Acht Stunden Frist

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Acht Stunden Frist
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Acht Stunden Frist

Walther Kabel

Inhaltsverzeichnis

Acht Stunden Frist.

Die Brahma-Statue.

Impressum

Acht Stunden Frist.

1. Kapitel.

Hinter der Glasplatte.

Wir hatten abends mit Frau Molly und Lord Douglas Erverlyn, Haralds begeistertem Verehrer, auf der Plattform des Ostturmes der früheren Radschaburg gesessen und den Jagderzählungen Erverlyns gelauscht, der einer der berühmtesten Tigerjäger Indiens ist.

Um zehn Uhr sagten wir der liebenswürdigen Hausfrau gute Nacht und begaben uns in den zu unseren Gasträumen gehörigen Salon.

Wir saßen nun zu dreien bei weit offenen Fenstern um einen Tisch herum, den wir dicht an das eine Fenster gerückt hatten. Wir hatten die Beleuchtung nicht eingeschaltet, um das geflügelte Ungeziefer nicht hereinzulocken.

Der Mond stieg über den mächtigen Bäumen des Parkes hoch und schien gerade in unsere Fenster hinein. Unsere Zimmer lagen im ersten Stock. Etwa zwanzig Meter ab stand eine Reihe von jenen Urwaldriesen, die man sonst nur auf den Großen Sunda-Inseln findet. Diese Rasamala-Bäume waren hier eine Sehenswürdigkeit.

Erverlyn wollte mit uns übermorgen nach Norden in sein Tiger-Jagdrevier reisen. Harald schien nun auch vom Jagdfieber gepackt zu sein.

»Was nur die Affen haben mögen,« meinte Harald plötzlich.

Ja — die grüngrauen, munteren Gesellen vollführten jetzt in den Kronen des Rasamalas einen Höllenlärm. Es gab hier im Parke der Bangseys eine Herde von etwa fünfzig Stück. Sie waren mit der Zeit sehr zahm und auch sehr frech geworden, stahlen von der Terrasse, was sie nur stehlen konnten, und kamen sogar häufig ins Haus.

Erverlyn sagte: »Vielleicht ein Ispuna, ein großer Baummarder. Die Ispunas sind Feinschmecker. Sie lieben Affensäuglinge. Aber sie kriegen selten einen.«

Harald, der dem Fenster am nächsten saß, beugte sich heraus.

»Die ganze Gesellschaft sitzt jetzt in den Palmen am weitesten rechts. Das Schnattern ist unerträglich. Ich werde mal einen Schuh abgeben und die Bande verscheuchen. — Schraut, reiche mir doch bitte meine Pistole. Sie liegt dort auf dem Rauchtischchen —«

»Aber Harst,« mahnte Erverlyn. »Ich bitte Sie, Sie werden das ganze Schloß alarmieren. Jetzt in der Nacht ein Schuß! Es ist nach elf Uhr —«

Ich hatte Harald die kleine Waffe schon gegeben.

»Na — vielleicht ist’s auch nicht nötig,« meinte er.

Ich kenne seine Stimme. Kenne jede Veränderung des Tonfalls. Ich wurde aufmerksam. Dieser letzte Satz enthielt mehr, als die Worte besagten.

Ich schwieg jedoch, beobachtete ihn nur. Ich sah, daß seine Augen immer wieder nach derselben Stelle der Baumkulisse vor uns zurückkehrten.

Die uns zugekehrte Seite der Bäume lag im Schatten. Der Mond stand noch tief. Nur die oberen Blattschichten der Kronen schillerten schon im Silberglanz.

Harald hatte die Clementpistole, dieses kleine, unscheinbare Ding, wie spielend in die Hand genommen.

Erverlyn erzählte jetzt von einem Kampfe zwischen Elefant und Tiger in der Wildnis, den er mal beobachtet hatte.

Dann machte er eine Pause und langte nach einer neuen Zigarre. Ein Zündholz flammte auf, und der Lord hielt es gegen die Spitze seiner Zigarre.

So wurde denn Erverlyns Gesicht für einen Augenblick durch dieses Zündholz ziemlich hell beleuchtet.

»Jetzt hat er vielleicht nur noch die Wahl zwischen zweien,« sagte Harst da in gewöhnlichem Tone, weder lauter noch leiser als bisher.

»Was reden Sie da?« fragte der Lord. »Die Wahl? Was soll das?«

»Erzählen Sie Ihre Geschichte zu Ende, Erverlyn,« meinte Harald. »Es darf Sie auch nicht stören, daß sich etwas vorbereitet. Sie müssen sprechen. Ihr helles Organ ist so weit zu hören. Der Mann darf nicht ahnen, daß er bemerkt worden ist. — So reden Sie doch, zum Teufel! Oder haben Sie Ihre Nerven so schlecht in der Gewalt, daß Sie durch meine Andeutungen ganz aus dem Text kommen? — Lieber Alter, Du kannst mal in unser Badezimmer gehen. Hole die dicke Glasplatte, die über dem Waschbecken mit vier Schrauben an der Wand befestigt ist. Frage nichts. Beeile Dich. Nachher gib sie mir unterm Tische durch —«

Erverlyn erzählte schon wieder. Ich tappte im Dunkeln in das Badezimmer. Hier schaltete ich das Licht ein. Ich hatte die Platte in kurzem losgeschraubt. Sie war etwa 80 Zentimeter lang, 60 Zentimeter hoch und gut 2 Zentimeter dick. Sie wog nicht wenig, und es war nachher nicht einfach sie Harald unterm Tische zuzureichen, zumal er wiederholt sagte: »Bitte — ganz unauffällig —«

Erverlyn sprach jetzt ganz mechanisch weiter. Wir hörten auch kaum hin.

Was wollte Harald mit der schweren Glasplatte? — Er hielt sie jetzt auf dem Schoße fest, sagte dann:

»Schraut, zünde Dir eine frische Zigarre an. Tu’ es so, daß Dein Gesicht beleuchtet wird. Reibe zwei Hölzchen dazu an. Der Mann muß Bescheid wissen. Das Mondlicht ist nicht hell genug, um meine Gesichtszüge zu erkennen —«

Ich fühlte jetzt die nervöse Spannung immer stärker; ich wußte: irgend etwas würde sich ereignen! Sehr bald vielleicht.

Erverlyn sagte plötzlich in seiner temperamentvollen Art:

»Verdammt, Harst, — das ertrage ich nicht länger. So schlau bin ich ja auch, herauszufinden, daß da drüben in den Bäumen jemand steckt —«

Ganz dasselbe nahm auch ich an.

»Ein Attentat?« meinte ich kurz.

»Erzählen Sie, Erverlyn!« befahl Harald wütend. »Wollen Sie alles verderben?!«

Er hatte mit einem Male die Glasplatte auf das Fensterbrett gehoben, schob sie etwas schräg, damit der Mondschein sie nicht aufleuchten ließ. Sie stützte sich mit der rechten Kante gegen das Mittelstück des Fensterkreuzes.

Ah — nun begriff ich: Harald wollte sie als Schild benutzen! Er rechnete tatsächlich mit einem Attentat! Daher auch die Bemerkung von dem Schuß; daher die andere über die Wahl zwischen zweien; daher mußte ich zwei Zündhölzer nehmen! Der Mann dort im Baume sollte eben erkennen, wer von uns dreien Harald war.

Erverlyn trank einen Schluck, sagte dann:

»Ich kann nicht mehr wie ein Automat plappern. Mir würgt die Aufregung wie ein Kloß in der Kehle —«

»Rücken Sie etwas nach rechts mit Ihrem Sessel, Erverlyn,« meinte Harald. »Sie sitzen noch zu sehr in der Schußlinie. Der Mann drüben schneidet jetzt vorsichtig Zweige weg. Er tut das recht geschickt. Er wird schießen — fraglos. Die Zweige behindern ihn —«

Dann lachte er laut und rief (natürlich Komödie):

»Erverlyn, Ihre Jagdgeschichten sind mindestens zur Hälfte wahr.«

Der Lord ging darauf ein, lachte ebenfalls. Es klang recht gezwungen.

»Revolver oder Pistole ist zu unsicher auf diese Entfernung,« erklärte Harald nun wieder. »Mit einer Büchse hätte der Kerl schießen können, ohne die Zweige zu entfernen. Er hätte zum Zielen schon eine Lücke gefunden. Also will er eine andere Waffe benutzen —«

»Sehen Sie ihn denn?« fragte der Lord.

»Nein. Ich sehe nur Blattwerk verschwinden und höre Blätterrauschen.«

»Aber bester Harst, vielleicht handelt es sich auch um ganz etwas anderes. Weshalb gerade ein Attentat?! Gewiß, es gibt genug Leute, die Ihnen den Tod wünschen —«

»Ist der Mann etwa zum Horchen auf den Rasamala geklettert?! — Nein, Erverlyn, bis dahin hört er wohl die Stimmen, aber nicht Worte oder Sätze. Und — weshalb schneidet er sich nun einen Ausguck frei? Weshalb ist er auf einem Ast entlanggerutscht, der etwas höher als unser Fenster liegt? Weshalb probierte er erst drei andere Aeste aus? — Der Kerl ist gewandt wie ein Affe. Aber geringe Erschütterungen kann er doch nicht vermeiden. Und die verrieten seine Wege.«

»Was für eine Waffe meinst Du?« fragte ich nun. »Die Entfernung bis dorthin beträgt etwa zwanzig Meter. Und kann man —«

Da — ein Klirren.

Es war etwas gegen die Glasplatte geflogen.

Peng — Peng — Peng — tönten die blechernen Knalle der Clementpistole.

Aus dem Rasamala ein gellender Schrei.

Dann das Krachen von Zweigen.

Erverlyn und ich waren ans Fenster geeilt.

»Zurück — duckt Euch!« brüllte Harald. Und mit rücksichtsloser Kraft versetzte er mir einen Stoß. Ich flog gegen Erverlyn; wir rissen den Tisch um. Und trotz des Polterns und Klirrens der herabfallenden Aschbecher, Gläser und Kannen vernahm ich ganz deutlich vom Park her vier scharfe Detonationen.

»Folgt mir!« hörten wir Haralds Stimme bereits an der Tür.

Wir rappelten uns auf, stürzten ihm nach, eilten die Flure entlang, eine Seitentreppe hinunter, hasteten über den hellen Kiesweg.

Dann, um die Ecke des Ostflügels biegend, prallten wir fast auf Harst.

Er stand, hob warnend die Hand, flüsterte:

»Nicht in den Mondschein hinein. Diese Geschichte ist ernster, als ich dachte —«

Wir lauschten.

»Hört Ihr: ein Auto dort drüben an der Parkmauer. Es jagt davon,« flüsterte Harald wieder. »Es gibt dort nur eine schmale Seitenstraße, die des schlechten Pflasters wegen von Kraftwagen nie benutzt wird. Der Mann, der nach dem Pfeilschuß — denn die Waffe war ein Bogen — die vier Pistolenschüsse abfeuerte, dürfte in jenem Auto entfliehen. Es war eine lange, gezogene Scheibenpistole. Man merkte es am Knall. Hier,« er tupfte sich auf die linke Schulter — »hat eine Kugel die schöne Leinenjacke verdorben —«

 

Ein Streifschuß hatte den Stoff aufgerissen.

»Verdammt!« meinte Erverlyn. »Was können das nur für Schufte sein, die im Auto kommen und —«

»Gehen wir nach,« fiel ihm Harald ins Wort. »Aber — Vorsicht! Mit diesen Leuten ist nicht zu spaßen —«

2. Kapitel.

Hinrichtung um 7 Uhr morgens.

Wir schlichen im Schatten der Bäume und Büsche weiter. Dann hatten wir die Stelle erreicht, die den Fenstern unseres Salons gegenüberlag.

Von der anderen Seite kamen nun auch ein paar Diener herbeigestürzt. Harst schickte sie weg.

Dann fanden wir den Mann, den Harald aus dem Rasamala heruntergeschossen hatte. Unsere Taschenlampen beschienen das hellbraune Gesicht eines Orientalen. Er war in einen dunklen Leinenanzug gekleidet, trug einen Turban und Sandalen.

»Ein Perser,« meinte Harst. »Merkwürdig nur, daß der Turban dem Manne nicht beim Sturz abgefallen ist —«

Der Tote war völlig bartlos und offenbar noch sehr jung.

Wir trugen ihn auf den Kiesweg. Er hatte eine Kugel dicht über dem rechten Ohr in den Schädel erhalten.

Harald kniete neben der Leiche. »Es ist ein Weib,« sagte er leise. »Der Turban ist unter dem Kinn mit einer dünnen Schnur festgebunden. Das lange Haar sollte verdeckt werden —«

Ich merkte ihm an, wie unangenehm es ihm war, nun dieses junge Leben auf dem Gewissen zu haben.

Aber — ich irrte mich. Es war etwas anderes, das ihn so leise und mit so seltsamer Betonung sprechen ließ.

Er hatte den Turban losgemacht. Prachtvolles schwarzes Haar quoll nun darunter hervor und breitete sich nach allen Seiten aus. Dann befühlte er das linke Knie der Toten. Der Stoff der Beinkleider zeigte dort frische rote Flecke.

»Dieses Weib lebte noch, als es von dem Rasamala in die Büsche und auf die Erde fiel,« erklärte er nun lebhafteren Tones. »Erverlyn, Sie wollen ja von mir lernen. — Bitte, weshalb lebte sie noch, als sie den Boden erreichte?«

Der Lord schwieg. Harald schaute dann mich an.

»Das Weib hat zwei Schüsse erhalten,« meinte ich. »Einen ins Knie, den zweiten in den Kopf. Du kannst sie nur einmal getroffen haben. Wäre auch der Kopfschuß von Dir, so hätte sie nicht mehr den Schrei ausstoßen können. Nach einer Kugel quer durch den Schädel gibt ein Mensch keinen Laut mehr von sich.«

»Richtig,« nickte Harst. »Ich hatte auch so tief gezielt, daß ich kaum den Leib treffen konnte —«

Erverlyn fragte jetzt hastig:

»Dann hat also den tödlichen Schuß jemand anders abgefeuert?«

»Ja — der zweite Mensch, der nachher im Auto entfloh. Ich sage: Mensch! Denn es kann auch das ja vielleicht ein Weib gewesen sein —«

Der Lord beugte sich zu Harald herab.

»Um Himmels willen, Harst, — dann hat also dieser zweite —«

»— das Weib für ewig stumm gemacht. So ist’s,« führte Harald den Satz zu Ende. »Bleibt Ihr beide jetzt hier. Ich will mal im Gebüsch nach Spuren suchen —«

Er verschwand in den Sträuchern. Dann kam Frau Molly herbei. Sie war ganz bleich vor Erregung. Ich trat ihr entgegen, ließ sie nicht an die Tote heran. Sie hörte schweigend zu. Ich erzählte ihr ganz kurz, was geschehen war und bat sie, uns im Hause zu erwarten. Harst würde ihr dann wohl näheren Aufschluß über alles geben.

Harald kehrte nach zehn Minuten zurück. Die Leiche wurde in einen leeren Schuppen des Wirtschaftshofes getragen.

»Suchen wir nach dem Pfeil,« meinte Harald. »Er kann nur in den Ranken des echten Weines dort unter den Fenstern hängen geblieben sein.«

Es wurde eine Leiter geholt. Der Pfeil hing tatsächlich in den Ranken. Es war ein Rohrpfeil von ein Meter Länge mit eiserner, dünner Spitze.

Harst wickelte sein Taschentuch um die Spitze.

»Es gibt auch vergiftete Pfeile. Ich wette, dieser hier ist vergiftet,« sagte er in jenem fast schläfrigen Tone, der verriet, daß er mit seinen Gedanken anderswo war.

»Nun fehlt noch der Bogen,« meinte er dann.

Zwei Diener mußten den Rasamala erklettern. Sie fanden nichts. Da stieg auch Harst hinauf.

Der Bogen blieb verschwunden.

Wir gingen nun wieder in das Schloß. Frau Molly saß in der Vorhalle.

»Mr. Harst, das ist ja entsetzlich,« stöhnte sie.

»Entschuldigen Sie mich noch einen Augenblick,« bat Harald. »Ich möchte noch einmal in unseren Salon hinauf —«

Er erschien sehr bald wieder, setzte sich zu uns.

Die große Krone in der Vorhalle brannte. Es war taghell. Erverlyn war noch ganz bestürzt von der Fülle dessen, was er soeben mit erlebt hatte.

»Ich habe die drei Kugeln in der Wand gefunden, die auf uns abgefeuert wurden,« sagte Harst wieder in seiner müden, nachdenklichen Art. Er starrte dabei in das grelle Licht der achtflammigen Krone. »Vier Schüsse gab der Mensch ab. Der vierte tötete das junge Weib, die Bogenschützin. — Eine sehr merkwürdige Sache ist das Ganze. Ich —«

In diesem Moment betrat der indische Pförtner Frau Bangseys die Vorhalle. Der alte Mann wohnte neben dem Parktor in einem kleinen, netten Häuschen.

Er kam schnell näher, verneigte sich mit über der Brust gekreuzten Armen.

»Sahib Harst, es ist eine Dame draußen, die sich nicht abweisen läßt. Sie kam im Auto vorgefahren und hat mich herausgeklingelt.«

Er hielt Harald eine Visitenkarte hin.

Harst las halblaut vor:

Evelyn Trimsay,

Bombay

Edward Street 98.

Das, was auf der Rückseite der Karte mit Bleistift stand, lautete in deutscher Uebersetzung:

»Master Harst! Eine Unglückliche fleht Sie um Hilfe an. Meine Sache duldet keinen Aufschub. Mein Mann wird am 3. Februar morgens hingerichtet. Haben Sie erbarmen mit mir und meinem Elend. Ich bin soeben mit dem Nachtzuge von Bombay eingetroffen. —

Evelyn Trimsay.«

So begann der zweite Teil dieses Dramas.

Harst ließ Frau Trimsay ausrichten, daß er sie sofort empfangen wolle. — Der Pförtner eilte davon.

Frau Bangsey erhob sich. »Ich möchte hier nicht stören, Mr. Harst,« meinte sie taktvoll. »Diese Dame würde vielleicht meine Anwesenheit peinlich empfinden. Auf Wiedersehen —«

Wir drei waren allein.

»Sie können bleiben, Erverlyn,« sagte Harald. »Sie werden ganz sicher hier Zeuge recht seltsamer Dinge werden.«

Er nahm den Pfeil, der auf dem Tische lag, und deckte ein paar Zeitungen darüber. Dann steckte er die kleine Clementpistole in die rechte Jackentasche.

»Harst, Sie mißtrauen dieser Evelyn Trimsay,« meinte der Lord gespannt.

»Ja. Ich muß es wohl. Sie kommt im Auto vorgefahren. Und soeben erst ist der zweite Attentäter im Kraftwagen entflohen. Es waren nur zwei, die über die Mauer geklettert sind. Ein Mann und ein Weib. Der Mann trug braune Schnürschuhe und hatte sehr große Füße. Das Auto hatte am rechten Hinterrade einen ganz neuen Reifen. Beide erkletterten den Baum. Sie hatten eine Leine mit einem Doppelhaken mit. Der Mann wird den Bogen mitgenommen haben. Die Leiche, die von ihm ermordete Perserin, konnte er nicht mehr wegschleppen. Hinter all dem muß ein ganz großes —«

Die Tür knarrte. Auf der Schwelle erschien eine schlanke, hellgekleidete Dame mit einfachem Strohhut. Ein weißer Schleier verhüllte halb ihr Gesicht.

Wir standen auf. Harald ging Frau Trimsay entgegen.

»Ich bin Harald Harst,« sagte er und verbeugte sich. Ich merkte, daß er jede Bewegung der Frau belauerte. Seine rechte Hand steckte zwanglos in der rechten Jackentasche. Aber dort hatte er die Clement. Und sie war fraglos entsichert und der Finger am Abzug.

Die Dame näherte sich zögernd.

»Sie gestatten, daß ich Ihnen meine Freunde Lord Erverlyn und Mr. Schraut vorstelle,« fügte Harst hinzu. »Wollen Sie bitte hier Platz nehmen, Mistreß Trimsay.«

Dieser Sessel war derselbe, den Frau Bangsey vorhin gehabt hatte und stand etwas vom Tische entfernt nach dem Fenster der Vorhalle zu.

Die Dame nahm Platz und schlug den Schleier hoch. Wir hatten uns ebenfalls setzen wollen. Aber wir erstarrten gleichsam vor Schreck.

Unter dem Schleier war ein mageres, faltiges, kittgraues Gesicht verborgen gewesen. Die Augen waren dunkel umrändert und lagen tief in den Höhlen. Dieses Antlitz war wie eine Maske des größten Herzeleids, das je einen Menschen treffen kann.

Unsere Erstarrung wich. Selbst Harst hatte die Frau fassungslos und ebenso regungslos gemustert. Wir setzten uns nun.

»Mistreß Trimsay,« sagte Harald höflich, »wollen Sie uns ganz kurz berichten, weshalb Sie nach Bangalore gekommen sind.«

Seine rechte Hand blieb in der Jackentasche. Er mißtraute also sogar diesem Bilde des Jammers.

»Ich erfuhr erst gestern am 1. Februar mittags, daß Sie hier in Bangalore weilen, Mr. Harst,« begann die Dame mit einer Stimme, die eigentlich gar keinen Ton hatte.

»Weshalb ist Ihr Gatte zum Tode verurteilt worden?«

»Wegen Mordes, Mr. Harst —« Die Worte klangen mehr wie ein Keuchen. Mir lief es wahrhaftig eiskalt über den Rücken. Diese Frau und diese Stimme wirkten wie eine entsetzliche Vision.

»Wegen eines Mordes, den er nie begangen hat,« sprach sie in derselben Weise weiter. Dann streckte sie die Arme gegen Harst aus, schrie urplötzlich wie eine Wahnsinnige:

»Retten Sie einen Unschuldigen! Helfen Sie mir!«

Und dann — dann sank sie vornüber, schlug lang auf den Teppich hin. Sie war ohnmächtig geworden.

»Mein Gott, das ist ja furchtbar,« flüsterte der Lord.

Harald winkte uns zu. Wir waren alle drei aufgesprungen.

Die Frau lag regungslos. Harst stand und schaute auf sie herab, sagte nun laut:

»Erverlyn, legen Sie sie dort auf die Ottomane. Ich möchte mich vorläufig von ihr fernhalten —«

Wie?! Noch immer bei ihm dasselbe Mißtrauen?! Er war mir jetzt geradezu unverständlich. Ich hielt es für unmöglich, daß ein Mensch so Komödie spielen könnte. Dieser Mistreß Trimsay sah man doch an, was alles sie gelitten haben mußte! Diese Ohnmacht konnte nicht erheuchelt sein.

Erverlyn hob die Frau vom Boden auf.

»Armes Weib,« sagte er. »So leicht wie eine Feder!«

Er legte sie auf die Ottomane, nahm ihr Hut und Schleier ab und fühlte nach dem Puls. — »Schwach, aber regelmäßig,« meinte er. »Geben Sie mir doch mal das Schälchen mit den Eisstücken, Schraut —«

Er rieb ihr dann die Schläfen mit dem Eiswasser ein.

»Die Schuhe,« flüsterte Harald dicht hinter mir. »Die braunen Schnürschuhe. Ich habe selten an einer sonst so zierlichen Person so große Füße gesehen —«

Mich traf das wie ein Schlag. — Braune Schnürschuhe! Und der Mensch, der die Bogenschützin ermordet hatte, damit sie ihn nicht verraten konnte, sollte, wie Harald behauptet hatte, ebenfalls braune Schnürschuhe getragen und große Füße gehabt haben.

Frau Trimsay kam schon zu sich. Erverlyn half ihr, daß sie sich aufrecht setzen konnte. Sie schaute sich verwirrt um, meinte dann: »Ach — ich bin wohl ohnmächtig geworden. Das ist mir noch nie passiert. Es war so sehr heiß im Zuge.«

Erverlyn hatte ihr ein Glas Eislimonade gereicht. Sie trank. Dann blickte sie auf Harst, der an den Tisch gelehnt dastand.

»Mr. Harst,« wimmerte sie, »Mr. Harst, wir haben heute schon dem 2. Februar. Und morgen — morgen am 3. um 7 Uhr früh —« Sie schluchzte trocken auf.

»Wann traf der Nachtzug von Bombay hier ein, Mistreß Trimsay?« fragte Harald kühl.

»Mit zwanzig Minuten Verspätung, Mr. Harst. Er sollte um 12 Uhr 10 Minuten hier sein, langte aber erst genau um ½ 1 an. Ich nahm sofort am Bahnhof ein Auto und fuhr hierher.«

»Haben Sie irgend etwas bei sich, das Sie als Mistreß Trimsay ausweist?«

Die Frau starrte Harald an. »Wie — wie, glauben Sie mir etwa nicht, daß ich —«

»Mistreß, es haben sich hier kurz vor Ihrem Besuch sehr merkwürdige Dinge ereignet. — Würden Sie vielleicht einmal nachsehen, ob an der Hacke eines Ihrer Schuhe durch Entlangschrammen an einer scharfen Mauerkante ein fingernagelgroßes Stück des Oberleders, also ein Stück der gefärbten Schicht, abgerissen ist?«

Inzwischen hatte Frau Trimsay schon ein Papier hervorgeholt und hatte es Erverlyn gegeben.

»Da — das ist ein Schreiben des Detektivinspektors Greaper aus Bombay. Er kennt Mr. Harst von früher her. — Mein Gott, ich weiß gar nicht, wodurch ich dieses — dieses Mißtrauen verdiene. Ich —«

Dann bückte sie sich, beschaute ihre Schuhe und sagte zu Erverlyn, den sie wohl für den zugänglichsten und Liebenswürdigsten von uns dreien hielt:

»Bitte, überzeugen Sie sich, Mylord. Meine Schuhe sind zwar nicht mehr schön. Aber — es fehlt nirgends ein Lederfleckchen.«

 

Erverlyn war sehr gründlich. »Nein, es gibt auch keine einzige etwa frisch nachgefärbte Stelle,« sagte er. Er hatte das Schreiben Inspektor Greapers an Harst weitergereicht. Dieser gab es mir jetzt.

Das Empfehlungsschreiben lautete:

»Bombay, den 1.2.19..

Verehrtester Mr. Harst, ich bitte Sie unter Berufung auf unsere alten Beziehungen, sich Mistreß Trimsays freundlichst anzunehmen. Ihr Mann ist hier vor drei Wochen wegen Ermordung des Kaufmanns Tschirukoff zum Tode verurteilt worden. Ich habe die Untersuchung, soweit die Polizei dabei in Betracht kam, selbst geführt. Das Belastungsmaterial ist erdrückend. Robert Trimsay leugnet jedoch hartnäckig, und seine Frau ist von dem Glauben nicht abzubringen, ihr Mann wäre unschuldig. Sie hatte ein Gnadengesuch an den Vicekönig von Indien eingereicht, das jedoch abschlägig beschieden wurde. In letzter Zeit sind nun auch in mir Bedenken aufgestiegen, ob Trimsay wirklich der Mörder ist. Ich habe ihn noch wiederholt im Gefängnis besucht und gerade da den Eindruck gewonnen, der Mann müsse ein reines Gewissen haben. Die Hinrichtung ist nun auf übermorgen früh festgesetzt. Nach hiesigem Recht kann aber jeder Delinquent noch eine Frist von acht Stunden gewährt werden, falls er nachweist, daß er noch wichtige Familienangelegenheiten zu ordnen hat. Ich würde meinen Einfluß gern geltend machen, diese acht Stunden Aufschub zu erwirken. Sie hätten dann, da Frau Trimsay durchaus persönlich Sie sprechen will und daher nach Bangalore reist, noch etwa 12 Stunden hier zur Verfügung. Ob es Ihnen da gelingen wird, etwas für Robert Trimsay zu erreichen, ist ja wohl sehr zweifelhaft. Sollten Sie mit dem Morgenzuge von Bangalore abreisen, also hierher kommen, so bitte ich um telegraphischen Bescheid. — Ich bin mit Gruß Ihr ergebener — Greaper.«

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