Der Parkhausfinne Band 1

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Kapitel 4 – Tannenduft oder Sprühsahne?

Einige Tage später, ausgerechnet am Freitag, den dreizehnten, war es dann auch schon soweit: Es ging nach Berlin. Der Flug an sich dauerte ja nicht lange, aber in der ganzen Zeit, die man auf, am und um den Flughafen herum verbrachte, hätte man fast auch laufen können.

Bärbel wurde beinah von einem Flughafenelektrowägelchen umgefahren, ihr Plüscherdferkel musste zum Sprengstofftest und ihre Schuhe waren auch höchst verdächtig. Und der Gürtel erst! Warum musste man eigentlich nicht gleich ohne Klamotten durch die Torsonde? Da konnte man sich auch die Nacktscannerdebatte sparen.

Clemens hatte ihnen Flüge am frühen Morgen gebucht, wahrscheinlich war das sein persönlicher, kleiner Racheversuch. Bärbel und ihren beiden Mitreisenden war es ganz recht, immerhin konnten sie so Berlin schon ein wenig erkunden.

Nachmittags fuhren sie wie verabredet zum Hotel und trafen im Foyer auf eine unruhige Corinna. „Es gibt ein Problem!“, war das Erste, das sie ihnen entgegenblökte. Die drei Berlinreisegewinnerinnen waren jedoch gut gelaunt und warteten ab, was da nun kommen würde.

„Clemens ist krank und musste zu Hause bleiben!“ Corinna sah aus, als erwartete sie, dass nun alle ‚Oh nein! Oh nein! Der internationale Zahnkongress!’ riefen und sich tief bestürzt die Tränen abtupften.

„Männergrippe oder was Richtiges?“ Bärbel fing sich einen bitterbösen Blick von Corinna ein.

„Und jetzt? Müssen wir jetzt das Zimmer selbst bezahlen?“, fragte Pia alarmiert und bekam ebenfalls einen fiesen Blick zugeworfen.

„Nein. Das geht schon klar. Wir können trotzdem von der Corporate Rate profitieren. Das Haus ist da kulant.“ Corinna nickte gönnerhaft. „Ihr beiden bekommt ein Zimmer zusammen und Bärbel wohnt bei mir.“

Na, das konnte ja heiter werden. Bärbel verkniff sich einen garstigen Kommentar dazu. „Wie war es denn auf dem Kongress?“, fragte sie stattdessen.

Corinna machte ein missmutiges Geräusch. „Ging so. Frag lieber nicht.“

Sie jetzt noch weiter zu provozieren war mehr als riskant, also betrachtete Bärbel das Thema als abgeschlossen. Corinna war immer noch hypernervös und schaute ständig zu den Aufzügen.

„Was ist da?“, erbarmte sich Bärbel zu fragen.

„Was?“, fragte Corinna zurück.

„Da drüben. Du guckst ständig da rüber?“

„Dort sind die Aufzüge.“

„Ach.“

„Ja.“

„Und warum bist du so nervös? Aufzugsphobie?“

Corinna seufzte genervt. „Kennst du Koch und weg?“

Damit hatte Bärbel jetzt nun wirklich nicht gerechnet. „Ja, warum?“, fragte sie.

„Der Finne, der da immer die Außenreportagen macht und auch im Studio mitwirkt, der lief vorhin hier durchs Foyer.“

„Was, Teemu?“, fragte Bärbel in normaler Gesprächslautstärke. In Gedanken fügte sie hinzu ‚der hat mir schon das gesamte Auto zugehaart‘.

„Psssst! Genau.“

„Oh! Den mag ich!“, rief Marie.

„Jetzt seid doch mal leise! Die Rezeption guckt schon!“, zischte Corinna.

„Hui, vielleicht sehen wir den ja noch mal“, sagte Pia leise und beobachtete nun auch die Aufzüge.

Der Abend und der nächste Morgen verliefen ereignislos und ohne Teemusichtung, auch zum Frühstück tauchte er nicht auf. Schade. Wahrscheinlich speiste er in seiner Suite oder in einem extra für ihn angemieteten Thronsaal. Naja, man konnte nicht alles haben. Immerhin waren sie hier in diesem tollen Hotel, welches sie selbst nie gebucht hätten.

Das hier war schon eine Klasse für sich. Alles war sehr modern, ohne Schnörkel. Die Zimmer waren riesig und hatten sogar teilweise Balkons. Morgens hing die Tageszeitung an der Tür, da konnte man sich schon mal erschrecken, wenn man nicht mit Tüten an der Zimmertür rechnete. Corinna hatte die Zeitung natürlich sofort an sich genommen, und sich auch noch eine Börsenzeitung geben lassen, schließlich musste sie informiert bleiben.

Mittags während der Stadtbesichtigung geschah dann das Unvermeidbare. Corinna und Bärbel gerieten aneinander und zwar richtig. Bärbel sagte seit morgens schon kaum noch etwas, da Corinna mehr als allergisch auf ihre gute Laune reagierte. Pia und Marie hatten versucht, diplomatisch zu sein, aber Corinna hatte sich auf Bärbel eingeschossen. Zum Teil konnte Bärbel es sogar verstehen, immerhin war sie schuld daran, dass Corinna sich hier weit unterhalb ihrer üblichen Gesellschaftsschicht bewegen musste und ihr Vortrag beim Kongress war wohl auch nicht so gut angekommen wie erwartet.

Als Pia nachmittags darauf bestand, noch das Brandenburger Tor zu besichtigen, obwohl es zu regnen begann, trennte sich Corinna von den dreien.

Bärbel kam zwar nass und müde, aber gut gelaunt gegen zehn Uhr abends allein ins Hotel zurück. Marie und Pia hatten am Brandenburger Tor zwei Franzosen kennengelernt und wollten unbedingt mit ihnen gemeinsam das Berliner Nachtleben erkunden.

Corinna war schon im Zimmer und sortierte gerade ihre Neuanschaffungen. Auf dem Schreibtisch türmten sich Tüten diverser exklusiver Modelabel, daneben stand das Hotelbügeleisen.

Bärbel hatte gerade ihre Tasche und die Zimmerkarte aufs Bett geworfen und ihre Jacke zum Trocknen aufgehängt, als Corinna sich an ihr vorbeischob und raus auf den Hotelflur ging.

„Bärbel, komm mal, das musst du dir unbedingt angucken!“, rief Corinna.

Was war denn jetzt? Mit einem Seufzen ging Bärbel zu Corinna, die auf dem Flur stand und fasziniert nach links zeigte. Bärbel konnte jedoch nichts Besonderes in dem zugegebenermaßen farblich sehr schön abgestimmten Hotelflur erkennen.

Dann tat Corinna etwas, mit dem Bärbel nie gerechnet hätte: Sie huschte zurück ins Zimmer und sperrte Bärbel aus.

Hallo!? Was sollte das denn? Bärbel stand perplex da und starrte die geschlossene Zimmertür an. Sie klopfte, ohne Erfolg. Egal, das hier war ein Hotel, das würde sich alles klären lassen. Gerade als sie den Aufzugsknopf drücken wollte, hörte sie schräg hinter sich eine Tür aufgehen und drehte sich um. Sie schaute Corinna fassungslos dabei zu, wie sie Bärbels gesamtes Gepäck auf einen unordentlichen Haufen vor der Zimmertür türmte.

„Corinna, was soll das?“, fragte Bärbel und bemühte sich, dabei ruhig zu bleiben.

„Miet dir ein eigenes Zimmer oder zieh in ein anderes Hotel um! Ich hab die Schnauze voll! Du hast mir meinen Trip nach Berlin total ruiniert! Du und deine blöde Wette!“ Corinna schrie fast schon. „Ihr mit euren Autos!“, rief sie noch und knallte die Zimmertür zu.

Bärbel trug ihre Habseligkeiten erst einmal zu dem schnörkellosen Designersofa vor dem Nachbarzimmer. Soweit sie das auf die Schnelle überblickte, war alles vollständig. Corinna reagierte auch in den nächsten Minuten weder auf Klopfen noch auf Anrufe.

Bärbel versuchte, Pia zu erreichen. Die hatte allerdings nur ein backsteingroßes Uralthandy und das war meist nicht an, wohl auch jetzt nicht. Marie reagierte ebenfalls nicht auf ihre Kommunikationsversuche. Und was nun?

Nach diversen Versuchen erreichte Bärbel endlich Marie. Die war bereits mehr als angetrunken und wusste weder wo sie waren noch ob sie heute Nacht überhaupt ins Hotel zurückkommen würden.

Bärbel entschied, im Hotelflur auf dem Sofa zu schlafen. Runter zur Rezeption gehen wollte sie nicht, ein eigenes Zimmer hier im Hotel konnte sie sich nicht leisten und ein anderes Hotel wollte sie sich heute Abend auch nicht mehr suchen müssen. Wenn sie nur halb so schlimm aussah wie sie sich fühlte, nämlich wie ein ausgesetzter Hund an einer Autobahnraststätte, im Regen, würde sie wahrscheinlich noch nicht einmal ein Zimmer irgendwo bekommen.

Sie dachte kurz daran, dass Teemu vielleicht auch noch hier irgendwo im Hotel war. Er war hier natürlich ein gern gesehener Gast, dem man auch nachts um drei noch ein schönes Zimmer anbot, selbst wenn er stockbesoffen und die Tetrismelodie pfeifend vor der Hotelrezeption aufs Gesicht fallen würde.

Bärbel rollte einen Pulli zu einem Kissenersatz zusammen und warf sich einen weiteren als Decke über. Das Sofa war höllisch unbequem. Das stand eindeutig nur zum gut Aussehen hier und war nicht mehr als ein mit schickem Kunstleder bezogenes Holzbrett.

Sie wachte einige Zeit später auf, weil sie jemand ganz sachte an der Schulter rüttelte. Sie ließ die Augen geschlossen und hoffte, dass der Rüttler sie in Ruhe lassen würde.

Wer konnte das sein? Wahrscheinlich ein Hotelangestellter oder ein anderer Gast. Sie stufte beides als kritisch ein. Das Rütteln hörte auf, aber sie spürte, dass immer noch jemand vor ihr saß. Ziemlich dicht sogar. Der roch gar nicht so schlecht, der Rüttler, nach Aftershave.

„Hey.“ Wieder ein Rütteln, nein, eher ein Streicheln an ihrer Schulter, oha. „Was tust du hier?“, fragte er leise. Der Rüttler hatte eine tiefe, sehr angenehme Stimme. Und irgendwie klang sie bekannt. Bekannt?!

Bärbel öffnete die Augen. Vor ihr hockte Teemu und sah sie besorgt an. „Teemu?“, fragte sie verwirrt und war schlagartig wach.

Er grinste entspannt. „Mustanglady, bist du das?“

Bärbel musste schief grinsen und setzte sich auf. „Ja.“

„Was machst du hier vor meinem Hotelzimmer? Nicht, dass ich das nicht gewohnt wäre … aber von dir hätte ich das nicht gedacht“, sagte Teemu auf Englisch. Er lächelte amüsiert. Bärbel erklärte ihm in einem Gemisch aus Deutsch und Englisch, was vorgefallen war. Er sprach zwar mittlerweile sehr gut Deutsch, bei komplexeren Sachverhalten bevorzugte er jedoch immer noch Englisch.

Teemu schüttelte den Kopf und stand auf. „Das ist nicht nett von ihr. Okay, du hast mir geholfen, jetzt helfe ich dir. Komm rein.“ Er nahm Bärbels Tasche und ihre Jacke und ging in sein Zimmer zurück, welches gegenüber Bärbels Schlafplatz lag. Haltet ihn, er hat mein Gepäck gediebt!

 

Teemu kam wieder zurück und blieb, einer galaktischen Lichtgestalt gleich, im Türrahmen stehen.

Bärbel sah ihn an. Erst jetzt bemerkte sie, dass er nur schwarze Boxershorts und ein weißes T-Shirt anhatte, auf dem das Maskottchen der Band abgebildet war, ein besoffener Eisbär. Teemus riesige Füße steckten in gestrickten, sehr delikat gemusterten rot-weißen Socken.

Bärbels Aufmerksamkeit wurde auf seinen rechten Arm gelenkt. Das war der Arm, um den sich unter den Fans unzählige Mythen und Legenden rankten. Teemu hielt ihn seit einiger Zeit immer bedeckt, die gesamte Öffentlichkeit kannte den Finnen seit einigen Monaten nur in langärmeliger Kleidung. Ältere Bilder in T-Shirts gab es zuhauf, neuere jedoch nicht, was den Verdacht nahelegte, dass er sich hatte tätowieren lassen. Seit auf einem unscharfen Handyschnappschuss eines Fans auch unter Teemus linkem, hochgekrempeltem Ärmel ein Schatten entdeckt wurde, hatte hier eine Art Goldgräberstimmung eingesetzt. Es gab viele, teilweise wirklich abwegige Theorien, die in den sozialen Medien Unmengen an leichtgläubigen Anhängern gefunden hatten. Teemu wurde fast in jedem neueren Interview dazu befragt, verriet aber nie etwas. Wahrscheinlich würde er Bärbel erschießen oder zumindest lebenslang wegsperren müssen, immerhin kannte sie nun das wohlgehütete Geheimnis.

Es war tatsächlich eine Tätowierung. Und die war, wie es von vielen Fans vermutet worden war, weder missglückt, noch in irgendeiner Form anstößig oder hässlich, im Gegenteil. Die Tätowierung war genauso wunderschön wie unerwartet. Teemus halben rechten Unterarm und ein Stück seines Oberarmes zierte die dezent bunte und sehr realistische Darstellung eines Fisches. Im Hintergrund sah man einen See, umstanden von Bäumen.

Bärbel war ein wenig überrascht, aber hey, warum nicht. Was für ein Fisch es genau war, wusste sie nicht. Außer mit Fischstäbchen und hin und wieder mal einem Wartezimmeraquarium kam Bärbel selten in Kontakt mit Fischen.

Teemu folgte ihrem Blick, schaute ihr wieder in die Augen und zuckte grinsend mit den Schultern. „Kommst du?“

Da war er wieder, sein niedlicher Akzent. Bärbels Sarkasmuszentrum im Hirn war auch mittlerweile wieder hellwach. Ob sie kommen würde? Naja, so einfach war das nun auch wieder nicht.

Teemu ging einen Schritt zur Seite und machte eine einladende Handbewegung ins Zimmer hinein. Sämtliche von Bärbels Körperfunktionen und Organen erinnerten sich gleichzeitig an ihre Existenz und rannten wild schreiend durcheinander. Vielleicht sogar die Milz. Die Blase nahm es besonders ernst.

Bärbel war nun fast schon übel vor Aufregung, aber sie fand zumindest ihre Sprache wieder, als sie an Teemu vorbei ins Zimmer ging. „Was ist das? Euer Eisbär?“, fragte sie und zeigte auf sein T-Shirt. Den Fisch erwähnte sie lieber nicht, anscheinend lag es Teemu ja sehr am Herzen, ihn vor der Öffentlichkeit zu verbergen.

Es war bestimmt die unerwartete Inanspruchnahme ihres Kreislaufes, auf jeden Fall wollte Bärbel nur auf den Bären zeigen, tippte Teemu aber aus Versehen ganz leicht mit dem Zeigefinger auf die Brust. „Sorry.“

Er lächelte, sah an sich runter und lachte kurz. „Ja, das ist er.“ Teemu schloss die Tür, ging zum Bett und fing an, seine im Zimmer verstreuten Sachen zusammenzuräumen.

Sein Zimmer war so groß wie das von Bärbel und Corinna, nur spiegelverkehrt, Bett rechts. Leider gab es hier keinen Balkon, sonst hätte Bärbel sich ninjamäßig zu Corinna rübergeschwingen können um sich zu rächen. Aber wollte sie das wirklich? Vorhin noch wären ihr hundertelf fiese Strafen für Corinna eingefallen, aber jetzt?

Eigentlich war doch alles in Ordnung. Sie hatte ihr Gepäck und Teemu, total entspannt und mit verwuschelten Haaren, und der gefiel ihr viel besser als Corinna, die Einkaufstaschen bügelte. „Danke, dass ich hier sein darf.“

„Klar, kein Problem.“

„Wieso bist du rausgekommen auf den Flur?“, fragte sie.

„Ich habe gehört Stimmen und dann durch … Loch in Tür geschaut. Manchmal schaffen es Fans bis vor die Hoteltür, aber sie haben nie so viel Gebäck. Gepäck? Als ich später noch mal geschaut habe, hast du geschlafen.“

Teemu lächelte Bärbel an. Ehrlicher als auf den ganzen Fan- und Pressefotos. Mehr wie bei Koch und weg, wenn er vergaß, dass die Kameras liefen. Wenn er mal nicht den Clown spielen musste oder seine Bühnenpersönlichkeit zur Schau trug. Privat war er ihr ungleich sympathischer.

Bärbel ärgerte sich trotz allem immer noch über Corinna. Der Rauswurf aus dem Zimmer ging ihr nicht aus dem Kopf. Klar, die Wette war ein bisschen unfair Clemens gegenüber gewesen. Andererseits – wirklich? Es war müßig, darüber nachzudenken, trotzdem schaffte Bärbel es nicht, ein paar Tränen zurückzuhalten.

Ein kleines Schniefen ihrerseits reichte, um den Finnen auf sie aufmerksam zu machen. Teemu machte ein mitfühlendes Geräusch, es klang wie eine Mischung aus Brummen und Seufzen, und kam zu ihr. Warum kam er so nah? Nicht, dass sie das unangenehm fand, im Gegenteil, aber jetzt war er wirklich nah. Er kam noch näher und umarmte sie.

„Nicht weinen, alles ist gut.“ Er strich ihr mit einer Hand über den Rücken, mit der anderen hielt er sie fest. Meine Güte, hatte der Kerl eine Kraft im heiligen Arm.

Nachdem sie ihren ersten Schock überwunden hatte, umarmte sie ihn zurück, aber sehr vorsichtig. Er war warm, weich und er roch gut. Bärbel seufzte und es kamen ihr erneut die Tränen. Teemus Arme drückten etwas fester. „Es ist okay. Du darfst weinen, wenn du möchtest. Frau im Nachbarzimmer ist böse.“

Bärbel stellte fasziniert fest, dass der private Teemu anscheinend so ganz anders war, als der, für den er sich auf der Bühne ausgab. Da machte er immer eher einen emotionslosen, fast schon arroganten Eindruck. Bärbel drückte ihr Gesicht an sein T-Shirt, heulte drauflos und vergaß total, wer er war. Sie umarmte ihn fest und schniefte.

Bei jeder Umarmung gibt es ja diesen einen Moment, in dem man weiß, jetzt muss man loslassen. Und wenn man es nicht tut, ist das total peinlich. Diese Peinlichkeit blieb ihr gottseidank erspart, den Moment trafen sie beide exakt gleichzeitig.

„Sorry“, sagte sie. Bärbel fühlte sich hundsmiserabel und wischte sich die Tränen ab.

„Es braucht dir nicht peinlich zu sein. Es ist okay. Wirklich.“ Er lächelte freundlich.

„Danke“, sagte Bärbel.

Teemu nickte und räumte weiter seine Sachen in seine Zimmerhälfte, die vordere. Sehr gut, hinten schlafen war immer besser. Bärbel hatte das mal in einer Zeitschrift beim Arzt gelesen. Bei Paaren würde, einem Instinkt folgend, der Mann in Richtung Tür schlafen, um die Frau vor Gefahren zu schützen. Vor einer Herde Mammuts vielleicht, die unbedingt nachts um drei durch die Wohnhöhle der Steinzeitfamilie hindurch wollte. Teemu war also instinktmäßig voll auf der Höhe. Na, das war doch was.

„Wie lange bleibst du noch hier in Berlin?“, fragte er, rollte dabei das ‚r’ sehr schön und räumte weiter.

„Ich fliege morgen früh nach Hause.“

Teemu nickte. „Wo musst du hin? Frankfurt?“, fragte er, während er sein Telefon per Ladekabel an eine Steckdose anschloss.

Dieser Akzent, einfach nur toll. Sie überlegte insgeheim, ihm eine Liste mit Sätzen aufzuschreiben, die er als Sprachmemos für sie sprechen konnte, als Einschlafhilfe zum Beispiel, oder für ihr Navigationssystem. Aber das wäre wohl etwas zu viel verlangt. „Frankfurt, ja. Kann ich ins Bad oder möchtest du?“, fragte sie.

„Nein, klar, geh du zuerst.“ Er hielt ihr sogar die Tür auf. Sehr höflich.

Zum Abstellen des Wassers brauchte Bärbel fünf Versuche, weil sie die ganze Zeit auf die Kosmetiktasche starren musste, die neben dem Waschbecken stand. Wie hieß sowas bei Männern? Equipmentbehälter? Die Tasche war ordentlich, schwarz und fast geschlossen. Der Boden einer Sprühdose schaute mit einem kleinen Eckchen oben heraus. Vielleicht Rasiergel. Oder Schaumfestiger oder Haarspray. Wobei – bei Teemus Frisur konnte man Haarstylingprodukte wohl ausschließen, er schien zurzeit den Zottellook zu bevorzugen. Aber was könnte es denn dann sein? Eventuell war es ja Sprühsahne, für den kleinen Hunger zwischendurch. Oder Tannenduft, um die finnischen Wälder zu simulieren. Wobei, das war abwegig, dann doch eher Sprühsahne.

Als Bärbel die Tür öffnete, war Teemu gerade dabei, ein zweites Set Bettwäsche aus dem Einbauschrank gegenüber des Badezimmers zu zerren. Er drückte Bärbel ein Kopfkissen in die Hand und machte sich daran, ihr auch noch eine Bettdecke zu angeln. Selbst Teemu mit seinen knapp über einsneunzig musste sich richtig strecken, das Schrankfach zu erreichen. Bei der Gelegenheit konnte man sogar ein Stück seines Bauches sehen, hui.

„Wann geht dein Flugzeug?“, fragte Teemu, nachdem er aus dem Badezimmer zurückgekehrt war.

„Viertel vor Acht.“

„Das ist … früh!“ Er verzog das Gesicht.

Bärbel zuckte mit den Schultern. „Ja, ich weiß. Musst du auch morgen weg?“ Sie stellte ihren Handywecker auf halb sechs.

„Ja. Aber später. Du kannst mich wecken, wenn du aufstehst.“

Sie arrangierten ihr Bettzeug und legten sich schlafen. Das Bett war so breit, dass sie sich nicht in die Quere kommen würden, sofern Teemu kein sehr aktiver Rollschläfer war. So spannend das hier war und so gern sie ihn hatte, sie wollte hier auf keinen Fall den Eindruck erwecken, dass sie ihn anmachte. Immerhin hatte er, soweit Bärbel wusste, eine Freundin. Allein der Gedanke, Teemu zum Freund zu haben, war Bärbel ein paar Nummern zu groß, gerade im Hinblick auf den Rummel um seine Person und die vielen Fans.

Sie schlief erst nach einer ganzen Weile ein, ihr finnischer Urzeitverteidiger auf der anderen Bettseite war da weitaus schneller gewesen. Er schnaufte mittlerweile ganz leise und gleichmäßig bei jedem Atemzug, während sie immer noch über den vergangenen Tag nachdachte.

Kapitel 5 – Busgeflüster

Am nächsten Morgen wurde Bärbel durch einen Lichtstrahl geweckt, der ihr genau ins Auge schien. Sie war sofort wach, aber kam nicht darauf, was an dem Lichtstrahl falsch war. Im Bett war es schön warm und um sie herum roch es gut. Teemu drückte sich an sie und schnaufte ihr mit jedem Atemzug ins Ohr. Ihr fiel schlagartig wieder ein, was gestern passiert war und sie schaute vorsichtig unter die Bettdecke.

Aha. Der Herr aus Finnland war wohl Kontaktschläfer. Das erklärte auch den seltsamen Druck auf ihren Bauch. Teemu lag von hinten an sie gedrückt und hatte seinen linken Arm um sie geschlungen.

Sie drehte sich auf den Rücken so gut es eben ging und überlegte, wie sie sich ohne Hilfsmittel befreien konnte. Teemu passte sich ihren Bewegungen an, brummte leise und kuschelte sich weiter an sie. Seine Bartstoppeln kratzten ein bisschen, aber da sah sie jetzt mal großzügig drüber hinweg. Es war ja sehr schön, dass er so zutraulich war, aber, hey, du da! Ich bin nicht deine Freundin!

Schlagartig fiel ihr ein, was hier nicht stimmte. Es war viel zu hell im Zimmer für halb sechs morgens Mitte Februar. Das Flugzeug, in dem sie hätte sitzen sollen, war wahrscheinlich schon längst in Frankfurt gelandet. Und warum hatte ihr Handywecker nicht funktioniert?

„Mmmtt?“, brummte Teemu in ihr Ohr und holte ihre Aufmerksamkeit damit wieder in den Moment zurück.

„Selber Mmmtt. Guten Morgen“, sagte sie.

„Mmmnn?“ Jetzt rieb er auch noch Nase und Mund an ihrem Hals. Aufhören! Schluss! Oder? Bärbel sah Teemu an, seine Augen waren noch geschlossen. Er lächelte seelig und machte ein wohliges Geräusch. Er sah so friedlich aus.

Sie strich unter der Decke vorsichtig mit dem Finger über seinen Arm. Teemu zuckte. Sie startete einen weiteren Kommunikationsversuch und tat, was sie tun wollte, seit sie Teemu das allererste Mal im Fernsehen gesehen hatte. Sie wuschelte ihm einmal richtig genüsslich durch die Haare. Ein Auge kam in Bewegung. Flupp, offen.

„Guten Morgen“, sagte sie noch einmal.

Sein zweites Auge kam hinzu und er war nun so wach, dass er mitbekam, wo und wie und mit wem er da lag. Er ließ sie los, stemmte sich in eine sitzende Position hoch und Bärbel nutzte die Gelegenheit, sich ebenfalls aufzusetzen.

„Huomenta“, sagte er und gähnte. Die finnische Herrlichkeit rieb sich die Augen und griff neben das Bett. Teemu zog die zweite Decke nach oben und schaute Bärbel an, als ob er erst jetzt genau in diesem Moment gemerkt hatte, dass sie nicht seine Freundin war.

 

Auf einer Skala von Eins bis Zehn gab Bärbel ihm eine Zwölf. Sie klopfte sich imaginär auf die Schulter, sein Haardesign hatte sie super hingekriegt, allererste Sahne.

Sie überlegte. Anspringen und ihn zurück ins Bett drücken? Oder ihn an sich ziehen und abknutschen? Nein, besser beides nicht.

„Du hast dein Flugzeug verpasst“, stellte Teemu fest.

„Ja“, sagte sie.

Er grinste bis über beide Ohren. „Soll ich dich zum Flughafen fahren?“

Das kam so unerwartet, dass Bärbel ihm aus einem Reflex heraus ihr Kopfkissen entgegenschleuderte.

Teemu lachte und rettete sich aus dem Bett. Er streckte sich und man sah wieder kurz seinen Bauch, der, wenn überhaupt, nur sehr zart behaart war. Teemus Blick schweifte zur Badezimmertür. „Willst du zuerst ins Bad?“, fragte er.

„Nein, geh du ruhig.“ Bärbel griff nach ihrem Handy, es war schon fast Mittag. So ein Mist.

Der Finne zog sein T-Shirt aus, natürlich auf die extrem männliche Art, die Hände in den Nacken, ins T-Shirt krallen und ziehen. Er ließ es in seine offene Tasche fallen.

Teemu war schick anzusehen so halb nackt. Er war schlank, aber nicht zu dünn, Bärbel fand ihn genau richtig. Sie fühlte sich geehrt, nun in den erlauchten Kreis der wenigen Frauen im gebärfähigen Alter diesseits des Mississippis aufgenommen worden zu sein, die diesen Anblick genießen durften.

Gleichzeitig hatte sie damit auch das zweite Geheimnis gelüftet. Die Tätowierung auf seinem linken Oberarm strahlte vorn in Richtung Schlüsselbein und nach hinten auf sein Schulterblatt aus. Der Hirsch war nicht wie der Fisch auf dem rechten Arm in bunt, sondern in Schwarz- und Grautönen tätowiert. Vielleicht war es auch ein Rentier. Sehr naturnah, der Finne.

Als Bärbel später vom Duschen zurück ins Zimmer kam, kollidierte sie fast mit der finnischen Naturbehörde, die mit dem Handy am Ohr im Zimmer auf und ab ging. Teemu sprach laut und schien eine Meinungsverschiedenheit auszudiskutieren. Auf Finnisch klang das allerdings nicht besonders ernsthaft. Bärbel musste unwillkürlich grinsen, während sie ihre Sachen zusammenpackte.

„Waaaas?“, kam amüsiert von Teemu, der gerade sein Telefon wieder weglegte.

„Das klingt wirklich faszinierend.“ Sie mochte die finnische Sprache sehr gern. Es hieß ja immer, dass Finnisch so schwierig und komplex war, aber es klang zumindest sehr melodiös und harmonisch.

Teemu stieg in eine dunkelblaue Jeans, die, sagen wir mal wie angegossen passte. „Ich habe mit den Jungs gesprochen und mit unserem Manager. Wenn du willst, kannst du bei uns im Bus mitfahren.“

Wie jetzt? Im Bus mitfahren? Welcher Bus? Oder machte er jetzt Spaß? „Wie … wie meinst du das?“

„Du musst nach Hause.“

„Ja …“

„Willst du laufen?“ Teemu nahm ein frisches T-Shirt aus seiner Tasche.

„Nein, natürlich nicht. Ich wollte jetzt runtergehen zum Frühstücken und dann zum Bahnhof fahren.“

„Wir fahren nachher nach München für letzte Autogrammstunde. Frankfurt ist kleiner Umweg, aber ist okay. Wenn du magst, wir können dich mitnehmen. Ich muss mich … ich … habe kein deutsches Wort dafür.“ Er grinste entschuldigend.

„Revanchieren?“, fragte sie. Er überlegte kurz und nickte.

„Ihr wollt mich in eurem Tourbus mitnehmen?“, fragte sie mit Zweifeln in der Stimme.

Teemu grinste. „Es ist nicht unser Tourbus, aber Nightliner. Großer Bus, ja.“

Hatte er sich das auf der Landkarte mal genauer angeschaut? In Finnland mochten drei bis vier Stunden als kleiner Umweg gelten, aber Bärbel fand es schon viel, um eine Person, die man so gut wie nicht kannte, mal eben nach Hause zu bringen. Aber sie wollte sich nicht beschweren.

„Du hast mich gefahren zum Flughafen. Jetzt fahre ich dich zum Flughafen. Flughafen Frankfurt. Du wohnst doch in Frankfurt?“

„Ja.“

„Du kannst mitfahren bis da und wir fahren weiter. Wenn du möchtest. Ist nur Angebot“, sagte er und zog seinen zweiten Schuh an.

Bärbel war so perplex, dass ihr nichts Intelligenteres einfiel als „Ja … okay. Dann … vielen vielen Dank schon mal!“

„Das Gepäck holen wir später“, sagte Teemu und verschwand in Richtung Zimmertür. „Komm, ich habe Hunger!“

Während die beiden auf den Aufzug warteten, fiel Bärbel erneut auf, wie groß Teemu war und sie realisierte, was hier gerade ablief. Sie würde im Bandbus mitfahren und die anderen Jungs würde sie nun auch gleich persönlich kennenlernen, da war sie schon gespannt. Wenn der Rest der Truppe nur halb so freundlich war wie Teemu, dann würde das die Busfahrt ihres Lebens werden. Dieses Angebot von ihm war so … nett. Ihr wurde wieder bewusst, dass er privat ein völlig anderer Mensch zu sein schien als auf der Bühne und im Umfeld der Band.

Sie äugte zu dem Finnen hinüber, der auf seinem Handy herumtippte. Das schlichte, blau-graue T-Shirt und die Jeans standen ihm sehr gut und ließen ihn im Vergleich zu seinem Bühnenimage wie ein anderer Mensch wirken. Ein viel zugänglicherer und bodenständigerer Mensch. Mal abgesehen von der Kleidungsfrage hatte er ihr schon immer sehr gut gefallen, aber seine in Interviews oft abweisend wirkende Art und seine zwar professionelle, aber eher gefühlsarme Bühnenpräsenz hatten ihn Bärbel nie als übermäßig sympathisch erscheinen lassen. Durch Koch und weg hatte sich dieses Bild geändert. Teemu zeigte hier weit mehr Emotionen und brillierte durch sein Talent, Situationskomik für sich auszunutzen. Aber sobald der Moderator primitive Scherze auf seine Kosten machte, die oft genug ganz Finnland mit ins Lächerliche zogen, konnte Teemu sehr still und auch wütend werden.

Der Mensch, den sie seit gestern kennenlernen durfte, war dagegen völlig anders. Er schien ehrlich besorgt um seine Mitmenschen, war zuvorkommend und einfach nur freundlich und lieb. Und, wie es schien, ein ziemliches Kuscheltier. Man konnte sich fast schon in ihn verlieben.

Mit einem melodischen <Bling> gingen die Aufzugstüren auf und Teemu ließ Bärbel gentlemanlike den Vortritt, wobei er sie ganz sanft am Rücken berührte. Die Aufzugskabine kam Bärbel während der nur sehr kurzen Fahrt vor wie eine finnische Sauna mit teemuförmigem Saunaofen.

„Wir essen bei Juha und Arttu“, sagte der Ofen und spähte aus der Sauna heraus auf den Flur. „Sie haben ein größeres Zimmer“, sagte er. Teemu schaute absichernd den Gang hoch und runter, wohl, um zu prüfen, ob die Luft rein war und keine Fans lauerten.

Aha, noch größer. Da gabs bestimmt einen Shuttlebusservice vom Bett zum Bad, und an jeder Kreuzung Hinweisschilder. Schrank rechts, Fenster links. Teemu hämmerte zweimal mit der Faust an die Tür von Zimmer 514, aus dem Stimmengewirr zu hören war.

Die Tür wurde von Juha geöffnet, dem zweiten Gitarristen der Band. Juha war ein Stück kleiner als Teemu und sehr schlank. Bärbel fielen als Erstes seine strahlend grünen Augen auf. Seine braunen, leicht welligen Haare fielen ihm wirr in die Stirn, was ihm die Aura eines Philosophen oder Künstlers verlieh.

„Hei, tervetuloa!“, sagte er mit fröhlicher Stimme und begrüßte Bärbel mit einem festen Händedruck. Er begrüßte auch Teemu und sie diskutierten etwas auf Finnisch.

„So, dann mal los“, sagte Teemu. Er legte Bärbel leicht die Hand auf den Rücken und schob sie vor sich her ins Zimmer.

Der Zimmerservice war schon da gewesen, der Raum war vollgestopft mit hungrigen und essenden Personen. Teemu stellte alle vor und wer konnte und/oder wollte, warf einen Gruß zurück.

Nicht dass Bärbel sich alle Namen hätte merken können, aber es war eine schöne Geste, so, als würde sie zu Teemu gehören. Sogar der Manager der Gruppe war da. Durch seine dunklen, nach hinten gegelten Haare und in Anzugshose und Hemd wirkte er fehl am Platze zwischen den ansonsten sehr sportlich und salopp gekleideten anderen Finnen. Teemu fasste noch einmal den Grund für Bärbels Hiersein für alle zusammen, die meisten schüttelten nur den Kopf und widmeten sich weiter dem Frühstück.

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