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Die Schülerrepublik im Schloss Reichenau

Inhalt

EINLEITUNG

Die Bedeutung des Seminars Reichenau aus heutiger Sicht

Die Herrschaft Reichenau und ihr Schloss

Quellenlage und Literatur

GESCHICHTE DER HERRSCHAFT UND DES SCHLOSSES REICHENAU

Das Schloss Reichenau im Lauf der Jahrhunderte

Akteure beim Kauf der Herrschaft Reichenau

Einteilung der Aufgaben unter den Eigentümern

Inventur

DAS SEMINAR REICHENAU

Tscharner, die Gründerpersönlichkeit

Vorläufer des Seminars

Der Pädagoge Nesemann und das Seminar Haldenstein

Vorkehrungen für die Aufnahme des Schulbetriebs in Reichenau

Zurückhaltende Propaganda

Eröffnung ohne Pomp

Lehrer und Schüler

Ein geheimnisvoller Fremder

Schüleralltag

SCHLECHTE ZEITEN FÜR EINE SCHULE

Pädagogik in Kriegszeiten

Spielerischer Unterricht

Eine Schulgründung nach der Französischen Revolution

Probleme im Seminar Reichenau

Vorläufige Schliessung des Schulbetriebs

Idee einer Landesschule

DER NEUBEGINN VON 1795

Umbruchphase

Sommerreise ins Engadin

Intervention des Fürstbischofs

Austausch der Lehrer

Reichenau und der Stäfner Handel

Zögerliche Eltern

Der Basler Unternehmer Johann Lukas Legrand

ERZIEHUNG ZUM BÜRGER

Pädagogische Pläne

Traum einer nationalen Erziehung

Geschichtsunterricht und politische Bildung

Ein Kranz von Fächern

Selbstauferlegte Disziplin

EIN NEUER DIREKTOR

Das Jahr 1796

Heinrich Zschokke

Neuerungen im Seminar

Das Schülertribunal

Tätigkeit des Sittengerichts

Zschokke wird hingehalten

Übernahme des Seminars

DIE BEIDEN LETZTEN JAHRE

Aufblühen des Seminars

Zschokke richtet sich ein

Geselligkeit in Reichenau

Projekt eines theologischen Instituts

Lehrmittel für Schulen

Die drei ewigen Bünde im hohen Rätien

SCHLIESSUNG DES SEMINARS

Ökonomische Sorgen

Politische Ereignisse

Liquidation

Auf der Flucht

EPILOG

Zukunft der Herrschaft Reichenau

Tscharners Träumereien

ANHANG

Einleitung
DIE BEDEUTUNG DES SEMINARS REICHENAU AUS HEUTIGER SICHT

Vor 250 Jahren richteten sich die Augen vieler gebildeter, fortschrittlich gesinnter Eidgenossen auf den kleinen Freistaat Gemeiner Drei Bünde an der südöstlichen Grenze der Eidgenossenschaft, genauer nach Haldenstein, wo ein Wunsch in Erfüllung zu gehen schien, den die Helvetische Gesellschaft seit ihrer Gründung im Jahr 1762 gehegt hatte: die Förderung des Bürgersinns unter jungen Schweizern. Vielen Mitgliedern dieses patriotischen Vereins war bewusst, dass das künftige Staatswohl in der Hand der Jugend lag, dass diese Jugend aber zuerst selber staatsmännisch erzogen werden musste, bevor sie die Schweiz im Sinne der Reformer umgestalten konnte.

Die Eidgenossenschaft der dreizehn Orte blickte auf eine ruhmreiche Vergangenheit zurück, die bei jeder Gelegenheit aufs Neue beschworen wurde, aber sie war innerlich erstarrt und zu keiner grundlegenden politischen Veränderung mehr fähig. Zerrissen im Kampf rivalisierender Kräfte und Konfessionen wachten Altgesinnte und Ewiggestrige darüber, dass kein Neuerer die bewährte Politik und ihre Institutionen kritisierte oder die Vormachtstellung herrschender Familien angriff. Die Verfolgung und Bestrafung solcher Ruhestörer blockierte während des 18. Jahrhunderts dringend notwendige Veränderungen und hätte beinahe die Helvetische Gesellschaft in den Abgrund gerissen, die an ihren jährlichen Tagungen in Schinznach Bad das Bild einer erneuerten Schweiz entwarf.

Überraschend trat im Mai 1766 der Bündner Pfarrer Martin Planta vor die Versammlung und schilderte ein Experiment im Schloss Haldenstein, das weitherum seinesgleichen suchte. Die Mitglieder und Gäste lauschten gebannt seinen Ausführungen zu einer Privatschule, in der Bürgertugenden, Gemeinschaftsgeist und Gerechtigkeitssinn gelehrt und praktisch geübt wurden. Nicht zufällig konnte eine solche Schule gerade in Bünden entstehen, wo die (männliche) Jugend von alters her, im Elternhaus, bei dörflichen Veranstaltungen und in Knabenschaften, ans Politisieren gewöhnt war. Im Seminar Haldenstein erhielten die Schüler politische Aufgaben und Führungsfunktionen übertragen, die man der antiken römischen Republik entnahm. Die Wahl in diese Ämter erfolgte auf demokratischem Wege, und die Inaugurations- und Abtrittsreden wurden, wie es in Bünden Brauch war, ebenfalls von den Amtsträgern gehalten. Zahlreiche Staatsmänner erhielten hier ihr Rüstzeug für ihre politische Laufbahn. Wenige Jahre darauf starb Martin Planta; das Seminar zog ins Schloss Marschlins und wurde nach dem Willen des Schlossherrn Ulysses von Salis-Marschlins auf die philanthropischen Ideen Joachim Basedows ausgerichtet, eines damals viel beachteten deutschen Pädagogen, geriet bald ins Trudeln und stürzte 1776 ganz ab.

Nach der Französischen Revolution, in einer politisch hochbrisanten Zeit, wurde in Reichenau die Schule wieder eröffnet, interkonfessionell, vielsprachig und mit Schülern aus dem In- und Ausland. Man erteilte Unterricht in modernen Sprachen, theoretischen und praktischen Fächern, erzog ganzheitlich, zu Toleranz und demokratischem Verhalten und erklärte sich zur Schülerrepublik.

Der Politiker Johann Baptista von Tscharner, Gründer und Kurator des Seminars Reichenau, verpflichtete Johann Peter Nesemann, einen der beiden ehemaligen Direktoren von Haldenstein, zum Schulleiter und richtete die Ausbildung auf künftige Gutsbesitzer, Kaufleute, Politiker und Akademiker aus. Er hoffte, mit dem Schulinternat einflussreichen Bündner Familien eine Alternative zu den damals üblichen Privatlehrern zu bieten. Leider fand auch das Seminar Reichenau nach einigen Jahren ein Ende, als der Zweite Koalitionskrieg der europäischen Grossmächte über die Schweiz und Bünden hereinbrach und die Bevölkerung in zwei feindliche Lager spaltete.

Wenn ich mir nur vorgenommen hätte, eine Studie zum Seminar Reichenau zu schreiben, würde das eine Publikation dieses Umfangs kaum rechtfertigen. Erstens ist es aber mein Anliegen, auch die Vorgänger des Seminars in Haldenstein, Marschlins und Jenins vorzustellen und pädagogikgeschichtlich zu verorten, zweitens möchte ich die politische Geschichte und die Kulturgeschichte Graubündens jener Zeit darstellen und drittens die besondere Situation Reichenaus in historischer, politischer, verkehrstechnischer und ökonomischer Hinsicht aufzeigen. Das Schloss Reichenau stand durch seine Position immer wieder im Brennpunkt politischer Ereignisse und spielte zugleich eine wichtige Rolle im Transportwesen und Handel über die Bündner Pässe.

Johann Baptista von Tscharner – Initiator des Seminars, Miteigentümer der Herrschaft und des Schlosses – machte immer wieder Pläne für Reichenau: Bald sah er es als eine eigenständige Republik, einen Idealstaat, bald als ein wirtschaftliches und kulturelles Zentrum mit Fabriken, Werkstätten und Künsten, ein anderes Mal erträumte er sich Reichenau als Hafenstadt an einer europäischen Wasserstrasse, die von der Nordsee bis nach Italien reichte. Im Tscharner-Archiv, das sich im Staatsarchiv des Kantons Graubünden befindet, schlummert eine Fülle von Material mit allerlei Notizen, Entwürfen und Träumen Tscharners, das nach verschiedenen Richtungen zu durchschiffen und zu durchkreuzen sich lohnt.

DIE HERRSCHAFT REICHENAU UND IHR SCHLOSS

Für unser Thema von Bedeutung ist die Lage von Reichenau am Zusammenfluss des Vorder- und Hinterrheins, am Kreuzungspunkt der Transitwege von Uri über den Oberalppass und von Italien über den San Bernardino- und Splügenpass nordwärts. In Reichenau war es seit dem Mittelalter möglich, auf zwei soliden Brücken die beiden Rheine zu überqueren und Güter und Menschen auf der Strasse nach Chur oder mit Holzflössen bis zum Bodensee zu transportieren. Dadurch wurde Reichenau zu einem bedeutenden Handels-, Zoll- und Warenumschlagsplatz mit Gast- und Zollhaus, Schreibstube, einem Laden, Metzger, Bäcker und Handwerksbetrieben, wo man das Notwendige für eine Reise einkaufen, herrichten und reparieren lassen konnte. Die Gewerbebetriebe waren, anders als in Chur, keinem Zunftzwang unterworfen, was eine grössere Flexibilität bei der Ansiedlung erlaubte, soweit nicht Rechte der umliegenden Gemeinden Tamins und Bonaduz sie einschränkten.

Darüber hinaus war Reichenau eine Herrschaft, das heisst ein ursprünglich sich selbst verwaltender Adelssitz mit Untertanen (sogenannten Herrschaftsleuten), mit politischen und juristischen Privilegien, ja sogar mit dem Recht, Münzen zu schlagen, was dem Weiler mit dem Schloss und der Gemeinde Tamins eine gewisse Eigenständigkeit verlieh. Im Prinzip konnte Reichenau somit seine eigene Politik bestimmen. Das ist auch deshalb wichtig, weil auf Schloss Reichenau, zwei Gehstunden von Chur entfernt, Unterhandlungen stattfanden und Entscheidungen getroffen wurden, von denen man anderswo nichts wusste oder wissen durfte. Während zweieinhalb Jahren, seit April 1796, residierte ein französischer Botschafter auf Schloss Reichenau und ging dort seinen Geschäften nach, während sein österreichischer Kollege traditionsgemäss den Bischofssitz Chur als Standort benutzte. Dass dies nicht ohne Einfluss auf das Seminar Reichenau blieb, wird anhand von Beispielen sichtbar werden.

QUELLENLAGE UND LITERATUR

Über das Seminar Reichenau existiert noch keine eigenständige Schrift, welche die ganze Zeit seines Bestehens abdeckt. Man findet Beschreibungen in den Biografien über Johann Baptista von Tscharner (Alfred Rufer), Johann Peter Nesemann (Benedikt Hartmann) und Heinrich Zschokke (Carl Günther, Werner Ort). Alle Autoren stützen sich hauptsächlich auf den Nachlass Tscharner im Staatsarchiv Graubünden, der aber in dieser Hinsicht unvollständig ist und nur teilweise als objektiv betrachtet werden kann. Das liegt einmal an den Eigentumsverhältnissen der Herrschaft Reichenau, die 1792 von der Speditions- und Handelsfirma S. und J. B. Bavier in Chur und einer Privatperson gekauft worden war. Tscharner war seit 1788 Teilhaber dieser Firma. Als solcher, mit einem Anteil von einem Drittel, musste er sich den Beschlüssen der Mehrheit fügen. 1806 zog er sich daraus zurück und verkaufte seinen Anteil, was zur Folge hatte, dass die meisten Akten bei der Firma blieben, soweit sie nicht schon in den Kriegswirren verloren gegangen waren.

1808 wurde die Herrschaft an eine Bergbaugesellschaft veräussert, die von Reichenau aus den Abbau von Erzen betrieb, aber mangels Erfolg 1815 in Liquidation ging. 1819 gelangte das Schloss Reichenau in die Hand von Hauptmann Ulrich von Planta-Samaden, der es umfassend renovierte. Durch diese Transaktionen gingen ebenfalls Dokumente verloren; im Besitz von Tscharner blieben Abschriften, Entwürfe und Notizen, die oft nachträglich entstanden und subjektiv gefärbt sind. Gleichwohl erlauben manche von ihnen dank ihrer Unmittelbarkeit wertvolle Einblicke in Abläufe, Geschehnisse, Entscheidungsfindungen, in Schwierigkeiten und Streitfälle. Dies muss uns für die Lückenhaftigkeit der uns zur Verfügung stehenden Dokumente entschädigen.

Wir hätten gerne die Verträge und Sitzungsprotokolle der Eigentümer der Herrschaft Reichenau gekannt, die Abmachungen mit Lehrern und Angestellten, die Aufzeichnungen über Schüler, Stundenpläne, Korrespondenzen mit Eltern und Behörden, ökonomische Verzeichnisse, Haushalts- und Rechnungsbücher, Menüpläne, Auskünfte über die Benutzung und Herrichtung von Räumlichkeiten, über Vorfälle usw. Einiges lässt sich aus Briefen an Tscharner, aus dessen Notizen und aus verstreuten anderen Dokumenten rekonstruieren. Wir müssen uns aber stets bewusst werden, dass uns für wichtige Sachverhalte kaum gesicherte und eindeutige Dokumente vorliegen.

Es ist der Wunsch des Autors, das Schicksal des Seminars Reichenau möglichst farbig und anschaulich darzustellen, ohne Kompromisse bei der wissenschaftlichen Genauigkeit einzugehen. Ich werde mich eng an die Fakten halten und nach Möglichkeit die Quellen sprechen lassen, um dem Buch die notwendige Glaubwürdigkeit und Authentizität zu verleihen. Auf Spekulationen und einseitige Deutungen wird verzichtet und Interpretationen werden als solche gekennzeichnet. Um die Lesbarkeit zu verbessern, werden die Zitate zwar im Wortlaut, aber in modernisierter Orthografie und mit bereinigter Interpunktion wiedergegeben. Die Herkunft von Textstellen und Aussagen, die nicht vom Autor stammen, ist in den Endnoten vermerkt; Belege und Abschriften liegen in Kopie und/oder in elektronischer Form vor und werden dem Staatsarchiv des Kantons Graubünden übergeben.

Mein besonderer Dank gilt Thomas Pfisterer, Christian Rathgeb und Gian-Batista von Tscharner in Reichenau für die Ermutigung, dieses Projekt in Angriff zu nehmen, Marius Risi und Cordula Seger vom Institut für Kulturforschung Graubünden für die vorzügliche Betreuung, Peter Jäger, Cordula Seger und Bruno Meier für ihr Lektorat, dem Verlag Hier und Jetzt, dass er diesem Buch eine Heimat geboten hat, nicht zuletzt aber den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Staatsarchive der Kantone Aargau und Graubünden, der entsprechenden Kantonsbibliotheken, dem Rätischen Museum in Chur und der Zentralbibliothek Zürich für die stets freundliche und kompetente Hilfe.

Geschichte der Herrschaft und des Schlosses Reichenau
DAS SCHLOSS REICHENAU IM LAUF DER JAHRHUNDERTE

Wendet man sich vom Bahnhof Reichenau-Tamins, der sich auf dem ehemaligen Zollboden befindet, nach Norden, so ist eine Autobahn zu überqueren, die sich hier ans Ufer des Rheins schmiegt, bevor man in die ältere Geschichte Reichenaus eintauchen kann. Links und rechts überqueren Brücken aus Stahlbeton und Eisen die beiden Rheinarme oder den bei Reichenau vereinten Rhein und zeugen noch heute von der Bedeutung dieses Ortes als Verkehrsknotenpunkt: zu den Bündner Pässen im Süden und Westen, den Strassen und Eisenbahnlinien in Richtung Chur und von dort nach Vorarlberg, ins schweizerische Mittelland und an den Bodensee.

Schon vor Jahrhunderten gab es in Reichenau Verbindungslinien in alle Himmelsrichtungen, die den Ort zur Drehscheibe machten, auch wenn es damals weniger eilig zu- und herging als heute. Eine Urkunde von 1399 erwähnt eine «Zollbrugg» über den Vorderrhein, 1 und 1424 taucht in einem Dokument eine «Brugg zu Rychenow» auf, die den früheren Übergang über den vereinigten Rhein, die Puntarsa bei Ems, ersetzte.2 Wann genau die Brücken erbaut wurden, wissen wir nicht, wohl aber, dass sie eine wichtige Rolle für den Verkehr der Ortschaften rechts und links des Rheins und des Bündner Oberlands mit Chur spielten und dass sie dem Import von Wein, Getreide oder Südfrüchten aus Italien und dem Veltlin nach Bünden und dem Transitverkehr zwischen der Eidgenossenschaft und dem deutschen Reich mit Italien dienten.

Tag und Nacht trafen damals Reiter, Saumpferde, Kutschen und Transportwägen in Reichenau ein, klapperten oder polterten über die beiden Holzbrücken und hielten beim Schloss an, um ihre Ware begutachten und verzollen zu lassen. Die einen fuhren gleich weiter, andere nutzten das Zollhaus, das zugleich Gasthaus und Herberge war, um sich auszuruhen. In der Schreinerei und der Schmiede, die seit dem 18. Jahrhundert hier angesiedelt waren, wurden Reparaturen an den Transportmitteln vorgenommen und im Schlossladen Vorräte oder sonstige für die Reise notwendige Gegenstände erworben. Zudem bestand Gelegenheit, Güter wie Wein, Reis und Tierfelle auf Flösse umzuladen und auf dem Rhein bis zum Bodensee zu verschiffen, ohne den schlecht erhaltenen, holprigen Strassen ausgeliefert zu sein.


1 — Friedrich Salathés romantische Sicht von der Farsch auf Reichenau und das Rheintal Richtung Chur, in Aquatinta gebracht von J. L. Bleuler. Erschien in der «Sammlung von Schweizer Ansichten in verschiedenen Zusammenstellungen» bei Locher in Zürich (um 1845).

Sämtliche Passanten mussten den Brückenzoll entrichten, sogar wenn sie weiter oben, bei Fürstenau, den Rhein passierten, die Reichenauer Brücken anderswo umgingen oder mit Flössen, die in Bonaduz beladen wurden, an Reichenau vorbeizogen. Der Zoll war ein Privileg der Herrschaft, die für den Bau und die Instandhaltung der Brücken und Wuhren (Dämme) verantwortlich war. Noch 1796 musste ein Zöllner, der zugleich Gastwirt und Güterverwalter war, die Abgabe, die auf einem ausgeklügelten Tarif beruhte, überwachen.3 Er geriet mehr als einmal in Bedrängnis, weil viele Reisende sich weigerten, den vollen Betrag oder auch nur einen Teil zu entrichten, und sich auf Ausnahmeregelungen beriefen.4 Dennoch soll der Brückenzoll damals jährlich gegen 1000 Gulden eingebracht haben, 5 die alle Kosten reichlich deckten, zumal die umliegenden Gemeinden für den Brückenbau gratis Holz liefern mussten.6 Erst 1849 wurde dieser Zoll abgeschafft, aber noch 1879 musste der Eigentümer des Schlosses für den Unterhalt sorgen, gegen eine kleine Entschädigung des Kantons, obwohl die Brücken längst schon Teil des öffentlichen Strassennetzes waren. 1880 verschwand dieser alte Zopf und damit das letzte der feudalen Herrschaftsrechte, das auch die Bürger der Nachbargemeinde Tamins einbezogen hatte.

Ehedem bildete Reichenau einen Teil der Herrschaft Hohentrins. Die Herren von Hohentrins waren nach dem Brückenschlag bestrebt, sich durch Gebühren für ihre Auslagen zu entschädigen, und errichteten eine Zollstätte. Als die Burg Trins 1470 abbrannte, zogen Herrschaft und Verwaltung nach Reichenau um.7 1583 wurde die Herrschaft von Rudolf von Schauenstein erworben und 1616 kaufte sich die Gemeinde Trin von ihr frei. Das Restgebilde, zu dem neben Reichenau noch die Gemeinde Tamins gehörte, erhielt jetzt den Namen Herrschaft Reichenau oder Reichenau-Tamins.

Vermutlich bestand vor 1570 in Reichenau nur ein Zollhaus, das, wie schon erwähnt, später zugleich als Gasthaus diente; ein herrschaftliches Schloss wurde wohl erst nach 1616 gebaut.8 1742 ging Reichenau an Johann Anton Buol (1710–1771) über, der sich fortan Buol-Schauenstein nannte. Nach seinem Tod erbte sein Neffe Johann Anton Baptista von Buol-Schauenstein (1729–1797) den Besitz. Am 5. März 1792 verkaufte er Schloss und Herrschaft dem bereits erwähnten Handelskonsortium Bavier in Chur.

Über das Motiv dieses Verkaufs gibt es verschiedene Vermutungen. Geldknappheit könnte eine Rolle gespielt haben. Es wird auch gesagt, Buol-Schauenstein habe befürchtet, «einer blinden Volkswut zum Opfer zu fallen, denn die Gedanken der französischen Revolution hatten auch schon in Graubünden Anklang gefunden».9 Solche Behauptungen sind mit Vorsicht aufzunehmen. Gegen eine akute Verschuldung des Schlossherrn spricht der Umstand, dass die Kaufsumme nicht auf einmal bezahlt, sondern, nach einer grösseren Anzahlung, in jährlichen Raten, auf zehn Jahre verteilt, fällig wurde.

Mit ebenso guter Berechtigung lässt sich auf die berufliche und familiäre Situation hinweisen: Buol-Schauenstein, ein Bündner aus Sumvitg, war Churer Domherr und wurde nach Aufgabe des geistlichen Standes österreichischer Gesandter im Freistaat Gemeiner Drei Bünde, ein Amt, das er von seinem Vater übernommen hatte. 1791 verlor er das Vertrauen der Habsburger, wurde im Juli entlassen und sollte durch den österreichischen Beamten Baron Anton von Cronthal ersetzt werden, 10 der aber noch nicht abkömmlich war. Also wurde Buol-Schauenstein Ende 1791 ad interim wieder mit seinem Amt betraut.11 Es ist einleuchtend, dass Wien angesichts des sich abzeichnenden Kriegs mit dem revolutionären Frankreich auf dem geografisch und politisch wichtigen Posten in Bünden einen Diplomaten ohne Loyalitätskonflikte und Eigeninteressen haben wollte.

Buol-Schauenstein, der im Kaufvertrag vom März 1792 noch als «Freiherr von Riet- und Strassberg, Herr von Reichenau und Tamins, kaiserlich-königlicher Kämmerer, wirklicher Geheimer Rat, ausserordentlicher Abgesandter und bevollmächtigter Minister bei der Republik der Drei Bünde» bezeichnet wurde, stand nun ohne Aufgabe und, was für ihn entscheidender war, ohne Macht da. Da er sich im 63. Lebensjahr befand, wollte er sich wohl der Verantwortung als Schloss-, Herrschafts- und Gutsbesitzer entledigen und anderswo ein Rentnerdasein führen. Dazu sollte ihm der Verkauf der Herrschaft verhelfen.

Zu seinem Entschluss, Reichenau zu verlassen, mochte auch der Umstand beigetragen haben, dass seine Ehefrau, eine geborene Gräfin von Sarntheim, und ihre gemeinsame Tochter Anna Maria beide 1791 in Reichenau gestorben waren. Die beiden Söhne – der eine hatte eine geistliche Laufbahn eingeschlagen, der andere stand als Beamter in österreichischen Diensten – waren gewiss nicht gewillt, im Elternhaus zu bleiben und Schuldner ihres Vaters zu werden oder um des Titels willen ein kostspieliges Schloss zu unterhalten, sich mit Verwaltungsaufgaben herumzuschlagen und in dauernden Reibereien mit den Taminsern zu leben, die zwar gern Forderungen stellten, aber ihre Pflichten als Untertanen nur widerwillig erfüllten.

Wie anderswo kam es auch in den Drei Bünden zu wachsenden Spannungen zwischen der adligen Herrschaft und den Gemeinden, die zwar ihre früheren Untertanengebiete waren, aber auf politischer Ebene grosse Macht ausübten, zu Entscheidungen im Gesamtstaat befragt werden mussten und neben dem Referendums- auch ein Initiativrecht besassen. Schon der Begriff Untertanen war für sie eine Beleidigung; er entsprach nicht ihrem Selbstverständnis als Bürger mit einem Mitspracherecht in Bundesfragen und auf höchster politischer Ebene. Dass das Verhältnis zwischen Schloss und Tamins kein einfaches war, zeigt folgendes Beispiel: Für die Inauguration des Thomas Franz Schauenstein im Jahr 1720 einigte man sich darauf, dass die Taminser ihren neuen Herrn als «hochwohledelgeborenen gnädigen Herrn» anzureden hatten und dieser die Obrigkeit von Tamins mit «wohlgeachtete, ehrenfeste, fürsichtige, insonders vielgeehrte Herren, meine lieben Freunde und getreuen Gemeindeleute».12 Es wollte also jeder als Herr bezeichnet werden, auch wenn es nur einen einzigen «Hochwohl-Edelgeborenen» gab.

Die Gemeinden konnten einem ortsansässigen Adligen das Bürgerrecht verwehren, wodurch er nicht einmal in lokalen Angelegenheiten mitbestimmen konnte, und in Gemeindeversammlungen zählte seine Stimme nicht mehr als die jedes einfachen Bürgers, Bauern, Hirten oder Knechts. Wollte der Herr die Unterstützung einer Gemeinde in Anspruch nehmen, etwa für die Wahl in ein Amt, so musste er den Bewohnern einen Zuber, Saum oder gar ein Fuder Wein ausgeben und die Gemeindeoberen mit einem Festessen und grosszügigen Geschenken günstig stimmen. Ohne solche Erkenntlichkeiten verlief kaum eine wichtige Wahl. Die landauf, landab geläufige aktive und passive Bestechung von Gemeindeoberen, Amtsträgern, Richtern und Syndikatoren, die Manipulation der öffentlichen Meinung, Rechtsbeugung, das Frisieren von Zahlen, Ausstreuen falscher Gerüchte, um den politischen Gegner zu schädigen, die geheimen Abkommen, um sich einen Vorteil zu verschaffen, die Entgegennahme und Weiterverteilung von Pensionen einer ausländischen Regierung und anderes mehr bezeichneten die Bündner schlicht als «Praktiken».

Wie begrenzt die Macht einer Herrschaft war, lässt sich anhand der Urkunden der Gemeinde Tamins zeigen: Bei jedem Herrschaftswechsel musste der neue Inhaber, wenn er den Huldigungseid entgegengenommen hatte, der Gemeinde versprechen, sie in ihren Rechten zu schützen. Beide Parteien stützten sich auf einen 1670 vereinbarten Vertrag (Spruchbrief), der unter anderem vorsah, dass auf Gemeindegebiet ohne Einwilligung von Tamins keine neuen Gebäude errichtet werden durften. Den Rechten der Gemeindemitglieder, etwa ihr Vieh im Frühling und Herbst zum Weiden auf Reichenauer Boden zu treiben, standen kaum noch Rechte der Herrschaft gegenüber. So konnte die Herrschaft zwar Vorschläge für die Bestallung eines Beamten oder Pfarrers machen. Ihn zu wählen, oblag aber der Gemeinde. Bei Uneinigkeit wurde ein unparteiisches Schiedsgericht angerufen, dessen Urteil sich beide Seiten beugen mussten.13

Der Rechtshistoriker Peter Liver beurteilt in seinem Aufsatz «Die staatliche Entwicklung im alten Graubünden» das Verhältnis von Herr und Untertanen so: «Die den Untertanen eingeräumten Rechte waren so umfassend, dass man mit Recht gesagt hat, als Privilegien müssten eigentlich nicht diese Rechte der Untertanen, sondern die wenigen Befugnisse der Herrschaft betrachtet werden.»14

Wie wenig Buol-Schauenstein die weitgehend erodierten Herrschaftsrechte noch bedeuteten, zeigt seine einzige Bedingung beim Verkauf der Herrschaft: dass der katholische Gottesdienst im Schloss weiterhin gewährleistet sein müsse. Bei der ausgehandelten Verkaufssumme wird er von dem Churer Speditions- und Handelshaus kaum einen Zuschlag für die einst prestigeträchtige Herrschaft – immerhin durfte man sich als Eigentümer mit einem Adelstitel schmücken – verlangt und erwartet haben. Es waren schwierige Zeiten für adlige Gutsbesitzer, deren Einkünfte hauptsächlich aus der Organisation von Söldnerdiensten und aus Bestechungsgeldern (Pensionen) fremder Mächte geflossen waren: Beide Quellen sprudelten nicht mehr so reichlich wie früher, und so wurde das Geld unter den führenden Bündner Familien knapp, die gern in einem bescheidenen Luxus lebten, ihr Vermögen aber zum grössten Teil in Grundbesitz investiert hatten.