Read the book: «Veza Canetti zwischen Leben und Werk», page 6

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Als der Maler Bent eine Figur – Anna, Britta oder Maria – wie eine Wachspuppe malt, allerdings mit feinem Staub darüber, wird er dafür von einer der Frauen kritisiert: „Staub ist hässlich, Bent.“ Er rechtfertigt sich in Abänderung des Shakespeare-Zitates damit: „Es gibt seltsamen Staub. Der Staub auf Wachsfiguren hinter Vitrinen ist schön. Uralter Staub.“ (DF 68)

In den Unpublizierten Lebenserinnerungen von Elias Canetti erhält beides – die Körperbehinderung Vezas sowie ihr universales Wissen – die Aura des Geheimnisses, wie man im folgenden Textausschnitt sehen kann. „Ich mochte nicht zugeben, dass die Universalität ihrer Lektüren mir grossen Eindruck machte. (…) Sie war beschlagen in der deutschen, englischen, französischen und russischen Literatur, soweit sie in deutschen Übersetzungen vorlag. (…). Was sie aber auf der Universitätsbibliothek trieb, war ihr Geheimnis. Durch Andeutungen vermochte sie meine Neugier zu reizen, aber sie war auch imstande, wochenlang über ihr augenblickliches Studium zu schweigen. Sie habe etwas begonnen, das sie noch gar nicht beherrsche, unmöglich könne sie schon etwas darüber sagen, für halbgebackene Kenntnisse habe sie nur Verachtung. Ich hatte meine Methoden, in sie zu dringen, auf diese und jene Weise versuchte ich zu erraten, womit sie sich eben befasse, ich kam nie drauf, im Verschweigen ihrer Geheimnisse war sie ein Meister (ich habe sie 38 Jahre gekannt und bin überzeugt davon, dass ich sehr Vieles nie von ihr erfahren habe.)“123

Sehr treffend beschreibt nun Elias Canetti weiter in den Unpublizierten Lebenserinnerungen, wie das zuerst als Oberfläche Wahrnehmbare – das Preziöse – bei Veza Canetti ihn zu einer falschen Annahme verleitet habe und wie er sich dadurch eine Blösse gegeben habe: „So suchte sie mein Vorurteil von einer ‚Preziösen‘, der <dem> ich noch eine Weile anhing, durch die Lektüre Lenins als eines extrem Politischen und durch die Aristophanes’ als eines extrem Derben zu erschüttern. Ich gab es keineswegs gleich auf, aber ich war mehr auf der Hut vor ihr als früher und begann zu begreifen, dass ich mir grosse Blössen gegeben hatte. Schliesslich wollte ich nicht weniger vor ihr bestehen als sie vor mir und dass sie über Manches, das ich ihr brachte, die Nase rümpfte, gab mir arg zu schaffen.“124

B. Von der Universität zur Berufstätigkeit

Über Veza Canettis Ausbildung und Berufstätigkeit notiert Elias Canetti in seinen Publizierten und Unpublizierten Lebenserinnerungen nichts Konkretes, sei es, dass er es nicht genau wusste, sei es, dass vieles vor seiner Zeit mit ihr stattgefunden hatte. Anerkennend schreibt er jedoch rückblickend auf das Jahr 1924: „Als ich sie kennen lernte, war sie in ihrem 27. Lebensjahr, ich in meinem 20. Sie hatte mehr Lesejahre hinter sich als ich und hatte sie gut genützt. Sie war öfters und regelmässig zu Besuch in England gewesen, wo Verwandte von ihr lebten, einige in Manchester, andere in London, und Englisch war ihr als Lektüre so geläufig wie Deutsch.“125

Veza Taubner alias Veza Magd schreibt über sich selbst in den Notizen zu den Autoren in Dreissig neue Erzähler des neuen Deutschland 1932: „An einem Privatuntergymnasium fand ich Anstellung als Lehrerin (…) seitdem Stundengeben und Übersetzungen.“126 Mit grosser Wahrscheinlichkeit hat Veza Taubner somit an einem Untergymnasium Englisch unterrichtet. Ein Zeugnis der Universität Wien, das sich im Nachlass findet, attestiert ihr in der Tat sehr gute Englischkenntnisse. Es handelt sich allerdings um kein Abschlusszeugnis der Universität, was als Hinweis auf Veza Taubners Bildungsweg gelesen werden kann. 1900 wurde bekanntlich in Wien die Angleichung der gymnasialen Mädchenausbildung an die der Knaben abgelehnt. Man beliess es beim bisherigen sechsjährigen Lyzeumsabschluss für Mädchen. „Der Lyzeumsabschluss – eine Reifeprüfung ohne Latein, mit wenig Mathematik und Naturwissenschaften – berechtigt zu Inskription als ausserordentliche Hörerin in jenen Fächern, die für das Lyzeallehramt gefordert sind – eine Art universitärer Kurzlehrgang für Lyzealschülerinnen, der in keiner Weise einem Vollstudium (für das sie im übrigen gar nicht ausreichend vorbereitet gewesen wären) entspricht und der sich überdies bald als Bildungssackgasse erweist, weil viel mehr Lehrerinnen ausgebildet werden, als Posten zur Verfügung stehen.“127 Denkbar ist aber auch, dass Veza Taubner bereits von einer Lockerung dieser Bestimmungen profitieren konnte. Im Jahre 1912 wurde nämlich in Österreich das sogenannte Normalstatut für Mädchenlyzeen erlassen, da war Veza Taubner gerade 15 Jahre alt. Die Mädchenlyzeen wurden auf „(…) sieben Klassen erweitert“ und erhielten die „unbeschränkte Möglichkeit (…)“, auch „als achtklassige Reformrealgymnasien“ geführt zu werden, „eine Chance, die in der Folge von den meisten Lyzeen ergriffen“ wurde. Damit wurde nun „Frauen erstmals ein umwegloser Zutritt zur Universität“ ermöglicht.128

Der Entscheid darüber, ob nun Veza Taubner den einen oder anderen Bildungsweg eingeschlagen hat, kann wohl erst bei einer besseren Datenlage erfolgen. Veza Taubner hat bestimmt nicht wie ihre Cousine Lily Spitz/Calderon die Schwarzwald-Schule der legendären Reformpädagogin Eugenie Schwarzwald – die 1901 ein Mädchenlyzeum eröffnet hatte und 1911 ein Mädchengymnasium – besucht, wie die Recherche im Schwarzwald-Archiv ergab. Sie kann also nicht wie ihre Cousine schon früh – als Schülerin – mit vielen interessanten Persönlichkeiten in Kontakt gekommen sein, die an dieser Reformmädchenschule unterrichteten, wie Oskar Kokoschka (Zeichnen), Adolf Loos (Architektur), Arnold Schönberg (Musik), Grete Wiesenthal (Tanz). Es besteht aber die Möglichkeit, dass Veza Taubner die Sommerkolonien der Eugenie Schwarzwald für Schülerinnen besucht hat, wo noch mehr Künstler, Dichter und Philosophen anzutreffen waren, wie Jakob Wassermann, Rainer Maria Rilke und viele weitere.129 Vielleicht erfolgte der Kontakt durch eine Mitarbeit Veza Taubners in Eugenie Schwarzwalds Wohlfahrtswerk, beispielsweise in den Gemeinschaftsküchen für Kinder, die nach dem Ersten Weltkrieg entstanden waren.130 Bestimmt aber hatte Veza Taubner spätestens anfangs der 20er Jahre indirekt Kontakt mit der Schwarzwaldschule, da ihre Cousine Lily Spitz diese besuchte.

Tatsächlich würde das Ausbildungsprogramm der Schwarzwaldschule ausgezeichnet zu einer Dichterin vom Format einer Veza Canetti passen, wie folgende Zeilen aus der wunderbaren Biografie von Deborah Holmes mit dem Titel Langeweile ist Gift. Das Leben der Eugenie Schwarzwald offenbaren: „Künstlerische Ausdrucksfähigkeit war ein entscheidender Punkt im inoffiziellen Programm der Schule. Schülerinnen sollten jedoch nicht im etablierten Kanon gedrillt oder zu fügsamen Dilettantinnen herangezogen werden – zu lange, so Schwarzwald, hatte die Bildung einer bürgerlichen Frau darin bestanden, eine oberflächliche Kenntnis der Künste und eine mittelmässige Fähigkeit im Zeichnen, Singen oder dem Schreiben von Versen zu erwerben. Stattdessen sollten Empfänglichkeit für die Künste und Kreativität zum täglichen Leben der Schwarzwald’schen Schulanstalten gehören. Die verschiedenen Zeitungsartikel, die Schwarzwald später über ihre Schulen schrieb, enthalten sehr klare Aussagen über die Bedeutung dessen, was sie ‚schöpferische Bildung‘ nannte. Der individuell abgestimmte Unterricht sollte die kreative Energie in jedem Kind freisetzen: Die Schule müsste versuchen, ‚mindestens die eine Künstlereigenschaft, die alle Kinder besitzen, die Vitalität, zu erwecken und zu erhalten.‘ Bildung sollte nicht als Mittel zum Zweck betrachtet werden, genauso wenig die Kindheit als vorbereitende Lebensphase, sondern als eine ‚kostbare Lebenszeit‘, die es um ihrer selbst willen zu geniessen und zu feiern galt.“131

Bekannt ist, dass die drei späteren Schauspielerinnen Helene Weigel, Elisabeth Neumann und Alice Herdan ihre ersten Auftritte als Schülerinnen der Schwarzwaldschule 1911/12 hatten.132 Ob auch die Schauspielerin Gerti Spitz, Veza Canettis Jugendfreundin, die Schwarzwaldschule absolviert hat, ist unbekannt. Es ist aber anzunehmen, dass Gerti Spitz die drei gleichaltrigen Frauen spätestens in der Schauspielschule kennengelernt hat. Eine Passage in einem Brief Veza Canettis aus den frühen 60er Jahren weist darauf hin, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit Alice Herdan, spätere Zuckmayer, ebenfalls zu den Schauspielerfreundinnen Veza Canettis gehört haben muss.133

Eine grosse Bedeutung hat die Schwarzwaldschule für Elias Canetti – da er dort nicht nur das Drama Komödie der Eitelkeit vorlesen konnte, sondern überdies Robert Musil persönlich kennenlernte: „Die erste Folge meines gehobenen Selbstgefühls war am 17. April 1935 die Vorlesung in der Schwarzwaldschule.“134 „Danach gleich trat Musil zu mir und mir ist, als habe er von selber zu mir gesprochen, herzlich und ohne die Reserve, für die er bekannt war. … Er hatte mir den Weg freigegeben, auf seine schonende Weise, die jedes Leben respektierte und ich empfand als Billigung was vielleicht schon mehr war.“135

B1. Englisch an der Universität Wien

Eine kleine Sensation für die Forschung um Veza Canetti bildet das Zeugnis der Universität Wien für Venetiana Taubner im Nachlass von Elias Canetti.136 Hier werden „Fräulein Venetiana TAUBNER (…) gute Sprachkenntnisse“ in Englisch attestiert, „die sie befähigen, auch nicht ganz leichte Texte zu erfassen und sich mündlich und schriftlich ziemlich gewandt auszudrücken. Ihre Aussprache ist gut.“137 Nach Auskunft der Universität Wien war die „Ablegung dieser Sprachprüfungen“ nicht „an einen vorhergehenden Unterricht an der Universität gebunden, das Zeugnis erhält durch die Anwesenheit und Unterzeichnung des Dekans einen öffentlich beglaubigten Charakter.“138

Leider ist weder vonseiten Veza Canettis noch von Elias Canetti etwas über diese Prüfung und deren Vorbereitung bekannt. Die Universität Wien bestätigt, dass Veza Taubner „weder immatrikuliert gewesen sei noch als ordentliche oder ausserordentliche Hörerin für Lehrveranstaltungen an der Philosophischen Fakultät, an der die Sprachprüfungen abgelegt wurden, inskribiert“139 gewesen war. Dieser Sachverhalt weist darauf hin, dass Veza Taubner mit hoher Wahrscheinlichkeit eher ein Mädchenlyzeum besucht hat, das sie dann nicht zu einem Vollstudium berechtigt hat.

Das Zeugnis für Venetiana Taubner hat an der Universität Wien vonseiten des Englischen Seminars der „Prüfer (Professor)“ Karl Luick unterschrieben. Karl Luick hatte sich als neuer Professor für Englisch gegen seinen Konkurrenten Leon Kellner, den grossen Shakespeare-Kenner, durchgesetzt, der aus antisemitischen Gründen nicht gewählt worden war. Leon Kellner hatte bis zum Zusammenbruch der Donaumonarchie einen Lehrstuhl für Englisch in Czernowitz innegehabt.

Aufschlussreich ist, dass es im Leben Veza Canettis mehr Berührungspunkte mit Leon Kellner, dem abgewiesenen Kandidaten für die Professur in Englisch an der Universität Wien, gibt als mit Karl Luick.

Veza Taubner könnte nämlich tatsächlich schon in ihrer Lyzeumszeit mit Lehr- und Wörterbüchern Leon Kellners – der in diesem Bereich ein ausserordentlich grosses Renommee genossen hat, wie unter anderem seine Publikationsliste noch heute zeigt – in Kontakt gekommen sein, beispielsweise mit dem Lehrbuch der englischen Sprache für Mädchenlyzeen. Leon Kellner hatte sich vor dem Ersten Weltkrieg viel in England aufgehalten und dort Forschung betrieben. Leon Kellners Ehefrau Anna, geborene Weiss, war als Übersetzerin aus dem Englischen tätig, wie auch deren Tochter Dora Sophie, die spätere Ehefrau von Walter Benjamin. Leon Kellner engagierte sich als einer der Ersten in der Volksbildung und hat, wie aus seiner Biografie bekannt ist, während seiner Tätigkeit als Universitätsprofessor Weiterbildungsstätten für Juden in Czernowitz (nach dem Vorbild der englischen Toynbee-Hall) gegründet.140 Englandaufenthalte, Übersetzungen aus dem Englischen und Volksbildung sind Begriffe die auch – wie zu sehen sein wird – im Leben von Veza Taubner eine grosse Rolle spielen. Ganz abgesehen davon, dass Veza Taubner den kompletten Shakespeare „halb auswendig“141 gekonnt habe, wie Elias Canetti notiert.

Interessant ist zudem der Fakt, dass nach dem Tod von Leon Kellner dessen Ehefrau Anna Kellner 1930 den Band Meine Schüler aus der Feder ihres Mannes im Zsolnay-Verlag herausgibt. Darin beschreibt Leon Kellner, wie er mit einer durch und durch besonderen Form von Gerechtigkeit üben viel zur Entwicklung seiner Schüler beitragen kann.142 Genau diesen Schritt vom Lehrer, der Gerechtigkeit übt, zum Dichter, der über dieses Gerechtigkeit-Üben schreibt, macht der Lehrer Gustl in der Erzählung Der Dichter von Veza Magd mit Erstpublikation in der Wiener Arbeiter-Zeitung im Jahre 1933. Der Band Meine Schüler von Leon Kellner greift exemplarisch Geschichten und Erfahrungen rund um den Lernerfolg seiner Schüler auf, die Leon Kellner bekanntermassen vor seiner Tätigkeit als Universitätsprofessor, als Professor an einem Realgymnasium in Wien, gemacht hatte. Leon Kellner hat zudem als Fremdsprachenkorrespondent der Präsidentschaftskanzlei in Wien gearbeitet, wie auch mehr als 100 Gutachten143 für den Zsolnay-Verlag erstellt. Für den Zsolnay-Verlag hat Veza Taubner unter dem Namen Dr. Richard Hoffmann vor dem Zweiten Weltkrieg mindestens ein Buch aus dem Englischen übersetzt. Eventuell hat Veza Taubner bereits in Wien überdies als Fremdsprachenkorrespondentin gearbeitet, dafür gibt es bis jetzt keine direkten Beweise. Von Veza Canetti ist indessen bekannt, dass sie in der ersten Zeit im Exil in England Arbeit als Korrespondentin gesucht hat. Veza Canetti hat sich aber auch literarisch mit dem Milieu der Korrespondentin auseinandergesetzt. In der Erzählung Drei Viertel arbeitet Anna – das Mädchen ohne Gesicht – in einer Kanzlei und in der Erzählung Pastora übernimmt die Magd Pastora für ihren Geliebten Kanzleiarbeiten.

Der Hund des verstorbenen Sprachforschers in der Erzählung Ein Kind rollt Gold trägt den Namen eines anderen grossen, allerdings deutschen Sprachforschers, nämlich Grimm. Der Hund Grimm erhält nach dem Tod seines Herren im Hause der Bedienerin Adenberger sein Gnadenbrot, wo er die Verhaltensregeln einer solidarischen Gesellschaft schneller lernt als die Erwachsenen. So beschützt er den Goldfund des Kindes Hedi sehr wirkungsvoll. Ob Grimm etwas mit dem Sprachwissenschaftler Leon Kellner zu tun hat, bleibt offen.

Da Veza Taubner mit hoher Wahrscheinlichkeit ohne offizielle Einschreibung Vorlesungen in englischer Sprache an der Universität besucht hatte, lohnt sich ein Blick auf die Verhältnisse an der Universität Wien vor ihrer Englischprüfung am 14. März 1918. Ein aufschlussreicher Kurzbeschrieb der Verhältnisse an der Universität Wien während des Ersten Weltkrieges findet sich in den Lebenserinnerungen von Käthe Leichter-Pick: „Ein seltsamer Körper war diese Universität im Krieg. Geblieben waren die alten Professoren. Die jüngeren, die Dozenten namentlich, waren eingerückt. Die Hörer aber waren vorwiegend Frauen. Was an männlichen Hörern da war, war dienstuntauglich, aus besonderen Gründen enthoben, oder es waren Urlauber, die nach wenigen Vorlesungen ein Kriegsexamen machten. Es gab wohl auch welche, die bei irgendwelchen Kriegsämtern in Wien beschäftigt waren und nebenbei studierten. (…) Sicherlich war gerade in den weiblichen Hörern, die sich das Studium zumeist mit grösseren Mühen erkämpft hatten, die schon wegen der so viel schwierigeren Gymnasialmatura eine gewisse geistige Auslese darstellten, denen auch vom Elternhaus noch öfter Schwierigkeiten gemacht wurden ein starker und ehrlicher Drang zur Wissenschaft.“144

Käthe Pick, spätere Leichter, wird 1918 in Heidelberg bei Max Weber promovieren, da in Wien für eine Frau die Promotion in Sozialwissenschaften noch nicht möglich war. Käthe Leichter und Veza Canetti verbindet, dass sie die gleiche Thematik – Dienstmädchen, Fabrikarbeiterinnen, Heimarbeiterinnen – mit unterschiedlichen Mitteln untersucht haben, die eine als Wissenschaftlerin, die andere als Schriftstellerin.145 Ebenso haben beide in der Arbeiter-Zeitung publiziert, oft zeitnah zum gleichen Thema. Ein direkter Kontakt der beiden Frauen kann jedoch bis anhin nicht belegt werden, dafür verschiedene gemeinsame Bekannte. Auch Käthe Picks späterer Ehemann Otto Leichter schliesst 1920 sein Studium an der Universität Wien ab. Die beiden Leichters haben ähnliche Jahrgänge wie Veza Taubner (1895 und 1897) und sind ebenfalls in Wien geboren und aufgewachsen. Otto Leichter ist zudem von 1925 bis 1934 Redakteur der Arbeiter-Zeitung.

Spannend bezüglich Veza Taubner ist zudem der Doktorvater von Käthe Leichter-Pick, nämlich Max Weber. Hatte dieser doch an der Universität Wien 1917 seine Lehrtätigkeit aufgenommen, die aber nur ein Jahr dauern sollte. Bemerkenswerterweise findet Veza Taubners Englisch-Prüfung im Frühling 1918 präzise in dem Jahr statt, als Max Weber an der Universität Wien dozierte. Die stark frequentierten Vorlesungen des damals schon recht berühmten Sozialwissenschaftlers und Nationalökonomen können ihr kaum entgangen sein. Die Ehefrau von Max Weber, Marianne Weber, schreibt in Max Weber. Ein Lebensbild von den ausserordentlich gut besuchten Vorlesungen und Kollegs ihres Mannes in Wien. „Er redete über das religions-soziologische Thema meist 2,5 Stunden hintereinander, bis es dunkelt in dem schönen getäfelten Raum. (…) Die Gedankenführung erreicht fast jedesmal einen Punkt, von dem aus das Entfernte plötzlich ein neues Licht wirft auf die allen vertrauten Gegenwartsprobleme. So etwa, wenn er darstellt, durch welche religiösen Vorstellungen das indische Kastenwesen die antirevolutionäre Gesinnung erzeugt, und dann die entgegensetzten Glaubenshintergründe des modernen europäischen Sozialismus danebenstellt.“146 Genau diese Gedankenführung vom weit Entfernten zu den Problemen der Gegenwart greift Veza Canetti im Roman Die Schildkröten, der im Jahr 1938 spielt, auf, das heisst: „Die Linie vom altindischen Glückssymbol, nämlich der Swastika, zur christlichen Symbolik, dem Kruzifix mit dem blutenden Jesu, und weiter zu den mit rotem Blut gefärbten Fahnen des Sozialismus, bis zum faschistischen Hakenkreuz der Nazis (…) in permanenter Revolution drängt sich die Farbe der altindischen Swastika, nämlich das Rot, das auch die Symbolfarbe der Sozialisten ist, immer wieder über das faschistische Emblem, bis sich das Rot als das Blut Jesu am Kreuz offenbart.“147 Verpackt ist diese Beleuchtung des Weges vom Entfernten zum Gegenwartsproblem in eine anekdotische Erzählung um die Fahne eines Weinbauern (Sch 10), die nicht nur diesem, sondern gerade auch den Nazis viel Ärger bereitet.

B2. Universitätsbibliothek

Ein bevorzugter Arbeits- und Studierort Veza Taubners muss die Universitätsbibliothek Wien gewesen sein, wie Elias Canetti in den Unpublizierten Lebenserinnerungen notiert: „Auf der Universitätsbibliothek, wohin sie oft lesen ging (…)“148. Elias Canetti weiss gleichwohl nicht genau, was sie dort alles gelesen hat: „Was sie aber auf der Universitätsbibliothek trieb, war ihr Geheimnis.“149 Erst in den Aufzeichnungen im Jahre 1970 notiert Elias Canetti, dem das konkrete Ausmass ihres Lesemarathons erst jetzt richtig bewusst zu werden scheint: „Die ‚Wahlverwandtschaften‘, die ich jetzt gelesen habe, gehören zu Vezas Büchern. Sie hat mir viele der grössten Bücher der Weltliteratur hinterlassen, die ich zu ihren Lebzeiten bloss darum nicht lesen konnte, weil sie immer von ihnen sprach. Es war wie eine Teilung unserer Gebiete: Sie sprach zu mir immer von ihren Romanen und Memoiren, ich erzählte ihr von Menschen und den ganz anderen Dingen, die ich las. Wenn ich jetzt ihre grossen Bücher lese, tue ich es mit Ehrfurcht und Staunen: Es war wirklich nur das Beste, das sie wieder und wieder las.“150

Drei Jahre später, 1973, äussert sich Elias Canetti ein weiteres Mal und diesmal präziser zum Lesen und der literarischen Bildung Veza Taubners zu Beginn ihrer Beziehung Mitte 20er Jahre: „Veza war mehrere Jahre älter als ich und viel reifer, von einer erstaunlichen literarischen Bildung, sie kannte nur das beste und las es immer wieder. Ich neigte anfangs dazu, sie als preziöse Ridikule zu sehen, weil sie nur in geistigen Dingen lebte und mit einem hinreissenden Überschwang darüber sprach. Ich empfand sie als ‚Ästhetin‘, in meinen Augen das grösste Schimpfwort. Dann stellte sich heraus, dass sie Aristophanes, Spinoza, Plato, Goethe, Hebbels Tagebücher und sogar, Wunder über Wunder, Lenins ‚Staat und Revolution‘ gelesen hatte. Ich strich beschämt die Segel und anerkannte ihre Überlegenheit. Englisch war ihr besonderes Gebiet. Shakespeare konnte sie halb auswendig. Sie liebte Stifter, gegen den ich mich sehr wehrte, und gab mir, um mich für ihn zu gewinnen, als erstes den Abdias. Sie liebte Stifters Freund Heine. Sie war wie ich von Karl Kraus gefangen, wir gingen zusammen in seine Vorlesungen, und las, im Gegensatz zu mir, der ich sehr fanatisch war, ruhig ihren Heine weiter.“151

Die Universitätsbibliothek Wien ist natürlich höchst interessant bezüglich des Netzwerkes von Veza Canetti. Leider gibt es aber nur indirekte Hinweise auf ein solches. Es lässt sich, beispielsweise was Viktor Kraft, Bibliothekar (Ausbildung und Gewerkschaft) und wissenschaftlicher Beamter der Universitätsbibliothek Wien, anbelangt, kein direkter Kontakt zu Veza Taubner nachweisen, weder im Nachlass von Elias und Veza Canetti noch im Nachlass von Viktor Kraft.152 Von Hermann Broch, einem Freund Veza Canettis, ist hingegen bekannt, dass er bei Viktor Kraft an der Universität Wien Vorlesungen besucht hat.153 Viktor Kraft war Mitglied des Wiener Kreises und wie viele andere Mitglieder auch in der Volksbildung tätig, zum Beispiel hat er in der Urania 1932/33 den Vortrag „Grundfragen moderner Weltanschauung“154 gehalten. Die an der Aspernbrücke – der Hauptverbindung zwischen Leopoldstadt und Innerer Stadt – gelegene Urania hatte sich ursprünglich an den dänischen Volkshochschulen orientiert und war bekannt dafür, dass sie in der Ersten Republik Volksbildung mit den modernsten Mitteln – wie Lichtbildvorträge und Film – betrieben hat.155 Viktor Kraft gehörte innerhalb des Wiener Kreises zum Schlick-Zirkel. Bei Viktor Kraft, der nach dem Zweiten Weltkrieg Generalstaatsbibliothekar wurde und 1947 Professor der Philosophie und Wissenschaftstheorie, hat Ingeborg Bachmann 1949 ihre Doktorarbeit geschrieben.156 Veza und Elias Canetti muss Ingeborg Bachmann schon 1951/52 mehrere Male in London besucht haben.157 Ob dieser Kontakt auf Viktor Kraft zurückgeht oder allenfalls auf

Ernst Schönwiese, einen alten Bekannten der Canettis aus der Volkshochschule Leopoldstadt, dem nachmaligen Chef Ingeborg Bachmanns beim Sender Rot-Weiss-Rot, ist nicht mehr festzustellen.