Read the book: «Veza Canetti zwischen Leben und Werk», page 8

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B7. Mitarbeiterin der Arbeiter-Zeitung

Ein weiteres potenzielles Berufsfeld Veza Taubners ergibt sich aus Recherchen im Zusammenhang mit deren Preisgewinn bei der Arbeiter-Zeitung im Jahre 1933. In der Preisausschreibung zu diesem literarischen Wettbewerb erfährt man, dass dieser für die freien Mitarbeiter ausgeschrieben worden war, genauer für die in der heutigen Zeit vielfach in Not lebenden freien Mitarbeiter: „Die Arbeiter-Zeitung wünscht ihren Lesern einige angenehme Stunden zu bereiten, aber auch ihren in der heutigen Zeit vielfach in Not lebenden freien Mitarbeitern eine angenehme Aussicht zu eröffnen, indem sie ein Preisausschreiben für die beste Kurzgeschichte veranstaltet.“201

Für diese freie Mitarbeit bei der Arbeiter-Zeitung gibt es leider keine direkten Belege. Eventuell waren mit freier Mitarbeit Personen gemeint, die seit Längerem Erzählungen in der Arbeiter-Zeitung veröffentlichen konnten; das war mit der Erzählung Der Sieger und dem Novellenzyklus Geduld bringt Rosen im Sommer 1932 bei Veza Taubner der Fall. Es könnte hingegen auch ganz anders gewesen sein, schreibt doch Elias Canetti in einem Brief an Georges vom 1. März 1934: „Sie (Veza Canetti, Anm. va) war bereits im Januar, als Mit-Arbeiterin einer hiesigen Zeitung und jugoslawische Staatsbürgerin, von einer Abschiebung nach Jugoslawien bedroht.“ (BaG 18) Ob es sich dabei um die Arbeiter-Zeitung handelt, die allerdings erst am 12. Februar 1934 verboten wurde, oder eine andere Wiener Zeitung, ist nicht bekannt. Falls damit nicht die Arbeiter-Zeitung gemeint war202, müsste es eine Zeitung gewesen sein, die bereits im Januar verboten, vielleicht auch nur zensiert oder mit einem Kolportage-Verbot belegt worden war, wie dies bei der Arbeiter-Zeitung der Fall gewesen war.203 Damit wird zudem klar, dass nur eine kommunistische oder sozialistische Zeitung als Arbeitgeberin für Veza Canetti in Frage kommen kann. Mit „Mitarbeit“ könnte Elias Canetti ferner eine Tätigkeit zum Beispiel als Lektorin gemeint haben. Es ist davon auszugehen, dass Veza Canetti für die Arbeiter-Zeitung tätig war, über die Form dieser Mitarbeit hingegen kann spekuliert werden. Im Personenlexikon Österreich von 2001 wird sie beispielsweise als „Redakteurin der Arbeiter-Zeitung“ bezeichnet, leider ohne diese Behauptung mit einer Quelle zu belegen. Diese Unsicherheit muss vorläufig so stehen bleiben, wie eine intensive Recherche im Archiv der Arbeiter-Zeitung, das sich beim Verein für Geschichte der Arbeiterinnenbewegung (VGA) in Wien befindet, ergeben hat.204

Veza Canetti muss nach dem Verbot der Zeitung aber schon bald wieder gearbeitet haben, wie es Elias Canetti in den Unpublizierten Lebenserinnerungen gleichsam nebenbei erwähnt: „Sie hatte zehn Nächte ganz allein in einem Zimmer mit ihrer toten Mutter (…) Seit ein paar Wochen ist Veza halbwegs wieder auf dem Damm. Sie arbeitet wieder (…).“205

Sehr gut vorstellbar ist auch, dass Veza Taubner bereits vor ihrer Mitarbeit bei der Arbeiter-Zeitung bei einer anderen Wiener Zeitung gearbeitet hat. Da der literarische Einstand bei der Arbeiter-Zeitung mit der Erzählung Der Sieger vonstattenging und dabei ein despotischer Chef namens Siegfried Salzmann eine wichtige Rolle spielte, kommt eine Mitarbeit Veza Taubners bei der Zeitung Neue Freie Presse in Frage. Hat Veza Taubner doch mit der Wahl des Namens Siegfried Salzmann den Feuilletonredakteur der Neuen Freien Presse, nämlich Felix Salten, ins Spiel gebracht, der mit bürgerlichem Namen Siegmund/Zsiga Salzman hiess. Die Erzählung Der Sieger wäre dann eine Abrechnung mit ihrem ehemaligen Chef. Dazu mehr im Kapitel zu Felix Salten.

C. Frühe Freunde: die Asriels und die Waldingers

Beim zweiten Aufenthalt der Familie Canetti 1923 in Wien war die wohnliche Nähe zu den Asriels am Praterstern wie auch zur Ferdinandstrasse 29 mit Veza und ihren Eltern noch grösser als beim ersten Aufenthalt in Wien zu Beginn des Ersten Weltkrieges. Die Brüder Elias und Georges waren einige Monate vor Mutter und Bruder in die Praterstrasse 22 gezogen. Als wichtiger Treffpunkt nicht nur für die Canettis entwickelte sich das Haus Asriel. Mehrere Anläufe in den Unpublizierten Lebenserinnerungen Elias Canettis dokumentieren, dass er sich sehr schwertut mit der Darstellung des Milieus rund um die Familie Asriel und insbesondere auch mit der Charakterisierung des Sohnes Hans Asriel. Ein Grund liegt wohl darin, dass Elias Canetti sich selbst die Darstellbarkeit dadurch erschwert hat, dass er sich gleichsam als Nebeneffekt wünschte, sich über den ehemaligen Freund Hans Asriel (1904–1936) Veza nähern zu können. „Während der letzten Tage habe ich mich ihr über Hans Asriel genähert.“206

„Hans Asriel, der schon als Knabe in Wien mit mir befreundet war, den ich später als Student wiedertraf und der eine Zeitlang (von 1924–1925), als ich wieder nach Wien kam, durch seine Reden über Karl Kraus und auch über vieles andere eine grosse Rolle spielte.

Im Sommer 1925, nach einer Wanderung durchs Karwendel-Gebirge, haben wir uns am Achensee ernsthaft entzweit und seither war meine Versöhnung mit ihm eine scheinbare. Er ging für eine Zeitlang nach Belgrad und schrieb mir oft von dort, und dann zu seiner Mutter Alice und den Geschwistern Walter und Noemi (?) nach Paris, wo er sich (1936) zum Fenster auf die Strasse hinausstürzte und tot liegen blieb.

Ich fühlte mich sehr durch ihn bedrückt, aber nie hatte ich begriffen, dass er das Opfer eines schizophrenen Prozesses war. Als ich, fünf Jahre vor seinem Tod, die ‚Blendung‘ schrieb (damals den ‚Brand‘), dachte ich nie an ihn. In meine Verherrlichung der Irren war er nie eingeschlossen. (…) Ich will versuchen, ihn jetzt zu verstehen, ihm bin ich wirklich etwas schuldig geblieben, wohl gab ich mir anfangs und noch eine ganze Weile danach grosse Mühe mit ihm, aber ich habe nie begriffen, wovon er bedroht war.

Er wollte, nach einer kurzen Periode der Überlegenheit durch seine Lokalkenntnis Wiens diese Stellung auch weiterhin beibehalten, aber ich gestand sie ihm nicht zu und das führte zu seinem Unglück.“207

Hans Asriel ist nicht der einzige Bezugspunkt, über den Elias Canetti sich Veza für die Umsetzung in den Publizierten Lebenserinnerungen nähern möchte, zu den Annäherungsorten und/oder -personen gehören auch die 300. Vorlesung von Karl Kraus sowie die äusserst wichtige Begegnung mit Veza Taubner in der Wohnung ihrer Tante Olga Hirsch sowie die Geschichten rund um den Stiefvater Vezas. Leider hat sich ausgerechnet die Annäherung an Veza über Hans Asriel als sehr wenig fruchtbar für die Publizierten Lebenserinnerungen erwiesen, ja sich reduziert auf die blosse Nennung von berühmten Wiener Namen, die im Hause Asriel gefallen sein müssen und in deren Serie auch Veza erwähnt wird.208 Was, wie noch zu zeigen sein wird, allerdings nicht grundlos erfolgte. Ganz weggelassen hat Elias Canetti für die Publizierten Lebenserinnerungen die Annäherung an Veza über den direktesten Weg, die Verwendung oder gegebenenfalls Zitierung des Briefwechsels zwischen ihnen, wie folgender Textausschnitt offenbart: „Sehr grosse Scheu habe ich vor dem direktesten Weg: Ich vermeide es, ihre Briefe an mich und meine an sie aus den Jahren 1925 und 1926 zu lesen. Einmal werde ich sie wohl lesen müssen; aber vorher will ich möglichst viel aus der Erinnerung niedergeschrieben haben. Ich fürchte, dass die Briefe, besonders meine, meine Vorstellungen von jener Zeit mit ihr sehr verändern könnten.“209

Aus den Publizierten Lebenserinnerungen erfährt man nichts Genaues über die Art der Beziehung von Hans Asriel zu Veza Taubner.

In den Unpublizierten Lebenserinnerungen zeigt ein ausrangiertes Kapitel, welches Elias Canetti unmittelbar nach der Lektüre von Briefen Hans Asriels aus der Zwischenkriegszeit geschrieben hatte, dass dieser auch einmal erfolglos in Veza verliebt gewesen sein muss. „Heute, nach der Lektüre jener Briefe von ihm (Hans Asriel, Anm. va), die sich erhalten haben, wüsste ich nicht mehr sicher zu sagen, was es eigentlich war, das er für mich empfand. Ich merkte damals, dass er mich um Vezas Liebe beneidete, ein- oder zweimal hatte er selbst – sehr ungeschickt – versucht, sich ihr zu nähern und wurde mit Nichtbeachtung gestraft. Er hatte sie schon viele Jahre vor mir gekannt, in den Gesprächen bei ihnen zuhause spielte sie eine grosse Rolle, vielleicht hatte ihn sogar seine Mutter zu diesen Versuchen ermuntert, es war ihr natürlich, alles ins Erotische zu wenden, und so nahm ich an, dass er auf mich eifersüchtig sei, weil Veza mich beachtete und ihn weiterhin so behandelte, wie seit Jahren immer. Es könnte aber sein, – und das ist mein neuer Zweifel –, dass er auf Veza eifersüchtig war, weil sie mich mehr und mehr okkupierte. Wohl tat ich alles, es zu verbergen, schon um keine Reden von ihm und von seiner Mutter darüber zu hören, aber es gab nichts in diese Sphäre Gehöriges, das seiner Mutter auf die Dauer entging. ‚Ich weiss es immer‘, sagte sie einmal und schüttelte leicht verzückt den Kopf, sie war an jeder Liebesgeschichte beteiligt, als wäre es die ihre.

Natürlich war während der Gespräche zwischen Veza und mir auch von Hans die Rede. Sein Name brauchte nur zu fallen, und das Leuchten zwischen uns erlosch. Es war nicht nur traurig, von ihm zu reden, man empfand es auch als sinnlos. Man hatte keine Schuldgefühle gegen ihn, das hätte niemand haben können, aber man wusste auch nicht, wie ihm zu helfen sei. Ich wurde gefragt, ob ich ihm schon geantwortet hätte und da das meistens auf der Stelle geschah, dafür gelobt, doch war es ein unlustiges Lob, keines, das mich freute und das Traurigste daran war im Grunde, dass jeder sich über seine Abwesenheit in Belgrad freute und sich wünschte, dass es ihm dort besser gehen möge, damit er dort bleibe.“210

C1. Die Asriels und Fredl Waldinger

Fredl (Alfred) Waldinger (1905–1991), mit dem Elias Canetti 1970 wiederum Kontakt sucht, vielleicht gerade auch, um sich etwas genauer der mehr als 50 Jahre zurückliegenden Zeit, die er autobiografisch zu bearbeiten gedachte, nähern zu können, gehörte ebenfalls zu den Freunden des Hauses Asriel.

Elias Canetti notiert in den Unpublizierten Lebenserinnerungen. „Bei Frau Asriel lernte ich Fredl Waldinger kennen, der mir für einige Jahre zu einem Gesprächspartner wurde, wie man ihn sich besser nicht wünschen kann.“211

Wie Elias Canetti weiss auch Fredl Waldinger, wie er in einem Brief von 1977 schreibt, nicht mehr präzise, wie er ins Haus Asriel gekommen war, erzählt aber in einem Interview von 1970, dass seine Familie, die im Quartier Neubau wohnte, schon immer den sephardischen Tempel in der Leopoldstadt besucht habe, sein Vater sei sehr fromm gewesen.212

„Mir ist es aus dem Gedächtnis geschwunden, wie ich die Bekanntschaft von Alice Asriel gemacht habe, ich nehme jedoch an, durch ihren Sohn Hans, der sich eng an mich anschloss, offenbar meiner bedurfte, der Arme.“213

Später nach der Publikation von Die gerettete Zunge schreibt Fredl Waldinger an Elias Canetti, was dessen Autobiografie bei ihm ausgelöst habe: „Auch die Erzählungen von Deinem Grossvater haben starke Erinnerungen geweckt, und zwar an Alice Asriels Berichte über ihren Schwiegervater, der ja noch am Praterstern ein Haus wie ein mohammedanischer Gewaltherrscher geführt hat. In ihren Geschichten hat Asriel senior seine Söhne noch als Erwachsene mit dem Pantoffel geschlagen und die einzige Schwester, die spätere Frau Farchi, konnte sie von Strafen freibitten. Ganz wie in orientalischen Geschichten. Man könnte viel miteinander über diese Dinge sprechen. Schade dass wir so weit von einander leben.“214

Völlig anders ging es in der Familie von Fredl Waldinger selbst zu und her. Theodor Waldinger, der Bruder von Fredl, schreibt in Bezug auf die Vorfahrin Blume Waldinger, die Grossmutter väterlicherseits. „Grossmutter Blume war eine ‚Zadike‘, eine Gerechte. Wenn sie später zu uns nach Wien zu Besuch kam, um sich zu vergewissern, dass alles nach jüdischem Recht und Gesetz zuging, sahen ihre neugierigen Enkelkinder, wie sie aus ihrem Gepäck als allererstes ihr blütenweisses Totenkleid und ein Säckchen mit Erde aus ‚Erez Israel‘ nahm und es sorgfältig verstaute, denn, so sagte sie, man kann nie wissen, ob man nicht morgen schon ins Jenseits abberufen wird. In ihrem Herzen war Jerusalem, und dem Kommen des Messias sah sie mit unerschütterlicher Zuversicht entgegen.“215

Veza Canetti nun lässt in verschiedenen Texten aus den 30er Jahren bekanntlich Reflektorfiguren auftreten, die das Geschehen in den Erzählungen kommentieren, wie die Rote oder eben die Weiss. Das wichtigste Kriterium der Kommentare der Figur mit dem Namen Weiss ist die Gerechtigkeit. „Frau Weiss schritt energisch aus und sah sich gerecht nach allen Seiten um.“ (GSt 80) Dabei rekurriert die Weiss aber keineswegs explizit auf die Religion wie Grossmutter Blume, die Zadike, im Hause Waldinger, sondern auf einen Gerechtigkeitsbegriff, der eher aus dem Menschenrechts-Diskurs stammt.216 Kulturhistorisch spannend ist, dass im Drama Der Oger, das aus dem gleichnamigen Kapitel im Roman Die Gelbe Strasse heraus entwickelt wurde, der Doktor der Psychiatrie die Funktion des Gerechtigkeitsübens der Frau Weiss übernimmt, er bringt die Problematik folgendermassen auf den Punkt. „Es gibt Verbrecher, die im Gesetzbuch nicht vorgesehen sind.“ (O 94) Mit einer Kombination aus Psychologie und Recht gelingt es ihm, Draga vom Wahnsinn, in den sie von Iger getrieben wurde, zu heilen und ihr zu ihrem Recht, das heisst einer Scheidung, zu verhelfen. Der Psychologe und Arzt ist jedoch auch ein Erzähler, der heilt, wenn er erzählt: „Jetzt gehe ich hinein und erzähl meiner kleinen Patientin ein Märchen. Wenn sie dabei einschläft, ist sie geheilt. Der Schlaf heilt.“ (O 79) Gesunde Luft alleine genüge nicht, es sei die Atmosphäre, auf die es ankomme. (O 79)

Auch Elias Canetti selbst ortet im Kosmos des Hauses Asriel viel Wichtiges für sein späteres Leben. Er schreibt dazu 1977 einen Text, den er im zweiten Teil der Lebenserinnerungen zu publizieren gedenkt, in dieser Form dann aber wieder verworfen haben muss: „Dieser Beginn der 2. Wiener Periode ist sehr reich. Die ersten anderthalb Jahre vom Frühjahr 1924 bis zum Herbst 1925 enthielten alles Spätere: Den Beginn des Buches über die Masse, die Begegnung mit Veza, die Begegnung mit Karl Kraus.

Im Grunde findet sich das meiste schon in der Wiederbegegnung mit den Asriels (so ausgezeichnet auch im Transkript, Anm. va) beisammen.

Sie wohnten in der Heinestrasse gleich beim Praterstern. Alice lebte nun schon seit langem ohne ihren Mann. Er war mit dem Dienstmädchen zusammengezogen, sie betrieben ein Fahrradgeschäft in der Wiedner Hauptstrasse. Alice hatte ihre drei Kinder bei sich, Walter, der zurückgeblieben war, Hans, etwa ein Jahr jünger als ich, und Wunni, die Jüngste.

Hans, nicht mehr so hübsch wie als Kind, war noch viel schmaler geworden. Er hatte alles in sich aufgenommen, wovon ein junger Mensch in Wien damals hören konnte. Seine Mutter war immer von jungen Intellektuellen umgeben, Hans hatte denselben Anspruch auf Besserwissen, der uns als Kinder zum Wetteifer angespornt hatte. Es ging nun schon um geistige Dinge, trotzdem war unsere Haltung scheinbar genau die gleiche geblieben. Im Anfang hatte er ein leichtes Spiel, er nannte Namen, von denen ich nie etwas gehört hatte: wie Weininger, wie Karl Kraus. Als ich das erstemal aus seinem und seiner Mutter Munde zugleich den Namen Karl Kraus hörte, war ich sicher, dass es sich um etwas Lokales und völlig Unwichtiges handeln müsse. Der Name war mir nicht nur unbekannt, er klang mir nach nichts, selten ist mir ein Name so unbedeutend erschienen. ‚Kraus‘ war in Wien sehr häufig und ‚Karl‘ natürlich noch häufiger. Zusammen waren sie wie aus einer Schulzeitung. Man erzählte mir begeistert von den Vorlesungen, deren keine von den Asriels je versäumt wurde. Es sei so voll, dass man oft keinen Platz bekomme. Sogar wenn Kraus im grossen Konzerthaussaal lese, was natürlich seltener der Fall war, war es ganz voll, aber sie würden schon dafür sorgen, dass ich auch eine Karte bekäme. Sie redeten mir sehr zu, ich wehrte mich, ich wollte es noch verschieben. Diesmal galt die Abwehr nicht nur dem Anspruche von Hans, der seine momentane Überlegenheit auch von Karl Kraus herleitete, sondern sie war auch gegen den unsäglich banalen Namen gerichtet.“217

C2. Die Felonen: junge Intellektuelle im Hause Asriel

Von grossem Interesse ist neben Fredl Waldinger die Gruppe von jungen Intellektuellen, die im Hause Asriel verkehrt haben, gerade auch, weil Veza Taubner mit diesem Kreis assoziiert war.218

Elias Canetti schreibt in seinen Unpublizierten Lebenserinnerungen: „Eine Gruppe von jungen Leuten, die im Hause Asriel eine grosse Rolle spielte, nannte sich die Felonen, nach einem ihrer Mitglieder, Felo Kohn. Es mochten 6 oder 7 Burschen sein, meist mit ihren Mädchen, die sonntags zusammen in die Kuchelau baden gingen.“219 In den Aufzeichnungen von 1968 hatte Elias Canetti rückblickend notiert, dass er mit den Felonen zwei bis drei Jahre nach Franz Kafkas Tod, also nach 1924, baden gegangen sei, er hätte mit ihnen eine sogenannte Schwimmbeziehung gehabt.220

Der Name der Gruppe sei eine Erfindung des Dichters Alfred Grünewald, der tatsächlich den Spitznamen von Felix Kohn, nämlich Felo, zum Namen für die ganze Gruppe bestimmt habe, so Eva Barilich, die Fritz-Jerusalem-Biografin.221 Zum innersten Kern dieser Gruppe zählten neben Felix Kohn und Fritz Jerusalem Theo Waldinger, Karl Spitz und Alfred Gold.222 Die Felonen engagierten sich im Verband Jugendlicher Arbeiter (VJA) und hielten später Kontakt zur Josefstädter Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ).223

Die Felonen galten als privater „Intellektuellenzirkel“, der sogar Dichterlesungen veranstaltete. Zum Zirkel soll selbst Hermann Broch gehört haben. Umstritten ist aber, ob Elias Canetti und Hermann Broch zu den engsten Freunden von Fritz Jerusalem gehörten.224 Ernst Fischer hingegen wird als Freund von Fritz Jerusalem bezeichnet.225

Egon Lederer – einer der Felonen – meint, dass Karl Kraus auf die Gruppe wie ein Katalysator gewirkt habe. „Er hat uns zur Kommunistischen Partei gebracht, seine Vorlesungen waren eine phantastische Vorbereitung, sich in eine politische Bewegung einzugliedern, die einen Ausweg zeigt und eine Vision hat.“226 „Nach den Vorlesungen von Karl Kraus begaben sich die ‚Felonen‘ in das Café Museum und diskutierten das Gehörte.“227

1929 gründete Fritz Jerusalem mit einigen Felonen die Stosstruppe, eine Agitpropgruppe nach sowjetischem Vorbild, die sich durch besonderen Arbeitseinsatz auszeichnete. Neben Jerusalem gehörten Theo André Drucker, Georg Dollinger und Walter Hollitscher dazu, ausserdem Eduard März. Er und Fritz Jerusalem hätten Texte verfasst, die von André Drucker und Alexander Vogel vertont wurden.228 Es handelt sich um Sprechchöre, Sketches, Spottlieder, zum Beispiel den „Fünfjahresplan-Chor“, im Sinne von Kultur als Kampfmittel.229 Anfangs 1931 muss es bereits in jedem Wiener Kreis eine solche Gruppe der KPÖ gegeben haben. Im 1930 gegründeten Bund der proletarisch-revolutionären Schriftsteller Österreichs sei aber kein einziger als Schriftsteller anerkannter Kulturschaffender Mitglied gewesen.230

Obwohl auch einige junge Frauen bei den Felonen mitmachten – wie Grete Leist, Claire Kossmann, Else Schweiger und Anni Reiniger –, ist in der Fritz-Jerusalem-Biografie von Eva Barilich nie die Rede von einer Veza Taubner.231 Das hat allenfalls damit zu tun, dass bei der Niederschrift der Biografie zu Fritz Jerusalem – Publikation 1991 – Veza Canetti noch nicht breitenwirksam wiederentdeckt worden war. Auch andere mit den Felonen assoziierte Personen werden nicht erwähnt, beispielsweise die mit den Felonen assoziierten Brüder von dem zum innersten Kreis der Felonen gehörenden Theo Waldinger, nämlich der Landschaftsgestalter Fredl Waldinger und der Literaturwissenschaftler und Dichter Ernst Waldinger.

Auch Elias Canetti musste sich nach der Publikation der Lebenserinnerungen 2 und 3 den Vorwurf gefallen lassen, dass er verschiedene intensive Freundschaften aus der Wienerzeit einfach weggelassen habe. Dies betrifft einige Mitglieder der Felonen wie Fritz Jerusalem, Walter Hollitscher und Eduard März.

Verworfen wurde von Elias Canetti überdies ein schonungslos negatives Porträt von Ernst Fischer. „Meine erste Begegnung mit Elias Canetti im Wien der frühen dreissiger Jahre verdanke ich dem damaligen Redakteur der Arbeiter-Zeitung und späteren kommunistischen Minister und Abgeordneten Ernst Fischer. Dieser brillante Mann, der leider einen Teil seiner grossartigen Begabung in wenig sinnvollen tagespolitischen Engagements verzettelt hat, war damals allem Anschein nach Elias Canettis engster Freund. Ich habe die beiden jedenfalls immer zusammen gesehen, ja sie waren geradezu unzertrennlich.“232 Eduard März mokiert sich im gleichen Artikel sehr darüber, dass der Kommunistenfreund Ernst Fischer für den späteren Nobelpreisträger Elias Canetti nicht mehr opportun zu sein scheine und deshalb in den Lebenserinnerungen nur noch am Rande auftauche; weit schlimmer sei es anderen Freunden Canettis ergangen: „Ich denke hier vor allem an Fritz Jerusalem, der sich später Fritz Jensen nannte, und an Walter Hollitscher. Wann immer ich Elias Canetti traf, war das in Zirkeln radikal linker Intellektueller, und Fischer, Hollitscher und Jerusalem waren hier Canettis engste Freunde und literarische Anhänger.“233 Eduard März schreibt im gleichen Artikel: „Walter Hollitscher, später Professor an der Humboldt-Universität in Ost-Berlin und philosophischer ‚Guru der KPÖ‘ fand sich stets ‚zu Füssen‘ Canettis, der mit seiner unbestreitbaren dialektischen Begabung zweifellos eine grosse Faszinationskraft ausstrahlte.“234

Mit dem fast vollständigen Weglassen der Kommunistenfreunde in den Publizierten Lebenserinnerungen räumt Elias Canetti diesen einen sehr ähnlich marginalen Platz ein wie seiner Ehefrau. Das ist ein Tatbestand, der nicht nur Eduard März, sondern auch den anderen nahestehenden Zeitzeugen wie Fredl Waldinger oder Anna Mahler aufgefallen war.

Fredl Waldinger schreibt bezüglich des Einbezugs von Fritz Jerusalem in einem Brief vom 15. November 1980 an Elias Canetti: „Dass Du gezögert hast, Fritz Jerusalems Kapitel in den Band hineinzunehmen, kann ich wohl verstehen. Trotzdem ich ihm nichts Unrechtes nachsagen kann, zwischen mir und ihm war seit früher Kindheit ein problematisches Verhältnis. Ich habe den intellektuell und athletisch Überlegenen bewundert und ein bisschen unter seiner ‚Arroganz‘ gelitten, die er zwar mir gegenüber in späteren Jahren aufgegeben hat. Noch heute kann ich einen Fall nicht vergessen der sich in unserer Kindheit zugetragen hat (nicht vergessen). Wir waren etwa 10 Jahre alt und haben einen steilen Steinbruch in Sievering bestiegen. Er war schnell oben ich aber bin etwa 1 Meter unterhalb mit zitternden Knien stecken geblieben. Fritz hat mir eine Weile lachend zugeschaut wie ich mich bemüht habe den Gipfel zu erreichen, hat mir aber doch rechtzeitig die Hand heruntergereicht und mich heraufgezogen. Durch ihn habe ich in jungen Jahren den Faust kennengelernt den er fast auswendig kannte, usw. Immer waren jedoch Bubenstreiche und manches andere noch bewunderungswert für mich. In späteren Jahren hat mich sein extremer Marxismus abgestossen und das schlimmste von ihm habe ich nach seinem tragischen Tod bei Carl Spitz in San Francisco gesehen. Dort fand ich zwei Büchlein die er unter dem Namen Jensen in China geschrieben, die den unehrlichsten Journalismus als Inhalt hatten. Subtile Empfindungen habe ich nie bei ihm wahrgenommen. Ich verstehe auch, dass Du das Schicksal der Familie Asriel nicht beschreiben kannst, es nähme wirklich ein ganzes Buch, Alice Hans Walter Nuni und die Väter Grossväter. Die ganze tragische Sippe wäre jedoch einer Meisterdarstellung wert.“235

Komplett anders klingt es zu Fritz Jerusalem bei Eduard März, dem österreichischen Wirtschaftshistoriker: „Ein durchaus beachtenswerter Freund und Bewunderer Canettis aus diesem Kreis war auch der junge Mediziner Fritz Jerusalem. Er hatte später eine relativ hohe Funktion bei den ‚Internationalen Brigaden‘ im Spanischen Bürgerkrieg inne, ging dann als Arzt nach China, wurde Fernostkorrespondent kommunistischer Zeitungen und schrieb unter Schriftstellernamen Fritz Jensen das seinerzeit viel beachtete Buch ‚China siegt‘. Er kam 1955 bei einem geheimnisumwitterten Flugzeugunglück auf dem Flug nach Bandung ums Leben.“236

In den Unpublizierten Lebenserinnerungen Elias Canettis findet sich ein gar nicht unähnliches Porträt von Fritz Jerusalem, wobei er dessen Wirken sehr schön im intellektuellen Kleinbürger-Milieu der Asriels verortet. Als Krönung des Porträts lässt er am Schluss Alice Asriel sagen, Fritz Jerusalem sei non plus ultra.

„Der eine, der als der weitaus angesehenste, sportlich tüchtigste, stärkste und auch gescheiteste galt, war Fritz Jerusalem. Er war nicht immer dabei, und vielleicht auch wegen dieser häufigen Abwesenheit ist er schon zu einer Art von Legende geworden. Ich sah ihn erst lange nicht, er kam nicht häufig ins Haus. Über die Male, die er dagewesen war, wurde noch Wochen danach gesprochen. Immer hatte es sich um Diskussionen gehandelt, zwei Burschen messen ihren Geist aneinander und Alice hörte zu. Solche Turniere hatte sie für ihr Leben gern, man könnte sagen, dass sie dafür lebte. Wohl hatte sie auch hie und da unter diesen jungen Menschen einen Freund, sie dachte sehr frei darüber und fand auch nichts dabei, dass ihre Kinder es wussten. Klein waren sie ja nicht mehr und auch sie sollten, das wünschte sie sich besonders, zu freien und vorurteilslosen Menschen werden. Aber so wichtig diese Beziehungen für sie waren, worauf es ihr eigentlich ankam, das waren die Streitgespräche, die sich vor ihr abspielten. Da sass oder stand sie, eine winzige Frau, liess sich kein Wort entgehen, glaubte jedes zu verstehen, zumindest merkte sie sich genau, was gesagt wurde, auch wenn sie’s nicht verstand, worauf sie aber am meisten achtete, das war das Vordringen der einen, das Nachgeben der anderen Seite, das Hin und Her des Kampfes, die Sicherheit, die plötzlich zu Unsicherheit wurde, und wieder der Wechsel, aber am liebsten hatte sie es doch, wenn einer, den sie nun einmal für den Gescheitesten hielt, immer der Überlegene blieb und den Partner leicht und ohne viel Anstrengung abfertigte.

Dieser Eine war Fritz Jerusalem und obwohl er nie zu ihrem nahen Freunde wurde, stellte sie ihn zuhöchst und gab mir deutlich zu verstehen, schon lange, bevor ich ihn kennen lernte, dass er unübertrefflich sei. Sie fasste es kurz und entschieden zusammen, wobei sie mich etwas ironisch ansah: ‚(Er ist) non plus ultra.‘“237

Dieses doch eigentlich sehr positive Bild von Fritz Jerusalem, das hier Elias Canetti zeichnet, weist bestimmt nicht auf eine absolute Abgrenzung hin, wie das vom Dichter Alfred Grünewald kolportiert wird, der anscheinend mit Fritz Jerusalem gebrochen hatte, sobald der sich der Kommunistischen Partei anschloss.238

Die „Reproduktion eines Grünewald“ 239 schickt Veza Canetti dann allerdings nicht an Broch, wie sie am 25. Dezember 1950 schreibt. Meint sie eine Aufnahme des Altars von Matthias Grünewald, den auch Elias Canetti sehr häufig erwähnt, oder ist das ein Schibboleth für etwas ganz anderes? Zum Beispiel könnte mit Grünewald ebenso ein Aphorismus oder ein Einakter des Dichters Alfred Grünewald gemeint sein. Der mit den Felonen assoziierte Dichter war im Exil in Frankreich bis kurz vor seinem Tod schriftstellerisch weiterhin sehr produktiv gewesen,240 bis er – da homosexuell und Jude – im KZ Auschwitz 1942 ermordet wurde.241 Die kryptische Antwort Hermann Brochs vom 7. Februar 1951 als Post-Scriptum deutet eher auf den Dichter hin: „Was macht eigentlich Ihr eigenes Dichten? Nein, der Grünewald würde mich nicht traurig stimmen, aber Sonne traure ich nach. Ich will gelegentlich einen Abschiedsaufsatz über ihn schreiben.“ 242

Das Verorten von Personen der Vergangenheit in ihrem sozialen Umfeld, um sie als literarische Figuren besser darstellen zu können, hat Elias Canetti sehr oft angewendet, nicht zuletzt auch auf Veza Canetti. Bei ihr hat er gleich mehrfach in den Publizierten und Unpublizierten Lebenserinnerungen das tatkräftige soziale Engagement im unmittelbaren Bereich der Ferdinandstrasse dargestellt. Auch die Biografin von Fritz Jerusalem wendet dieses Verfahren an, wenn sie erzählt, Fritz Jerusalem hätte Mitte 30er Jahre bei Arbeiterfrauen Abtreibungen durchgeführt, wenn sie aus ökonomischen Gründen keine Kinder kriegen wollten oder konnten.243 Möglicherweise hat sich Veza Canetti vom Engagement Fritz Jerusalems als Arzt im Spanischen Bürgerkrieg zu den Texten im spanischen Korpus244 – Pastora, Der Seher und Der Palankin – inspirieren lassen, unter Umständen war es aber auch nur der spaniolische Anteil der eigenen Herkunft. Pastora, die historisch gesehen mythenumrankte Freiheitsheldin, wird bei Veza Canetti zur Magd Pastora, die weniger am nicht erfolgten Aufstieg im feudalen Herrschaftshaus zerbricht denn an enttäuschter Liebe. Pastora stösst mit ihrer letzten Frage, „Habe ich denn recht und alle haben Unrecht?“, mitten in den Diskurs der Marxisten und Individualpsychologen der Zeit vor. In der Erzählung zerbricht die Liebe Pastoras und Don Anibals an der feudalen Praxis der Gegenwart, in der Ehen unter ökonomischen Gesichtspunkten geschlossen werden oder geschlossen werden müssen.245