Ich Bin Doch Nur Ein Kind

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Ich Bin Doch Nur Ein Kind
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#Maipiùsposebambine Initiative
[Keine Kinderbräute mehr]
ICH BIN DOCH NUR
EIN KIND

(Geschichten über Missbrauch und Misshandlung in der verwehrten Kindheit von Kinderbräuten)

Wanda Montanelli

Copyright© 2019 Wanda Montanelli

Erstausgabe: 15. Dezember 2018, StreetLib Write http://write.streetlib.com

Deutsche Fassung 20. Oktober 2020

Übersetzer: Frank Münker

Das Titelbild „Bambina Sposa“ [Kinderbraut], wurde von dem Künstler Michele Zatta im März 2019 erstellt, um das Thema dieses Buches zu illustrieren.

Veröffentlicht von: Tektime - www.traduzionelibri.it

Facebook: https://www.facebook.com/SonoSoltantoUnaBambina/

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieser Veröffentlichung darf ohne schriftliche Genehmigung des Herausgebers in irgendeiner Form oder mit irgendwelchen mechanischen oder elektronischen Mitteln reproduziert, fotokopiert, aufgezeichnet oder anderweitig veröffentlicht werden.

INHALT

KAPITEL I GESCHICHTEN ÜBER KINDERBRÄUTE…………………………………………………….

Von Puppen zu Ehemännern

Die gefolterte Kinderbraut

Maha, von Puppen zu einem Ehemann

Maha und Abdullah, Ehepartner wider Willen

Kinderheiraten in Mexiko. Itzels Geschichte, die mit 14 Jahren heiratete

Nojoud, der Mut zur Scheidung im Alter von 10 Jahren

Khadija, auch eine Kinderbraut, heute eine erfolgreiche Filmregisseurin

Malala Yousafzai, das Nobelpreismädchen

Die Geschichte von Aberash. Der Mut zur Veränderung

Meaza Ashenafi: der Kampf für Frauenrechte

Difret, der Mut zur Veränderung

Ein Film, um die Welt über den mühsamen Kampf gegen Kinderheirat aufzuklären

Ein Petitionsfilm

Girls Not Brides, Welt-Treffen 2018

Junge Menschen sind die Schlüsselfiguren für den Wandel

Memory Banda: Ich heirate, wenn ich will

Männliche Fürsprecher müssen mitmachen

KAPITEL II

ÄNDERT SICH DIE SITUATION FÜR DIE MÄDCHEN?

Die Menschen beginnen zu verstehen

Girls Not Brides und die Partnerschaft mit internationalen Organisationen

Das Engagement der Verbände

Der Weg durch das Parlament

Die einzelnen Resolutionen

Die Verpflichtung der italienischen Regierung am 21. Juli 2014

Burkina Faso, die Regierung sagt „Stopp für Kinderbräute“

Die Gesetzgeber in Honduras verabschieden ein neues Gesetz, das die Ehe zwischen Kindern unter 18 Jahren unter allen Umständen als illegal betrachtet

Der Iran hebt das gesetzliche Heiratsalter für Frauen an

Kinderheirat kostet weltweit Billionen von Dollar

KAPITEL III

DIE PETITIONEN, DIE BESCHWERDEN UND DAS INTERNET ZUR HILFE VON KLEINEN MÄDCHEN

Ein Imam heiratet ein 11-jähriges Mädchen, das Foto löst einen Aufschrei in den sozialen Medien aus und das Internet ist in Aufruhr

Die Kindersklavin

Die Reise nach Italien

Hilfe von einer Freundin

Hameya, die zu Tode gefolterte Kinderbraut

Die Geschichte von Rulima in Indien

Soziale Medien zur Rettung (es gibt im Internet nicht nur Mobbing)

Ein steiniger, gefährlicher Weg

Kinderbräute, Geschichten von illegalen Ritualen, die zum Tode führen

Tansania, verheiratete Mädchen gehen wieder zurück in die Schule!

Ein Schritt vorwärts und das Lob der UNO

Comics, um das Thema für alle verständlich zu machen

Pakistan: Fahrer malen ein Bild des „lernenden Mädchens“ auf ihre Lastwagen, um für das Recht der Frauen auf Bildung einzutreten

Afghanistan, 9-jährige Kinderbräute

Die Strategien von Girls Not Brides

Girls Not Brides, die internationale Organisation gegen Kinderheirat. Die unterstützenden Verbände

DIE INITIATIVEN DER JEWEILIGEN REGIERUNGEN

Eine Resolution gegen Kinderheirat durch das belgische Parlament

Das Gipfeltreffen der nepalesischen Mädchen

(Die seltsame Heirat mit einem Baum)

Die nepalesische Regierung nimmt das Problem in Angriff

Indien erklärt es zum Verbrechen, Sex mit einer minderjährigen Ehefrau zu haben

KAPITEL IV

WEITERE FÄLLE VON MISSBRAUCHTEN MÄDCHEN

Irak, Kinderbräute in Bagdad

„Irak, 9-jährige Kinderbräute“, von Giuliana Sgrena

Mariama, verkauft für 152.000 Euro! Auf Wiedersehen Bildung. Auf Wiedersehen Träume von einem besseren Leben

Der Hinterhalt

Sonita Alizadeh, der Wendepunkt in ihrem Leben: Musik

Wenn Leiden einem die Kraft zum Kampf gibt: Anika, die Aktivistin, die Kinderbräute verteidigt

Kriti Bharti, die 29-Jährige, die über 900 Kinderheiraten verhindert hat

Aisha, von der man sagte, sie sei von Dämonen besessen

Onur, ein Fotograf mit Seele, der sich gegen die Heirat eines Kindes wehrte

 

Ein Radiosender, der der Kinderheirat ein Ende setzen will

DIE IM RADIO ERZÄHLTEN GESCHICHTEN

Salama wurde gezwungen, den Vater ihres Sohnes zu heiraten

Eine verlobte Kinderbraut im supermodernen Mailand, ihre Mutter erhob Einspruch

Noura, zum Tode verurteilt

MALALA YOUSAFZAI

Bei der Tragödie der Kinderheirat geht es nicht nur um menschliches Leid, sondern auch um die Auswirkungen auf die Weltwirtschaft

Kinderbräute und das Glück, zur Schule zu gehen

DIE MAI-PIÙ-SPOSE-BAMBINE-PETITION (KEINE KINDERBRÄUTE MEHR)

Der Petitionstext zum Unterschreiben

Die Unterschriften und das Engagement in sozialen Medien (15. September 2013)

Eine Verletzung der Menschenrechte

Die berüchtigten Fälle von Hina und Kawor

Mehr über die Gesetze in Italien

Die Menschenrechtsverletzung von Frauen und Mädchen

Die Ungleichheit der Geschlechter erzeugt Gewalt

Der Fall von Franca Viola in Italien

Multikulturalität, Rechte und Kulturmangel

Tabelle A: UNICEF Die 20 Länder mit dem höchsten Anteil an Kinderheiraten in der Welt (%)

Tabelle B: Nicht-EU-Einwohner in Italien am 01.01.2013 mit dem Anteil an Kinderheiraten (nach UNICEF)

QUELLEN – LITERATUR

KAPITEL I GESCHICHTEN ÜBER KINDERBRÄUTE

Gewidmet all den tapferen kleinen Mädchen, die sich gegen die Kinderheirat aufgelehnt haben, und allen anderen, die, obwohl sie selbst zur Heirat gezwungen wurden, darum kämpfen, dass ihre eigenen Kinder es besser haben.

Von Puppen zu Ehemännern

Dies sind wahre Geschichten.

Sie geschahen in Ländern, in denen es üblich ist, junge Mädchen zu zwingen, nicht mehr mit Puppen zu spielen, sondern von einem Ehemann beherrscht zu werden, der meistens älter ist, ein Fremder, den die Familie auswählt.

Die gefolterte Kinderbraut

Ein Symbol der Menschenrechte

Die Geschichte von Sahar Gul ist exemplarisch, sie ist ein Zeugnis von unfassbarer Grausamkeit.

Das Bild des kleinen Mädchens, das von ihren Peinigern zur Prostitution gezwungen wurde, ist ein Bild des Leidens: ihre geschwollenen Augen, die Prellungen in ihrem Gesicht, ein verbranntes Ohr, ihre Hände – ohne Fingernägel, weil die niederträchtigen Verbrecher sie ihr ausgerissen hatten – sind von dunklem Schorf und Wunden übersät.

Jeder, der das Foto des kleinen Opfers gesehen hat, verspürte eine Welle der Abscheu und Empörung. Die Öffentlichkeit, die Presse, die sozialen Netzwerke, die Verbände, sie alle haben ihre scharfe Ablehnung und die Verurteilung des Täters zum Ausdruck gebracht.

Sahar Gul weigerte sich, eine Prostituierte zu sein, und wurde dafür gefoltert

Der Grund für diesen Wahnsinn war, dass das kleine Mädchen sich weigerte, eine Prostituierte zu sein. Als kleine Sklavin, die zu einer frühen Heirat gezwungen wurde, wurde ihr schnell klar, dass der Grausamkeit ihres tyrannischen Ehemannes, des Soldaten Gulam Sakhi, keine Grenzen gesetzt waren. Der erwachsene Mann raubte ihr nicht nur ihre Unschuld, sondern war überzeugt, dass er mit ihrem abgemagerten Körper Geld verdienen könnte, indem er sie an seine krankhaften Kameraden verkaufte.

Er schwang sich zum Herrscher über Leben und Tod des Kindes auf und mit Hilfe seiner Verwandten, die genauso grausam und gierig waren wie er selbst, zwang er Sahar dazu, bezahlten Sex mit Männern jeden Alters über sich ergehen lassen zu müssen, um sich so skrupellos zu bereichern.

Die Ehe von Sahar und Gulam ist eine der vielen – zu vielen! – Zwangsehen, die bei nüchterner Betrachtung nichts anderes als Verbrechen von Pädophilen an unschuldigen kleinen Mädchen sind.

Von Anfang an war es die Absicht der gesamten Familie des Soldaten gewesen, Geld damit zu verdienen, seine kleine Frau Perversen anzubieten, damit diese ihren Trieb befriedigen könnten. Dabei scherten sie sich nicht im mindesten um den Widerstand des kleinen Mädchens, ihren Schmerz und ihren ungeheuren Ekel.

Ein unerträgliches Leben, dann ihre Flucht und Rettung

Was passiert in einem Haus, in dem Erwachsene eine Minderjährige gefangenen halten? Und wie fühlt sich ein zwölfjähriges Mädchen, das in der Falle sitzt?

Zuerst war Sahar die Unabänderlichkeit ihrer Situation nicht bewusst. Man hatte ihr gesagt, dass es ihre Pflicht sei zu heiraten, dass es ein natürliches Ereignis sei, die einzige Möglichkeit, in Würde zu leben, wobei der Mann des Hauses für den gesamten Haushalt verantwortlich sei. Sie sagten ihr, dass Frauen das eben tun müssen: heiraten, ihrem Mann gehorchen und Kinder bekommen. Ihre Eltern, vor allem ihre Mutter, zwangen sie dazu, diese Ehe einzugehen. Wie gerne hätte sie eine mitfühlende Mutter gehabt, die sie hätte fragen können, was mit ihr geschieht. Wie all die anderen Männer, die ihren Körper benutzten, in das Bild passten: alte Männer, junge Männer, Fremde, vor denen sie sich ekelte. Die, wenn sie sich ihr näherten, ihr Herz so schnell zum Schlagen brachten, dass sie das Gefühl hatte, es würde zerbersten, oder vor Angst einfach stehen bleiben.

Sie hasste sie. Und sie hasste ihren Ehemann. Sie verabscheute all die Erwachsenen, die ihr die Ehe als eine glückliche Fügung darstellten. Sämtliche ihr gegebenen Versprechen wurden nicht erfüllt. Obwohl sie zur Heirat gezwungen worden war, hatte sie gedacht, dass sie dennoch Zuneigung, liebevolle Gesten, mitfühlende Worte und gute Manieren bekommen würde. Aber nichts dergleichen bekam sie. Sie war eine Gefangene und ihr Mann war ein Peiniger. Er war weder ein Ehemann, noch ein Freund oder Verwandter. Er war ein Brutalo. Ihre Schwiegermutter und ihre ganze Familie waren noch schlimmer als er. Dabei war Sahar erst ein Kind.

Sahar wusste nicht, an wen sie sich unter den Menschen wenden sollte, die in ihrem Haus ein- und ausgingen.

Sie war verzweifelt, wenn sie die unfassbaren Worte ihrer Verwandten hörte, die – jedes Mal, wenn ein Fremder die Schwelle überquerte – darauf bestanden, dass sie sich zur Hure machte. Sie widersetzte sich, sie schrie und weinte, aber ihr Ehemann und ihre Schwiegereltern fanden schnell drastischere Methoden: Sie wandten Drohungen und andere Zwangsmaßnahmen an, um den Widerstand des Kindes zu brechen.

Für Sahar war es unerträglich, mit ihrer Angst, den schlaflosen Nächten und der Furcht zu leben, jeden Tag aufs Neue beleidigt und gedemütigt zu werden. Als ihr klar wurde, dass es in ihrem Leben keine Freiheit und keine Zukunft geben würde, handelte sie.

Eines Tages lief sie weg und bat die Nachbarn um Hilfe: „Sie zwingen mich, Sex mit anderen Männern zu haben!“, sagte sie. „Wenn ihr Moslems seid, dann müsst ihr mir helfen und der Polizei sagen, was sie mit mir machen.“

Die Nachbarn meldeten sofort, was passiert war. Die Polizei griff ein und stellte Gulam Sakhi zur Rede. Der entschuldigte sich und versprach, die Folter Sahars zu unterlassen. Er bat darum, dass das kleine Mädchen nach Hause zurückkehren solle.

Leider schickte die Polizei – nachdem sie Gulam verwarnt hatte – Sahar nach Hause zurück und tat so, als glaubten sie an die Reue des Mannes.

Wenn man es jedoch mit einem Ungeheuer zu tun hat, dann ist es unverzeihlich töricht, ein Kind in seinen Händen zu lassen. In keiner Geschichte jemals, sei sie wahr oder erfunden, hat sich ein Ungeheuer durch eine einfache Verwarnung der Behörden in ein Unschuldslamm verwandelt.

Nach der Heimkehr wurde der Alptraum für Sahar nur noch schlimmer

In einem winzigen Raum in einem kleinen Haus im Bezirk Pol-e Khomri in der Provinz Baghlan (Afghanistan) begann ihre schrecklichste Zeit. Sahar wurde gefoltert, geschlagen, angekettet und ohne Essen in einem Keller eingeschlossen. Verletzt, gedemütigt und unter großen Schmerzen war sie der Grausamkeit ihrer Verwandten hilflos ausgeliefert, die sich wie lupenreine Kriminelle verhielten, bis einer ihrer Onkel sie etliche Monate später besuchte. Diesem Mann fiel sofort auf, dass das Gesicht des Kindes geschwollen war. Ihr ganzer Körper war mit blauen Flecken übersät und ihre Augen waren voller Tränen. Er war entsetzt. Ihm war gleich klar, mit welch unvorstellbarer Grausamkeit er konfrontiert war.

Er beschloss sofort, die Angelegenheit der Polizei zu melden und die Schande öffentlich zu machen.

Er erzählte so vielen Menschen wie möglich und berichtete auch den Behörden über die skandalöse Behandlung des kleinen Mädchens, die mit mittelalterlicher Folter vergleichbar war. Eine so brutale Gewalttätigkeit, dass sie lange Zeit nicht laufen konnte und auf einen Rollstuhl angewiesen war.

Das Bild des gefolterten kleinen Mädchens ging um die ganze Welt. Durch die Berichterstattung in der Presse sah ganz Afghanistan Sahars geschwollenes Gesicht, ihre schwarzen Augen, ihren geschundenen Körper und ihren verzweifelten Blick. Dieser Fall wurde durch Websites, Blogs und soziale Medien, die sich mit den Menschenrechten befassten, zu einer ultranationalen Schande, obwohl die Behörden und die Familie alles versucht hatten, diesen heimtückischen und grausamen Skandal zu vertuschen.

Ein vom Präsidenten eingesetzter Untersuchungsausschuss

Hamid Karzai, der Präsident Afghanistans, ordnete die Bildung eines Untersuchungsausschusses an, woraufhin Sahars grässlicher Ehemann und seine kriminellen Verwandten strafrechtlich verfolgt wurden. Seine Verwandten wurden verhaftet, auch gegen Gulam Sakhi gab es einen Haftbefehl, allerdings war dieser mittlerweile untergetaucht. Aber weil das Urteil im nationalen afghanischen Fernsehen übertragen wurde, gab es nicht viele Orte, an denen sich der Mann verstecken konnte. Das war im Mai 2012. Im Juli wurden die Schwiegermutter, der Schwiegervater und die Schwägerin von Sahar zu zehn Jahren Gefängnis wegen versuchten Mordes verurteilt.

Aber wie konnte überhaupt jemand die absolute Macht über eine Kindfrau haben?

Sahars Geschichte begann im Mai 2011, als sie erst 12 Jahre alt war. Sie wurde für 5.000 Dollar an ihre Peiniger verkauft, die unmittelbar eine Zwangsheirat arrangierten. Dadurch erhielten sie sie alle rechtliche Macht über das Kind.

Der Plan war, sie sexuell auszubeuten und sich von skrupellosen Pädophilen gut bezahlen zu lassen, die sich durch die Einwilligung ihres Mannes nicht von Sahars Tränen und leidenden Blicken abhalten ließen und sie ohne jegliche Gewissensbisse schändeten. Sahar Guls Isolation im Haus dauerte bis zu dem Tag an, an dem ihr Onkel eingriff. Das Einschreiten der Polizei und die Entscheidung von Präsident Karzai führten zu einem Aufruhr in namhaften Zeitungen in aller Welt.

 

The Times verbreitete in ihrer afghanischen Ausgabe einen Artikel unter dem Titel „Lasst uns das tödliche Schweigen über die Stellung der Frau brechen“. Zeitungen, Zeitschriften und Blogs befeuerten die öffentliche Debatte, bis die parlamentarischen Institutionen ein Gesetz verabschiedeten, das „häusliche Gewalt“ zu einem Verbrechen machte.

So begann in Afghanistan ein Prozess der Anerkennung und des Umdenkens in den Teilen der Gesellschaft, die die Macht über Leben und Tod von Ehefrauen immer noch als legitim betrachten, sogar wenn es sich nur um kleine Mädchen handelt. Dies ist zwar ein erfreulicher Anfang, aber das Ende der Geschichte hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack.

Zehn Jahre Gefängnis für die Folterer, die sie aber nicht verbüßen müssen

Obwohl der Fall einen internationalen Aufschrei auslöste, sprach das Gericht die Peiniger nach einer weiteren Anhörung wieder frei, in einem halbleeren Gerichtssaal in Abwesenheit der Gegenparteien und der Ministerialbehörden. Und das obwohl diese zuvor zu zehn Jahren Haft verurteilt worden waren.

Später verurteilte ein Berufungsgericht die Folterer zu fünf Jahren Haft mit der Möglichkeit für das Opfer, Schadenersatz zu fordern.

Während des Prozesses fand Sahar Zuflucht bei den Women for Afghan Women (Frauen für afghanische Frauen), einer Organisation, die sich um misshandelte afghanische Frauen kümmert und ihnen rechtliche Hilfe und die Unterbringung in eigens dafür errichteten Unterkünften gibt.

Am Internationalen Frauentag 2012 wurde in der afghanischen Hauptstadt Kabul ein Internet-Café für Frauen im Namen von Sahar Gul eröffnet.

Mit der Anerkennung durch die Öffentlichkeit und dem Gefühl, das Richtige getan zu haben, sah Sahar für sich einen Hoffnungsschimmer, auch wenn ihre Frustration damit leider nicht vorüber war. Phasen der Hoffnung und der Enttäuschung wechselten sich ab. Ihr war klar, dass der Prozess vor Gericht leider noch nicht abgeschlossen war. Sie hätte gerne auf die weiteren Torturen, Verhöre und Konfrontationen mit denen, die ihr Unrecht getan hatten, verzichtet. Sie litt sehr darunter, ihre Angehörigen wiederzusehen und hoffte immer, es wäre das letzte Mal. Dann entflammte ihre Verbitterung aufs Neue, als ein weiteres Urteil die Freilassung ihrer Folterer anordnete.

Dennoch beschloss Sahar, in die Zukunft zu blicken. Mit der Hilfe neuer Freunde und der – auch psychologischen – Unterstützung des Vereins versuchte das Mädchen, den Schmerz, den sie nie vergessen kann, zu bewältigen. Sie begann zu lernen, fing buchstäblich bei null an, denn zum Zeitpunkt ihrer Heirat war sie Analphabetin gewesen.

Jetzt versucht sie, ihrem Leben eine positive Wendung zu geben. Sie träumt davon, sich politisch zu engagieren, um Maßnahmen und Gesetze zu erlassen, die verhindern, dass andere Frauen so leiden müssen, so wie sie gelitten hat. Sie möchte gerne die erhaltene Hilfe zurückgeben. Sie versucht das Böse zu vergessen, damit es nicht länger Teil ihres Bewusstseins und ihrer Gedanken ist.