Wahre Kriminalfälle und Skandale

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

Scheinbar ruhig und gelassen steht der Vater von zwei Kindern neben seinem Verteidiger. Doch der erste Eindruck täuscht. Das Kesseltreiben der bayerischen Justiz gegen den Arzt, der vielen Frauen in ihrer Not geholfen hat, war erfolgreich. Zum 1.Januar dieses Jahres hat Theissen seine Praxis aufgegeben. Sein Haus musste er bereits vor einem Jahr verkaufen, um gegen eine Kaution von 300.000Mark wieder freigelassen zu werden. Umsonst waren die Briefe vieler Frauen an die unerbittlichen Richter: „Nehmen Sie uns nicht diesen Arzt weg!” Die Richter aber hatten bereits bei der Ärztekammer nachgefragt, ob nicht ein vorläufiges Ruhen der Berufserlaubnis für Theissen beschlossen worden sei. Aber nicht nur der Arzt steht wie im Mittelalter am Pranger. Vor allem die Frauen werden bei dieser Memminger Hexenjagd immer wieder vor den Richtertisch geschleift. Nachdem viele von ihnen bereits wegen Abtreibung zu Geldstrafen von 900 bis 3000 Mark verurteilt wurden, müssen sie und ihre Männer auch noch als ZeugInnen erscheinen und gegen den 50jährigen Arzt aussagen.

„Fragen Sie mich nicht”, winkt Richter Heinrich genervt ab. Selbst das Gericht scheint in diesem Mammutprozess den Überblick verloren zu haben, wie viel Frauen bereits vernommen wurden. „Rund 40”, so die vage Auskunft. Immer wenn das abgegriffene Pappschild mit der in altdeutschen Buchstaben aufgemalten Schrift: „Öffentlichkeit ausgeschlossen” an der Tür hängt, muss sich drinnen im Gerichtssaal eine Frau peinlichen Fragen unterziehen.

Ein Mann horcht an der Tür. Seit über einer Stunde wird seine Frau bereits vernommen. „Was wollen die von mir, ich sag’ kein Wort”, tobt er auf dem Gang. Auch er soll als Zeuge vor Gericht aussagen. Doch so weit kommt es nicht. Da er nicht der „Schwängerer” war, so das Amtsdeutsch, verzichtet das Gericht auf seine Aussage. Für die Frau ist das Drama perfekt. Von der Abtreibung vor der Heirat hatte sie ihrem Mann nichts erzählt. In einem ähnlich gelagerten Fall hat der Mann daraufhin die Scheidung eingereicht. So werden durch die Schnüffelei des Gerichts Ehen zerstört und Familien auseinandergerissen.

Soziale Not zwingt die Frauen vielfach zur Abtreibung. Besonders das Schicksal der Ausländerinnen ist hart. Ein weiteres Kind können sie sich im wahrsten Sinn des Wortes vielfach nicht leisten. Unverheiratet, geschieden, verschuldet und arbeitslos, so die häufigsten Motive, die die Frauen zu diesem Schritt gezwungen haben. Für den Frauenarzt sind ihre Aussagen die Bestätigung dafür, dass seine Entscheidung richtig gewesen ist, dass die Voraussetzung für eine soziale Indikation gegeben war.

Und auch die Memminger Richter haben sich bisher noch in keinem Fall geäußert, ob eine Notlage vorlag oder nicht. Wie schwierig indes die Beurteilung einer Notlagenindikation nach Paragraph218 grundsätzlich ist, da die Kriterien nicht eindeutig festgelegt sind, betonten bisher sämtliche Gutachter vor Gericht. Insbesondere zweifeln sie daran, dass die Beratungssituation nach Jahren vor Gericht rekonstruierbar ist. Mit den Gutachtern hatte das Gericht also bisher kein Glück. Selbst der konservative Arzt, Diplompsychologe und Abtreibungsgegner aus Freiburg, Walter Schuth, verwies ausdrücklich auf die Grenzen der Beratungsmöglichkeit. „Mir geht es darum, dass die Frau die Entscheidung trifft”, stellte er fest. In seiner langjährigen Praxis habe er es noch so gut wie nie erlebt, dass eine Frau von ihrer Entscheidung abzubringen war. Doch auch das focht das Gericht nicht an.

Da bei Theissen viele Ausländerinnen Patientinnen waren, referierte der Rechtswissenschaftler Hans-Georg Koch vom Max -Planck Institut Freiburg zur Abtreibungspraxis in den verschiedenen europäischen Staaten. Die Regelungen sind

sehr unterschiedlich, stellte er fest. So ist in Griechenland der Schwangerschaftsabbruch bis zur zwölften Woche erlaubt, während in Spanien ein striktes Indikationsmodell gilt. Immer wieder verwies er darauf, dass die „Verfolgungsintensität” in Ländern wie Jugoslawien, Griechenland und selbst Italien gering ist. Bemerkenswert: selbst das abtreibungsfeindliche Italien hat ein Fristenmodell von 90 Tagen. Bei einem Schwangerschaftsabbruch innerhalb der ersten 90 Tage werden lediglich Verfahrensverstöße geahndet. Die Zahl der Abtreibungen in den Niederlanden, dort ist der Abbruch straffrei, ist im Vergleich zur BRD und Italien gering. Während in den Niederlanden auf 100 Geburten 9,2 Abbrüche fallen, sind es in der BRD rund 30, in Italien sogar 40, so die Studie von Koch.

Stur wurde das Verfahren durchgezogen, und sämtliche Befangenheitsanträge der Verteidigung wurden vom Tisch gefegt. Vom Gericht abgeschmettert wurde auch die Forderung der Verteidigung, die restlichen 1.500 PatientInnenkarten an Theissen zurückzugeben, die bei der Durchsuchung seiner Praxis beschlagnahmt wurden.

Diese Unterlagen, will der ehrgeizige Staatsanwalt Herbert Krause nicht rausrücken. Der 35jährige, der bei seiner Mutter wohnt, will daraus möglicherweise Rückschlüsse auf die in der Anklage erfassten Fälle ziehen. Eigentlich sollte in diesen Tagen bereits das Urteil verkündet werden. Der Prozess zieht sich jedoch weiter hin.

Schon zweimal stand Mechthild S., 39, vor den Richtern im Memmingen, weil sie 1985 bei dem Frauenarzt Horst Theissen hatte abtreiben lassen, ohne den vorgeschriebenen Instanzenweg einzuhalten. Vor einem Jahr, im Februar 88, wurde sie von einem Amtsrichter zu 2.400 DM Geldstrafe verurteilt. Nun stand sie vor dem Landgericht: diesmal als Zeugin im Prozess gegen den Arzt.

Hauptsächlich wurde sie zu ihrer finanziellen Situation befragt. Dazu sagte sie: „Sie (das Gericht) wollten wissen, wie hoch die Schulden waren, wie viel ich verdient habe, ob ich ein Auto hatte. Im Zusammenhang mit meiner Berufstätigkeit wurde ich gefragt, wie weit meine Arbeitsstelle entfernt war. Die 22 km waren dann wohl ausreichend, damit ich ein Auto besitzen durfte. Bereits am Anfang der Vernehmung erwähnte ich, dass unsere Partnerschaft zu dieser Zeit in einer tiefen Krise war. Da wollten sie wissen, ob es Trennungsabsichten gab - was ich bestätigt habe. Was sie auch sehr interessierte, war die Behandlung bei Dr. Theissen. Wie lange die Gespräche zwischen uns dauerten, wie oft ich dort war und ob er mich auf den regulären Instanzenweg hingewiesen hat. Und das hat er getan. Abbruch und Notlage, das hat die nicht interessiert. Schon bei meiner Verhandlung damals vor dem Amtsgericht habe ich immer wieder versucht, das deutlich zu machen, aber meine persönlichen Gründe interessierten nicht. Mir ist aufgefallen, dass sie mehrmals die gleiche Frage wiederholten und sich z.B. bestätigen ließen, dass ich keine Indikationsstellung von einem anderen Arzt hatte, dass ich bei keiner Beratungsstelle war und Herr Theissen dies auch nicht ausdrücklich von mir verlangte. Mein Eindruck war, dass es ihnen nur um das Finanzielle ging und es ihnen peinlich war, wenn ich etwas Persönliches erzählte. Wenn ich damit anfing, wurde ich unterbrochen, und man kam zurück zu streng Sachlichem. Mir ist auch aufgefallen, dass sie mich niemals direkt anschauten. Als ich reinkam, starrte jeder nur vor sich hin. Der Staatsanwalt schaute sogar an mir vorbei, wenn er eine Frage an mich stellte, und wenn ich ihn anschaute, wandte er sich ab. Mein eigener Prozess damals vor dem Amtsgericht hat mich sehr stark belastet. Verglichen damit war die Zeugenaussage im Theissen-Prozess einfacher. Damals vor dem Amtsgericht war es ein sehr langer Termin, ich musste detailliert meine Verhältnisse vor großem Publikum offenlegen. Auf den Zuschauerbänken saß eine ganze Mädchenschulklasse. Heute bei der Zeugenaussage fühlte ich mich souveräner, und es dauerte nur zirka eine halbe Stunde. Ich hätte mir sogar gewünscht, dass Öffentlichkeit dabei gewesen wäre.“

März 1989: Auf den Tag genau ein halbes Jahr schon dauert dieser größte Abtreibungspozess in der Geschichte der Bundesrepublik. Über 80 Zeuginnen sind bisher verhört worden, 70 warten noch darauf, dass sie über ihre finanziellen und privaten Verhältnisse ausgefragt werden. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit – um sie zu schützen, sagen die Richter des Landgerichts. Mit ihren oft zynischen Fragen hätten sie aber auch selber Grund, die Öffentlichkeit zu scheuen.

Sie trieb ab, weil sie nicht von ihrem Ehegatten, sondern von einem anderen Mann schwanger war. Das weiß Richter Detlef Ott, damals 37, schon aus der Anklageschrift. Aber ihm genügt das nicht. Von der Zeugin will er mehr wissen. „Sind Sie sich denn sicher, dass Ihr Mann nicht der Vater war?” Die Angesprochene, fahrig und nervös, muss nun den drei Richtern und zwei Staatsanwälten Auskunft darüber geben, dass sie schon lange nicht mehr mit ihrem Mann geschlafen habe. Er habe auch kein Interesse mehr an ihr gehabt, da hätte sie schon „etwas initiieren” müssen.

Richter Ott: „Und wenn Sie etwas initiiert hätten - meinen Sie, Ihr Mann wäre beim Nachzählen dahintergekommen?”

Richter Ott profiliert sich als Scharfmacher in dem Prozess gegen den Frauenarzt Horst Theissen. Den in Bayern zu einem Hürdenlauf ausgebauten Instanzenweg zu einer legalen Abtreibung nach der Notlagenindikation hatte Theissen seinen Patientinnen häufig erspart. Wenn er in einem langen Gespräch zu dem Eindruck gekommen war, dass eine Notlage vorlag, nahm er den Abbruch vor - ohne auf der vorgeschriebenen Sozialberatung und der Indikationsstellung durch einen anderen Arzt zu bestehen.

Eine Zeugin sagt aus, ihre Schwangerschaft sei aus einer Zufallsbekanntschaft entstanden, die nur wenige Wochen gedauert habe. Den Mann habe sie später nicht mehr gesehen, sie habe deshalb auch kein Kind von ihm haben wollen. Richter Ott, der mit dem Charme von Schweinchen Dick auf der erhöhten Richterbank sitzt, will es genau wissen: „Wie lange hat's gedauert, Wochen oder Monate?

Die Zeuginnen werden unter Ausschluss der Öffentlichkeit vernommen. Dadurch soll ihre Intimsphäre geschützt werden, allerdings ist damit das Gericht auch vor der Kontrolle durch die Öffentlichkeit geschützt. Über ihre Abtreibung, die mehrere Jahre zurückliegt, müssen sie vor der rein männlich besetzten Richterbank und vor den beiden Staatsanwälten Rechenschaft ablegen. Dabei haben sich der Vorsitzende Richter Albert Barner, zusammen mit den Staatsanwälten Herbert Krause, damals 34, und Johann Kreuzpointner, damals 35, einen ganz eigenen Fragenkatalog zusammengestellt. Danach wollen sie beurteilen, ob die Frau in einer Notlage gewesen ist. Ob sie Schulden gehabt hätte, wird jede Zeugin gefragt, und wenn ja, wie hoch diese gewesen seien. Die Zeugin hat das schriftlich zu belegen. Richter Ott nimmt dann seine Brille ab und prüft die Belege der Bausparkasse, des Kreditinstituts und den Einkommenssteuerbescheid.

 

Bereits standardisiert sind die Fragen nach Zustand und Qualität der Partnerschaft. Da wollen die Richter nicht nur wissen, ob die Beziehung zur Zeit der Abtreibung ineiner Krise gewesen ist, sondern auch, ob die Zeugin sich mittlerweile wirklich von ihrem Mann getrennt hat.

Zum Schluss darf dann die Frage nicht fehlen, ob die Zeugin das Kind nicht bei ihrer Mutter, Großmutter oder vielleicht bei ihrer Schwester hätte unterbringen können. Verneint sie dies, so muss sie - falls sie nicht verheiratet ist - sich vorhalten lassen, warum sie das Kind nicht zur Adoption habe freigeben wollen. Eine Zeugin bekommt schon nach wenigen Minuten im Gerichtsaal einen Weinkrampf. Der Antrag von Rechtsanwalt Jürgen Fischer, der neben Sebastian Cobler und Wolfgang Kreuzer den angeklagten Arzt verteidigt, auf eine kurze Pause wird vom Vorsitzenden Richter abgelehnt. Er ist sichtlich überfordert, will auf die Gefühlslage der Zeuginnen keinesfalls eingehen, sondern diese Vernehmungen nur hinter sich bringen. 80 Zeuginnen wurden mittlerweile schon vernommen, über 70 hat er noch vor sich. Je nachdem, wie selbstsicher oder ängstlich eine Zeugin, wie hoch ihr Bildungsstand und ihr sozialer Status ist, wird sie von Richtern und Staatsanwälten höflich oder herablassend und zynisch behandelt. Gleich zu Beginn der Zeuginnenvernehmungen holte man sich die türkischen Patientinnen von Theissen in den Zeugenstand. Eine 39jährige Türkin, verwitwet mit zwei Kindern, die von einem verheirateten Landsmann schwanger war, fragten die Richter in Buchhaltermanier nach der Größe ihrer Wohnung, ihrem Lohn und ihren Schulden. Außerdem wollte man wissen, ob nicht die Nachbarin auf das kleine Kind hätte aufpassen können. Aber weder Richter noch Staatsanwalt kam in den Sinn, sie zu fragen, welche Schande es für eine Türkin bedeutet, ein uneheliches Kind zu haben.

Stattdessen fahndeten die Staatsanwälte nach dem Mann, dessen Namen die Frau nicht preisgeben wollte. Erfolgreich. Während die Frau zur Arbeit war, fuhr die Kripo zu ihrer Wohnung und fragte ihre Tochter, wie der Freund der Mutter heiße. Kurz darauf tauchte die Polizei in seiner Wohnung auf und überreichte ihm eine Ladung vor das Landgericht. Einen Tag später stand er dort im Zeugenstand.

Während am Landgericht der Theissen-Prozess läuft, finden vor dem Amtsgericht - von der Öffentlichkeit fast nicht beachtet - noch immer Prozesse gegen Frauen und Männer statt, denen ein Verstoß gegen §218 vorgeworfen wird. 139 Frauen wurden mittlerweile rechtskräftig verurteilt und mussten Strafen bis zu 3.200 DM bezahlen.

Eine Memminger „Spezialität” sind dabei die Ermittlungen und Verurteilungen wegen „Beihilfe zum illegalen Schwangerschaftsabbruch”. Ahnungslos hatten die Frauen bei den Verhören durch die Kripo oder vor dem Richter ausgesagt, dass ihr Freund oder der Ehemann (manchmal auch die Freundin) ihnen die Adresse von Theissen gegeben, dass er sie in die Praxis gefahren und z.T. auch die 600 DM für den Abbruch mit bezahlt habe. Niemand klärte zum Beispiel die Ehefrauen auf, dass sie ihren Angetrauten nicht zu belasten brauchten und die Aussage hätten verweigern können.

Einer der wenigen, der nicht stillschweigend zahlte, sondern gegen den Strafbefehl Einspruch einlegte, war ein 25jähriger arbeitsloser Kaufmann. Nun wurde er zu 800 DM Geldstrafe verurteilt und ist jetzt vorbestraft.

Als seine Freundin 1984 schwanger war, lebte sie als Studentin noch bei den Eltern. Er hatte gerade seine Ausbildung abbrechen müssen, weil der Betrieb der Eltern vor dem finanziellen Ruin stand. Dazu der Staatsanwalt während der Verhandlung: „Dann waren Sie also arbeitslos, da hätten Sie doch Zeit gehabt, sich um das Kind zu kümmern.” Der Angeklagte, der heute eine hochverschuldete Videothek betreibt, versichert immer wieder, ihm sei nicht bewusst gewesen sei, dass er sich strafbar mache. Seine Freundin habe ihm gesagt, der Arzt Theissen habe eine soziale Indikation ausgestellt. Der Staatsanwalt: „Sie selbst haben wohl am besten gewusst, dass keine Notlage bestand.”

14 rechtskräftige Urteile wegen „Beihilfe” gibt es mittlerweile in Memmingen. Sechs Ermittlungsverfahren sind noch nicht abgeschlossen, drei davon laufen gegen Ärzte.

Sie hatten ihren Patientinnen den Namen Theissen genannt.

Passantinnen in der Fußgängerzone der Memminger Innenstadt: „Man soll dia Fraun doch in Ruah lassn”, eine 60jährige Memminger Hausfrau erzürnt sich über den Theissen-Prozess und wie mit den Zeuginnen da „umgsprungen” wird. Auch den Arzt solle man „in Ruah lassn. Dia Fraun sind doch zu ihm komma, da hat er ihna doch helfa müssa.” Auch die 32jährige Hausfrau mit zwei Kindern, der das obligatorische „Abtreibung ist Mord” schnell und selbstverständlich über die Lippen kommt, findet, „dass man das nicht alles an die Öffentlichkeit zerren sollte”.

Noch weniger Verständnis haben die Memminger Bürger und Bürgerinnen für die Verurteilung von Männern wegen „Beihilfe”. „Ja mei, Frau und Mann ghörn doch zamm”, vermag man darauf nur noch zu antworten.

Diese Stimmung ist neu. Zu Beginn des Prozesses fanden viele MemmingerInnen das Verfahren durchaus rechtens. Hierzulande ist man streng katholisch und wählt CSU. Aber mittlerweile hat der Abtreibungsprozess den guten Ruf des sauberen Allgäustädtchens schwer geschädigt und man ist der großen öffentlichen Aufmerksamkeit überdrüssig. Selbstverständlich bleibt für einen braven Katholiken Abtreibung Sünde, aber er würde darüber lieber auf Erden stillschweigen und alles übrige dem Richter im Himmel überlassen.

Einen beachtlichen Anteil an diesem Stimmungsumschwung haben die Frauen des Memminger Frauenzentrums. Als die Prozesswelle vor einem Jahr ins Rollen kam, gründeten zwölf Frauen eine Gruppe zum §218 und leisten seitdem oft mühselige Überzeugungsarbeit vor Ort. Bei der letzten bundesweiten - Demonstration im Februar waren dann tatsächlich mehr MemmingerInnen denn je unter den Marschierenden. Und das in einem Ort, wo jeder jeden kennt und wo man schnell in Verdacht kommt, für „den Mord am ungeborenen Leben” zu sein.

Die Arbeit dieser Frauengruppe zielt aber nicht nur auf die Köpfe. Von Anfang an wollten sie die verfolgten Frauen auch praktisch unterstützen. Ein schwieriges Unterfangen in dieser Stadt, in der die Frauen, eingeschüchtert und beschämt, kaum jemals offen zugeben, abgetrieben zu haben. Woche für Woche inserierten deshalb das Frauenzentrum und der „Treff für ausländische Frauen” gemeinsam in den beiden Lokalzeitungen. In einer großen Anzeige boten sie den Frauen, die in die Abtreibungsprozesse verwickelt waren, ihre Unterstützung an. Zuerst war die Resonanz darauf spärlich. Aber mittlerweile haben es 35 Frauen gewagt, die Telefonnummer des Frauenzentrums anzuwählen. Streng vertraulich wird dann mit ihnen gesprochen, und sie bekommen die Unterstützung, die sie wünschen. Das kann die Vermittlung einer Rechtsanwältin sein, die Übernahme der Kosten für diese oder auch ein Zuschuss, damit sie die Strafe, mit der ein vernagelter Richter sie stigmatisieren wollte, finanziell, aber auch politisch und persönlich nicht ganz alleine tragen muss.

Mit herzlicher Schadenfreude und großer Heiterkeit unterhielte uns die jüngste Posse am Memminger Landgericht im März 1989. Da ist der Richter, der sich als Scharfmacher profiliert und an die Frauen, die abtreiben ließen, fiese Fragen stellt. Am Ende ist er selbst in eine Abtreibung verwickelt. Da bemüht sich der Richter voller Eifer, eine soziale Notlage auf Geldmangel zu reduzieren. Als er selbst seine Freundin zur Abtreibung führte, hatte er als Staatsanwalt ein hohes und sicheres Gehalt.

War Richter Ott so scharf und gnadenlos, weil er selbst Probleme mit der Abtreibung „seines Kindes” nicht bewältigte? Wurde er zum Anti-Abtreibungs-Fundi, weil er seine „Schuld” auf die Frauen abwälzen wollte, die da als Zeuginnen vor ihm standen? Diesen tiefen Einblick in des Richters Seelengründe werden wir niemals erhaschen - dafür sind schließlich AnalytikerInnen zuständig. Aber scheinheilig ist des Richters Verhalten allemal, und dafür hat er nun von seinem Vorsitzenden die Quittung erhalten. Er strafte ihn mit Rausschmiss. Ziemlich gleichgültig ist, ob Richter Ott sich damals selbst strafbar machte oder nicht.

Denn die Stimmung in Memmingen und Umgebung ist nun gekippt. Mit dieser Enthüllung hat das Landgericht sein letztes Quentchen an moralischer Integrität verspielt. Die braven Katholiken und CSU-Wähler, die „Abtreibung ist Mord” herunterleiern und deshalb diesen Prozess guthießen, sind verprellt. Und nichts fürchtet die bayerische Dreieinigkeit aus CSU, katholischer Kirche und Justiz mehr als einen Stimmungsumschwung bei ihren Getreuen im eigenen Lande. Denn dann wäre dieser Prozess ein doppeltes Desaster: nicht nur ein Lehrstück über Verfahrensfehler im Strafprozess, sondern auch eine Schmierenkomödie über die verlogenen Hüter der Moral.

Zum Stolperstein, der Ott aus seinem Amt katapultierte, wurde für ihn die Abtreibung seiner damaligen Freundin im Jahre 1980, an der er beteiligt war. Der damals 29jährige Ott, der gerade als Staatsanwalt in Memmingen angefangen hatte, war mit seiner Freundin nach Karlsruhe gefahren, um eine Notlagenindikation zu besorgen. In Baden -Württemberg wurde der Schwangerschaftsabbruch dann auch vorgenommen.

Mit einem eklatanten „Mangel an beruflicher Integrität und menschlicher Aufrichtigkeit” bei Richter Detlef Ott begründeten zwei der drei Verteidiger des Frauenarztes Dr. Theissen, Sebastian Cobler und Wolfgang Kreuzer, ihren Antrag auf Befangenheit. Ganz überraschend kamen die Vorwürfe gegen Ott für das Gericht allerdings nicht, denn das Nachrichtenmagazin 'Der Spiegel’ hatte sie zeitgleich veröffentlicht. Richter Ott reagierte mit einer „Dienstlichen Erklärung”, in der er den Tatbestand nicht abstritt, sich allerdings nicht für befangen hielt. Er betonte, dass „der gesetzlich vorgeschriebene Weg eingehalten worden ist”. Dass er, wie 'Der Spiegel’ behauptet, bei diesem Abbruch der Treibende gewesen sei, „ist in dieser Form unzutreffend”, erklärte Richter Ott. Auf die ihm vorgehaltenen inquisitorischen Fragen, die er an Frauen richtete, die sich in genau der gleichen Situation befunden hatten wie er 1980 selbst, ging der Richter in seiner Erklärung kaum ein. Otts Lieblingsfrage an die Zeuginnen im Abtreibungsprozess war, ob sie das Kind nicht hätten austragen können. Das sei alles erforderlich gewesen, um die „gesamten Lebensumstände so umfassend wie nur möglich aufzuklären”.

Sebastian Cobler und Wolfgang Kreuzer machen dann allerdings deutlich, dass es nicht darauf ankomme, ob Ott sich befangen fühle. „Entscheidend ist, ob Dr. Theissen diesen Richter für befangen hält oder nicht - und er hält ihn sehr wohl für befangen.” Das Gericht schloss sich nach langer Beratung genau dieser Meinung an. Der sichtlich mitgenommene Vorsitzende Richter Albert Barner sagte in seiner Begründung: „Der Angeklagte Theissen habe Anlass zum Misstrauen gegen die Parteilichkeit von Richter Ott.” Richter Barner räumte ein, dass die „intensive Art der Befragung” darauf zurückgeführt werden könne, dass Richter Detlef Ott dem Angeklagten nicht mit der erforderlichen Distanz gegenüberstehe. Wie wahr.

Denn just in der Zeit, in der Detlef Ott mit seiner Freundin nach Baden-Württemberg zum Schwangerschaftsabbruch gefahren ist, hat Ott - damals noch Staatsanwalt - mit großem Eifer ein Ermittlungsverfahren gegen Horst Theissen betrieben.

Detektivische Fähigkeiten soll der heutige Richter Ott damals angewandt haben, um Theissen illegale Schwangerschaftsabbrüche nachweisen zu können. Das Verfahren musste damals wegen erwiesener Unschuld Theissens eingestellt werden. Dieser Vorgang hatte schon zu Prozessbeginn dem Richter Ott einen Befangenheitsantrag eingebracht, der freilich von seinen Richterkollegen als unbegründet abgewiesen wurde.

 

Ein schwerer Schlag ist die Ablösung von Richter Detlef Ott für die unnachgiebigen Staatsanwälte, die den Antrag der Verteidigung auf Befangenheit als „Stimmungsmache” abtun wollten. Die Ergänzungsrichterin Brigitte Grenzstein wechselt nun als Berufsrichterin auf den Stuhl von Richter Ott. Eine gewisse Gefahr liegt jetzt freilich für das Memminger Gericht in der neuen Situation: Denn sollte noch einer der Richter ausfallen, wäre dieser größte Abtreibungsprozess der bundesdeutschen Rechtsgeschichte geplatzt.

Die Verteidigung Theissens argumentierte, nach dem Mitte März erfolgten Befangenheitsspruch gegen den Richter Detlef Ott könne der Prozess nicht mehr objektiv fortgeführt werden. Die zweite Strafkammer des Memminger Landgerichts kam zu dem Schluss, dass der Prozess weitergehen kann, wenn einige Beschlüsse neu gefasst würden. Dabei gehe es hauptsächlich um die Frage der Verwertbarkeit der Patientenkartei Theissens.

Für Überraschung sorgt dann die Staatsanwaltschaft im Memminger Theissen-Prozess: 77 der insgesamt 156 Fälle, für die der 50jährige Frauenarzt Horst Theissen vor Gericht steht, wurden „vorläufig” eingestellt. Die Staatsanwälte schlossen die Beweisaufnahme ab und verzichteten darauf, 40 noch geladene Zeuginnen vor Gericht zu vernehmen. Damit wollen sie offensichtlich dazu beitragen, den größten und längsten Abtreibungsprozess der Bundesrepublik nach über sieben Monaten endlich zum Abschluss zu bringen.

Oberstaatsanwalt Peter Stöckle, der die Ermittlungen in Memmingen leitete, erklärte, dass die bereits verhandelten Fälle ausreichten, um ein „schuldangemessenes” Strafmaß zu bilden. Auch die Fortsetzung der Zeuginnenvernehmung sei beim jetzigen Stand des Verfahrens „nur noch ein Streit um des Kaisers Bart”. Dieses Entgegenkommen für die vom Sitzungsmarathon geplagten Richter, Verteidiger und

den Angeklagten ist jedoch an eine knallharte Bedingung geknüpft: Nur wenn Theissen - nach Meinung der Staatsanwaltschaft - „schuldangemessen” verurteilt wird, bleiben die Fälle niedergeschlagen. Sollte Theissen jedoch freigesprochen oder zu milde verurteilt werden, so würde die Staatsanwaltschaft die 77 jetzt „vorläufig” eingestellten Fälle wieder aufrollen.

Solch ein Vorgehen, mit dem die Staatsanwaltschaft versucht, das Urteil zu beeinflussen, ist nach der Strafprozessordnung durchaus üblich. Überraschend ist jedoch, in welcher Offenheit Staatsanwalt Stöckle seine Strategie darlegt. Einem Antrag der Staatsanwaltschaft - falls ihr der Urteilsspruch nicht passt - die 77 Fälle wieder aufzurollen, müssen die Richter dann stattgeben. Damit wäre ein weiterer Prozess vorprogrammiert.

Dann in April hielt die Staatsanwaltschaft im Theissen-Prozess ihr abschließendes Plädoyer.

Drei Jahre und sechs Monate Haft ohne Bewährung - das forderten sie nun. Dies sei das Mindestmaß für die Vernichtung von werdenden Leben in so großer Anzahl. Außerdem solle Theissen drei Jahre lang Berufsverbot erhalten. Rein rechnerisch, so die Staatsanwaltschaft, gehöre Theissen gar 53 Jahren und zehn Monate hinter Gitter.

Der Frauenarzt habe gegen den §218 verstoßen, indem er bewusst in Kauf genommen habe, dass eine Notlage im Sinne des Gesetzes bei seinen abtreibungswilligen Patientinnen nicht gegeben gewesen sei. Theissen habe lediglich auf „den Willen der Frauen abgestellt” und damit die vom Bundesverfassungsgericht 1975 verworfene Fristenlösung betrieben. Nach einem Urteil des Bayerischen Oberlandesgericht müsse die Notlage, in der sich die Frau befinde, mindestens ebenso schwerwiegend sein wie etwa bei einer vorausgegangenen Vergewaltigung oder der Gefahr, ein behindertes Kind zu bekommen. Wirtschaftliche und familiäre Schwierigkeiten seien nicht ausreichend. Eine Frau müsse sich eben „gewisse Zeit einschränken”. Nur „vorgestellte oder eingebildete Gefahren” könnten nicht „ins Gewicht fallen”. Diese Anforderungen „müssen so scharf sein, denn es geht um die Frage von Leben und Tod”, betonte Staatsanwalt Kreuzpointner. Zur Überprüfung der Verhältnisse der schwangeren Frau müsse sich der Arzt auch Urkunden wie Verdienstbescheinigung, Arbeits- und Mietverträge vorlegen lassen. Als Kreuzpointner auf die „zahlreichen, fast unübersehbaren finanziellen Hilfen” für Schwangere verwies, konnten einige Frauen nur laut lachen.

Das Argument der Verteidigung, die Notlage der Frauen und die Gesprächssituation sei nicht nachvollziehbar, bezeichnete Kreuzpointner als „Banalität”. „Auch bei Mordtaten ist die ursprüngliche Situation nicht mehr rekonstruierbar und kann das Opfer nicht mehr vernommen werden”. Noch niemand sei auf die absurde Idee gekommen, „Mörder und Totschläger” dürften nicht verurteilt werden.

„Dass das Abtreibungsgeschäft eine ständige Erwerbsquelle für den Angeklagten war, zeigt sich aus der Vielzahl der Fälle”, betonte Kreuzpointner. Damit versuchte die Staatsanwaltschaft, den Strafrahmen von bis zu fünf Jahren für „besonders schwere Fälle” anzudeuten. Theissen habe einen „wohlorganisierten Geschäftsbetrieb” geführt, bei dem er sich in Einzelfällen die Frauen „wie Schlachtvieh zutreiben” ließ. Mit lautem Türenknallen verließen daraufhin empörte Frauen den Gerichtssaal. Richter Albert Barner drohte ihnen eine Ordnungsstrafe an.

Da sich Theissen außerdem entschlossen habe, keine Steuern zu zahlen, habe er „billig auf den Markt anbieten” können. Wegen Steuerhinterziehung hat man den Frauenarzt bereits verurteilt. Zugunsten des Angeklagten führte die Staatsanwaltschaft an, dass Theissen mit „gewissem Hilfswillen den Schwangeren gegenüber gehandelt” habe. Er habe aus einem „gewissen missionarischen Eifer” gehandelt und die Selbstbestimmung der Frau, „wenn auch völlig irregeleitet”, in den Vordergrund gerückt. Aus diesem Grund gestanden ihm die beiden jungen Staatsanwälte einen „Bonus für idealistische Straftäter” zu.

Die Staatsanwälte listeten alle verhandelten 79 Einzelfälle auf, damit das Gericht bei einer Verurteilung eine höhere Gesamtstrafe als die höchste geforderte Einzelstrafe aussprechen kann, die ein Jahr beträgt. Als „krassesten Fall” einer illegalen Abtreibung schilderte Kreuzpointner die ungewollte Schwangerschaft einer unverheirateten 18jährigen Kellnerin. Die Frau führte als Abbruchsgrund an, sie habe weder eine geregelte Arbeit noch sei vom Vater des Kindes Unterstützung zu erwarten. Außerdem könne sie mit einem Einkommen von rund 900 Mark kein Kind großziehen. Die Frau hätte jedoch soziale Hilfen beantragen und das Kind in Pflege geben können, befand der Staatsanwalt. Er forderte dafür eine Strafe von fünf Monaten.

Die Verteidiger haben am 24. April 1989 mit ihren Plädoyers einen Frontalangriff gegen das gesamte Verfahren des spektakulärsten bundesdeutschen Abtreibungsprozesses gefahren. In den Mittelpunkt ihrer Erklärungen stellten sie die Frage der ärztlichen Maßstäbe für eine Indikation: Diese Maßstäbe seien grundsätzlich von keinem Richter, keinem Staatsanwalt und auch von keinem Verteidiger überprüfbar. Für ihren Mandanten forderten die Verteidiger folglich Freispruch.

Theissen, so führte Verteidiger Sebastian Cobler aus, habe in jedem Fall verantwortungsvoll und gewissenhaft gehandelt. Er habe sich in jedem Fall - Theissen ist in 156 Fällen angeklagt - sorgfältig vergewissert, dass eine Indikation vorliege. Deshalb sei Theissen nach § 218 freizusprechen, der Haftbefehl gegen ihn und die Beschlagnahme seiner Patientinnenkartei aufzuheben. Allerdings habe Theissen zweifelsfrei gegen Formvorschriften verstoßen: Er habe entgegen der bayerischen Verordnung - ambulant abgetrieben und dabei auf den Nachweis einer sozialen Beratung sowie der Indikationsstellung durch einen anderen Arzt nicht beharrt. Dies sei jedoch kein derart schwerwiegendes kriminelles Vergehen, dass eine Bestrafung erforderlich sei. Da Theissen auch in diesen Fällen zum Wohl seiner Patientinnen gehandelt habe, reiche eine Verwarnung mit Strafvorbehalt aus. Zur zentralen Problematik des Verfahrens führten die Verteidiger aus: Eine ärztliche Indikation könne nicht von einem Gericht überprüft werden, weil die Mittel und Wege,

You have finished the free preview. Would you like to read more?