zählte etwa 14, Ruggiero 16 Jahre, er war also wohl der älteste Schüler in Reichenau. Louis-Philippe willigte ein, Rusterholz und Josephine Jost, der Tochter des Verwalters, Französisch beizubringen; auch Tscharners Söhnen erteilte er privat Französischstunden. Dafür wurde er von Tscharner nach Chur eingeladen, 157 was ihm viel bedeutete, da er sich in Reichenau sehr eingeschränkt fühlte. Peter Conradin Tscharner, einer der jüngeren Söhne, der mit sieben Jahren noch zu jung war, um das Seminar Reichenau zu besuchen, und vermutlich erst 1796 dazu stiess, schrieb fast ein halbes Jahrhundert später aus der Erinnerung: «Jeder von uns wünschte in die Klasse des Herrn Chabos eingeteilt zu werden, so sehr und allgemein hatte das einnehmende Äussere und die Freundlichkeit seines Betragens die jungen Gemüter für den neuen Ankömmling eingenommen.»158


9 — Schulszene im Seminar Reichenau in einer Lithografie von Charles-Étienne-Pierre Motte nach einer Zeichnung von Léon-Auguste Asselineau, um 1835. Rechts sieht man Louis-Philippe von Orléans beim Unterrichten. Die Pose mit Erdkugel und Landkarte erinnert an imperiale Darstellungen Napoleons I. und weist auf seine Regentschaft voraus. Die beiden Knaben am offenen Fenster huldigen ihm wie einem Herrscher mit gebeugten Knie, was dem republikanischen Geist in Reichenau deutlich widerspricht. In der Mitte scharen sich Schüler um Johann Peter Nesemann und im Hintergrund verweist ein weiterer Lehrer, vermutlich der Violinist Anton Gubert Juvenal (Geige an der Wand), einen schläfrigen Schüler des Zimmers. Der Gast links vorne, der den Unterricht aufmerksam verfolgt, ist mit Bestimmtheit Johann Baptista von Tscharner, Kurator des Seminars. Von den kompositorischen Zugeständnissen und apotheotischen Überhöhungen abgesehen, wirkt die Darstellung realitätsnah. Man beachte den grossen Altersunterschied der Schüler, was einen Klassenunterricht erheblich erschwerte.

Mit der Köchin, einer jungen Italienerin namens Marianne Banzori, ging er ein Verhältnis ein, das Folgen zeitigte.159 Jost war ärgerlich, nicht weil der Herzog von Orléans und spätere König von Frankreich ein Mädchen geschwängert hatte, warum aber ausgerechnet die Köchin? Wo sollte er jetzt eine neue hernehmen? General von Montesquiou nahm die Angelegenheit auf die leichte Schulter. Am französischen Hof sei dies nichts Ungewöhnliches; in ähnlichen Fällen suche man für die Schwangere einen standesgemässen Mann und für das uneheliche Kind passende Eltern. Der Prinz begriff nicht, dass er Vater werden sollte. Hatte er nicht alle notwendigen Vorkehrungen getroffen? Womöglich hatte seine Geliebte noch andere Liebhaber, mutmasste er, vielleicht jenen Zimmermann, von dem sie sich angeblich getrennt hatte.

Jost mochte solche Unterstellungen nicht. Marianne Banzori sei gewiss keine Jungfrau mehr gewesen, schrieb er Montesquiou, aber doch auch keine Hure; die Franzosen hätten gut daran getan, alles aus dem Land zu werfen, was einem Prinzen glich. Schliesslich erklärte Louis-Philippe sich bereit, für die Niederkunft der Geliebten in Italien und die Aufzucht des Kindes aufzukommen. Marianne Banzori versöhnte sich mit ihrem «Chabosli» und liess ihn wieder in ihre Kammer. Nach seinem Abschied von Reichenau schrieb er ihr noch einige warme Liebesbriefe aus Bremgarten, dann war die Beziehung zu Ende.160 Marianne Banzori brachte im Dezember 1794 in Mailand ihr Kind zur Welt, danach verliert sich ihre Spur.

In dankbarer Erinnerung an sein Refugium schenkte Louis-Philippe 1845 dem Schlossherrn von Reichenau zwei Bilder, die noch heute im Schloss aufgehängt sind: Das erste stellt ihn als Monsieur Chabos in einfacher bürgerlicher Kleidung und als Lehrer vor einem Globus dar, das zweite als König in Gala-Uniform.161 Auf einer Lithografie in der Kantonsbibliothek Graubünden, der das Entstehungsjahr 1826 zugeschrieben wird, sieht man den jungen Fürsten ebenfalls vor einem Globus, in weltmännischer Pose auf eine Landkarte zeigend, während seine beiden Schüler, der eine kniend, der andere gebückt, ihn ehrfurchtsvoll betrachten. Im Hintergrund spielt sich ein Gruppenunterricht mit vor sich hin träumenden Schülern ab, und ein älterer Lehrer mit schütterem Haar, wohl Juvenal darstellend, weist schimpfend einen Schüler aus dem Zimmer.162

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