Read the book: «Veza Canetti zwischen Leben und Werk», page 15

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E3. Salon der Alma Mahler

In den Publizierten und Unpublizierten Lebenserinnerungen Elias Canettis gibt es keinen Hinweis darauf, dass Veza Taubner schon früh – vor 1924 – den Salon der Alma Mahler besucht haben könnte. Mehrere Indizien weisen indessen darauf hin, dass die Autorin in ihrer Jugendzeit – somit vor oder während des Ersten Weltkriegs – in Kontakt mit den Kreisen um Alma Mahler gekommen sein muss, nicht nur über den Bruno-Walter-Chor und die da aktiven Schwestern Levy (Alice Asriel und Tony Wely) sowie Hans Asriel und Fredl Waldinger.

Eine ganz besondere Beziehung muss Veza Canetti zum dritten Ehemann von Alma Mahler, Franz Werfel, gehabt haben. Werfel ist einer der Menschen, die Elias Canetti explizit hasst. Wie oft bei Hass-Objekten des Dichters stehen diese in einer besonderen Beziehung zu Veza Canetti. Ein Grund für den Hass kann aber auch einfach der Neid auf den sehr erfolgreichen und ungleich berühmteren Franz Werfel gewesen sein, der spätestens seit 1924 mit dem Roman Verdi in der breiteren Öffentlichkeit rezipiert wurde.

Ausführlich zu seinen Aversionen gegenüber Franz Werfel äussert sich Elias Canetti in den Unpublizierten Lebenserinnerungen:

„Überhaupt war jener Anfang des Jahres 1934 an Demütigungen reich: Da war der Zusammenbruch des Roten Wien, mir selbst und auch Veza der furchtbarste Schlag; es ist seither nichts mehr in der Welt so gegangen, wie man es sich gewünscht hat. Dann war die Vorlesung der Komödie bei Anna. Broch und Werfel waren anwesend. Anna war beiden zugetan, damals begann ihre Liebesgeschichte mit Broch, die genau so kurz dauerte wie die mit mir. Die Vorlesung verwendete sie dazu, um Broch anzusehen und zu erregen. Sie hörte kaum zu und ihre Abwesenheit teilte sich auch Broch mit. Werfel wurde durch die Komödie an Karl Kraus erinnert und reagierte mit äusserster Feindseligkeit. Das Resultat war ein Fiasko, wie man es sich ärger nicht vorstellen kann. Ich hatte alle meine Hoffnungen an die Komödie gehängt. Nichts von mir war geglückt und nichts war aufgeführt. Manche Menschen in Wien kannten mich und hielten viel von mir. Aber ich war 29 und keines der drei Werke, die zählten, lag der Öffentlichkeit vor. Werfel, der nicht einmal bis zum Ende der Vorlesung blieb, fuhr mich an: ‚So lassen Sie doch die Finger davon!‘ Dann ging er und ich musste weiterlesen. Es waren seine Freunde, in deren Haus ich las, sein Urteil war für sie massgebend. Wenn ich je einen Schock in meinem Leben bekommen habe, so war es damals. Werfels Absicht war, mich an weiterem Schreiben zu verhindern, und ich denke mit Entsetzen, dass er seine Absicht erreicht hat. Ich habe seit jenen Tagen kein dichterisches Werk mehr unternommen. Über 15 Jahre sind vergangen, und ich hatte in den Grinzinger und Amershamer Jahren Zeit und Musse für ein ganzes Oeuvre. An Einfällen fehlte es mir nie; aber es war etwas wie ein ungeheuerliches Schreibverbot in mir wirksam, und ich suchte nach anderen Menschen, die statt meiner schrieben, für diese Katastrophe war Anna verantwortlich und ich habe mich viel später in England auf eine schreckliche Weise an ihr gerächt.“449 Mit hoher Wahrscheinlichkeit hat der Hass auf Franz Werfel schon viel früher begonnen, Sven Hanuschek notiert, indem er sich auf jugendliche Entwürfe von Elias Canetti aus der Zeit vor 1928 stützt: „Und er muss sehr früh schon Franz Werfel kennengelernt haben, lange vor der Verbindung mit seiner Stieftochter Anna Mahler; Canetti scheint von Anfang an mit ihm im Dissens gelebt zu haben. In den frühen Entwürfen findet sich eine ästhetische Debatte mit Werfel, der ihm ‚Dialog-Übungen‘ empfohlen hatte: ‚Dialogübungen, Monologe sind so langweilig wie Predigten, weil sie sich faktisch doch immer an den zweiten richten, der hört oder liest.‘ Und Werfel muss ihm die Devise vorgeschlagen haben: ‚Lächeln – Ahnen – Schreiben!‘ Canettis Gegenvorschlag lautet: ‚Grüssen – Spucken – Glotzen, das sind wir, nicht obiges, verdammter überschwänglicher Priesterschmock Werfel.‘“450 Da keine weitere explizite Quelle darüber Auskunft gibt, wie der Chemiestudent Elias Canetti zu einem Schüler-Lehrer-Verhältnis mit Franz Werfel kam, kann darüber spekuliert werden, wie es zur Bekanntschaft gekommen sein könnte. Ins Auge zu fassen ist erstens die Bekanntschaft von Veza Taubner und Franz Werfel über das Publizieren, Lektorieren und Übersetzen im Zsolnay-Verlag. Zweitens könnte Franz Werfel auch den Salon von Camilla Spitz besucht haben, zumal er mit Hugo von Hofmannsthal befreundet gewesen war. Drittens ergibt sich eine Spur über Ernst Polak, einen guten Freund Franz Werfels aus der Zeit des Literaten-Cafés Arco451 in Prag. Ernst Polak ereilt in den Publizierten und Unpublizierten Lebenserinnerungen Elias Canettis ein ähnliches Schicksal wie Werfel selbst. Als explizites Hassobjekt findet Ernst Polak allerdings nur Eingang in die Unpublizierten Lebenserinnerungen.

Am ergiebigsten ist die vierte Spur: In der publizierten Lebenserinnerung Das Augenspiel und darin im Kapitel zum Künstlertreffpunkt bei Anna Mahler mit dem Titel Operngasse fügt Elias Canetti einen Rückblick auf eine Gesellschaft auf der Hohen Warte im Hause von Alma Mahler ein.

„Er (Franz Werfel, Anm. va) hatte sogar die Menschenliebe, mich zu fragen, wie es mir geht und brachte dann gleich das Gespräch auf Veza, deren Schönheit er bewunderte. Bei einer der Gesellschaften auf der Hohen Warte war er vor ihr niedergekniet und hatte leiblich eine Liebesarie gesungen, immer auf einem Knie, bis zu Ende, und stand erst auf, als er sich sagen konnte, dass ihre Darbietung ihm so gut gelungen war wie einem professionellen Tenor, er hatte eine gute Stimme. Er verglich Veza mit der Rowena, der berühmten Schauspielerin der Habimah, die auch in Wien die Hauptrolle der Besessenen im ‚Dybuk‘ gespielt hatte, alle waren von ihr hingerissen gewesen.“452

Die Handlung des jüdischen Theaterstückes Der Dibbuk von Salomon An-Ski lässt sich folgendermassen zusammenfassen. Der Vater von Lea verspricht seine Tochter einem anderen als dem von ihr gewünschten und geliebten Mann; dieser bricht in seinem Unglück daraufhin tot zusammen. Anlässlich der Hochzeit von Lea mit dem von den Eltern geplanten Bräutigam fährt ein Toter in Lea ein und sie erscheint beim Öffnen des Schleiers durch den Ehemann als Mann. Mit Rowena ist die Schauspielerin Hanna Rovina gemeint, die als Lea bei der Aufführung in hebräischer Sprache grosse Erfolge feierte. Aufführungen dieses Stückes von Salomon An-Ski mit Hanna Rovina in der Rolle der Lea waren nach grossen Erfolgen in Moskau zwischen 1922 und 1926 auch auf einer Europatournee zu sehen. Belegt ist ein Gastspiel in Wien mit Hanna Rovina im Jahr 1926.453 Die Truppe liess sich 1928 in Israel nieder.454

Alma Mahler lebte zusammen mit Franz Werfel erst ab 1931 auf der Hohen Warte, zuvor wohnte sie ab 1914 äusserst zentral an der Elisabethstrasse 22. Interessant in Bezug auf Veza Taubner und Alma Mahler, geborene Schindler, ist die wohnliche Nähe von Alexander Zemlinsky.

Alma Mahler war ab 1901 Schülerin und Geliebte von Alexander Zemlinsky,455 der an der Oberen Weissgerberstrasse 16 (Lehmann’s Adressbuch) wohnte. Alma Schindler und Alexander Zemlinsky haben sich also in unmittelbarer Nähe des Radetzkyplatzes bewegt, der – wie thematisiert – als Zentrum des Familienkosmos der Calderons angesehen werden kann. Alexander Zemlinsky wohnte sogar gerade gegenüber von Vezas Onkel Morris J. Calderon an der Oberen Weissgerbergasse. Mit Ausnahme des Chors von Bruno Walter (im Zusammenhang mit dem Hause Asriel und Fredl Waldinger) gibt es keine Hinweise darauf, dass Veza Taubner bereits in ihrer Kindheit Alma Mahler kennengelernt haben könnte. Für eine Bekanntschaft mit Franz Werfel, der seit 1917 in Wien lebte und ab 1919 mit Alma Mahler befreundet war und vor dem Krieg als Lektor im Kurt Wolff Verlag Leipzig amtete, wo er auch seine ersten Werke verlegte, spricht einiges mehr. Dies, obwohl Werfel mit Karl Kraus schon vor dem Ersten Weltkrieg verfeindet war.456 Ursprünglich war Franz Werfel von Karl Kraus gefördert worden, erste Gedichte vom ganz jungen Lyriker wurden schon im Jahre 1911 in der Fackel publiziert.457

Eine weitere Spur zu einer frühen Bekanntschaft von Veza Taubner und Franz Werfel ist, dass dieser mit Rainer Maria Rilke befreundet gewesen war und dass Elias Canetti in den Publizierten und Unpublizierten Lebenserinnerungen von dieser todessehnsüchtigen Rilke-Anhängerin auf der Raxalpe spricht, von der er Veza Taubner nur mit einem Ultimatum wegreissen konnte. Die Werfel-Rovena-Geschichte könnte erstens darauf hinweisen, dass Veza Taubner womöglich jemand Liebes weggestorben sein könnte, allenfalls ein Freund aus der Zeit vor Elias Canetti – wie in der Dibbuk-Geschichte –; zweitens könnte Franz Werfel einfach nur so etwas wie ein alter Verbündeter Veza Taubners gewesen sein, hatte er sich doch im Jahr 1918 tagespolitisch aktiv für den Sozialismus in Wien eingesetzt und müsste darum ein offenes Ohr für die sozialkritischen Anliegen Veza Taubners gehabt haben.458 „Die österreichische Presse beschuldigte die Mitglieder der Roten Garde, die blutigen Zwischenfälle angezettelt zu haben, verurteilte insbesondere deren Anführer Egon Erwin Kisch als verantwortungslosen Abenteurer, brachte aber auch Franz Werfel in direkten Zusammenhang mit den Geschehnissen.“459

Breitenstein am Semmering, der Sommerwohnsitz von Alma Mahler, und der von Elias Canetti erwähnte Knappenhof auf der Raxalpe befinden sich beide in der Nähe von Reichenbach; ob das in diesem Zusammenhang von Bedeutung ist, kann nicht abschliessend beurteilt werden.

Es gibt mehrere auffällige Parallelen zwischen dem Ehepaar Werfel-Mahler und dem Ehepaar Canetti-Taubner. Beide Frauen sind plus/minus ein Jahrzehnt älter als ihre Männer, beide Frauen sind in Wien aufgewachsen und eng vertraut mit der Kulturszene, beide Männer gehen, kaum ansässig in Wien – Franz Werfel 1917 und Elias Canetti 1924 –, eine Liebesbeziehung mit ebendiesen Wienerinnen, Alma Mahler beziehungsweise Veza Taubner, ein. Beide Ehen werden erst nach ungefähr zehn Jahren Liebesbeziehung geschlossen – 1929 respektive1934. Beiden Ehen wird nachgesagt, dass sie nach der Heirat erkaltet seien. Beide Frauen setzen sich sehr für das dichterische Werk ihrer Männer ein und pflegen intensive Beziehungen zu kulturellen Kreisen nicht nur in Wien, sondern später auch im Exil. Beide Ehepaare verlassen die langjährigen Wohnungen in der Innenstadt und ziehen in die vorstädtische Hügellandschaft: Werfel-Mahlers 1931460 auf die Hohe Warte, Steinfeldgasse 2 in Döbling (Villa Ast, erbaut von Josef Hoffmann 1911), und die Canetti-Taubners 1935 an die Himmelstrasse 30 in Grinzing. Beide Ehepaare werden durch den Anschluss Österreichs an Hitlerdeutschland 1938 gezwungen ins Exil zu gehen, das Ehepaar Mahler-Werfel landet in New York und das Ehepaar Canetti-Taubner in London.

Im Gegensatz zu Elias Canetti hat sich Franz Werfel bereits in der Zwischenkriegszeit zum Bestseller-Autor entwickelt, er stirbt 1945 mit nur 55 Jahren an einem Herzinfarkt. Elias Canetti hingegen feiert seine grossen Erfolge verzögert durch den Zweiten Weltkrieg erst ab den 70er Jahren und stirbt 1994 hochbetagt im Alter von 89 Jahren. Alma Mahler überlebt nicht nur ihren Mann um fast 20 Jahre, sondern obendrein die um 18 Jahre jüngere Veza Canetti um anderthalb Jahre. Ob sich Franz Werfel für die künstlerische Seite von Alma Mahler, das Komponieren, eingesetzt hat, musiziert hat man auf jeden Fall zusammen, ist unbekannt. Bekannt ist hingegen, dass Alma Mahler sich mindestens in der Anfangsphase ihrer Beziehung beratend mit der Dichtkunst ihres Mannes auseinandergesetzt haben muss. Die gegenseitige Unterstützung und Zusammenarbeit zwischen Veza und Elias Canetti ist ein sehr weites Feld und harrt einer detaillierten Untersuchung.

Trotz diesen doch erstaunlich vielen Parallelen zwischen den beiden Ehepaaren ist eine nähere Bekanntschaft, ja Freundschaft zwischen den beiden Frauen nicht zu belegen, es scheint sogar so, dass Veza Taubner vor allem Franz Werfel gut gekannt haben muss. Politisch stand sie diesem bestimmt näher als den Ideen Alma Mahlers, die trotz des jüdischen Ehemannes nicht nur am Judenhass festhielt, sondern auch am austrofaschistischen Ständestaat. „Im Salon Alma Mahler-Werfels scheuen sich Ödön von Horvath, Franz Theodor Csokor, und Carl Zuckmayer nicht, mit den Regierungsmitgliedern des Ständestaates und den fragwürdigen Kulturpolitikern der ‚Vaterländischen Front‘ zusammenzutreffen.“461

F. Angelpunkt Vorlesung Karl Kraus

Gut dokumentiert durch die Publizierten Lebenserinnerungen von Elias Canetti ist Veza Taubners Besuch der Vorlesungen von Karl Kraus für das Jahr 1924, sie muss aber schon längere Zeit zu den Zuhörern gehört haben. Genaueres ist dazu leider nicht bekannt. „Sie war wie ich von Karl Kraus gefangen, wir gingen zusammen in seine Vorlesungen, und las, im Gegensatz zu mir, der ich sehr fanatisch war, ruhig ihren Heine weiter. Sie war überhaupt nicht zu beeinflussen.“462 Elias Canetti scheint hingegen weit ins Exil hinein der Welt Karl Kraus’ verhaftet geblieben zu sein, wie verschiedene unpublizierte Aufzeichnungen offenbaren. Gut zu belegen sind im literarischen Werk von Veza Canetti hingegen intertextuelle Bezüge zu Karl Kraus’ Werk, beispielsweise die Themen das Kreuzsymbol oder die Musik als Diskussionsform unter anderen.

Dagmar Lorenz schreibt: „Veza Canetti was closely associated with Kraus and his circles.“463 Da fast alle Wiener Dichter, Künstler, Journalisten in irgendeiner Phase ihres Lebens oder regelmässig Karl Kraus’ Fackel gelesen haben oder seine Vorlesungen besuchten, ist akkurat dies, eine intensivere Freundschaft mit Karl Kraus, vorerst mit keiner konkreten Quelle zu belegen. Alle Indizien weisen eher darauf hin, dass Veza Taubner nicht zum engeren Freundeskreis um Karl Kraus gehört haben muss, ganz auszuschliessen ist dies indessen nicht. Bestimmt haben jedoch die Vorlesungen Karl Kraus’ für Veza Canetti – wie für sämtliche Intellektuellen Wiens – als Katalysator zum Kennenlernen von neuen interessanten Leuten aus den Bereichen Kultur und Politik gewirkt. Bei Elias Canetti werden allerdings nur Hans Asriel und Hermann Broch explizit erwähnt.

„Die Wildheit in Vezas Geschichten, das was sie heute so erstaunlich macht, kommt natürlich von Karl Kraus. Dasselbe, wenn auch auf etwas andere Weise, geschah mit mir. Soweit wir als Schreibende verwandt erscheinen, ist das durch den gemeinsamen Ursprung zu erklären. In einer Vorlesung von Karl Kraus haben wir uns kennen gelernt und sind sehr lange darin geblieben.“464 Wie bereits in Veza Canetti im Kontext des Austromarxismus erläutert, kann der Einfluss Karl Kraus’ auf die literarischen Darstellungsmethoden von Veza Canetti auf komplett verschiedenen Ebenen und in divergenten Perspektiven gezeigt werden. Beispielsweise gehen Veza Canettis viel angewandtes „Ausreden lassen“ oder die „fremde Wortmanier als Perspektive und Position“ auf Karl Kraus zurück und damit indirekt sogar auf Johann Nestroy.465 Weiter sind „Polyphonie“, „Montagetechnik“ und „Totalität“466 sowie Methodik der „Absolut-Satire“ im Spannungsbereich der „Zitatenmontage“467 bei Veza Canetti im Zusammenhang mit dem Werk von Karl Kraus zu sehen. Die Autorin hat sich ausserdem mit aus heutiger Perspektive ziemlich speziellen Ideen von Karl Kraus auseinandergesetzt, beispielsweise der „Operette oder die finale Struktur von Kunst“, wie das anhand des Theaterstückes Der Tiger nachgewiesen werden kann.468 Veza Canetti lässt im Theaterstück Der Palankin nicht nur Pasta, die Sängerin und Saloniere, die Operettenmethodik des Diskurses wie von Karl Kraus als Theorie eingebracht anwenden, sondern lässt in der Tat kurz vor dem Höhepunkt dieses Geschehens den Bildhauer Holle ein Originalzitat von Karl Kraus in die Diskussion unter den Künstlern einwerfen: „Wart Frieda Schanz, nennst noch einmal statt B ö c k lin Böck l i n du mich, dann nehm ich ein Stöcklin und heb dir auf dein Dichterunterröcklin …“ Der angefangene Satz wird daraufhin vom Dichter Tell mit den Worten beendet: „Ich heisse nicht Böck l i n, ich heisse B ö c klin.“ (DF 118)469

Dieser eher satirischen Auseinandersetzung mit Karl Kraus stehen aber auch ernstere Themen gegenüber, wenn Veza Canetti zum Beispiel im Drama Der Oger oder dem gleichnamigen Kapitel im Roman Die gelbe Strasse elementare Auseinandersetzungsstrategien aus dem mit viel Aufwand in der Fackel besprochenen Ehebruchprozess P aufnimmt.470 Zudem kann gezeigt werden, dass Veza Canetti die Fotografie mit dem gekreuzigten Jesus, dem das Kreuz von einer Granate weggesprengt worden war, die Karl Kraus gleich mehrfach abgebildet und besprochen hatte, als Ausgangspunkt für eine neu zu denkende Ethik und einen damit einhergehenden Menschenrechtsdiskurs verwendet hat.471 In der intertextuellen Aufnahme dieser etwas speziellen Kreuzmetaphorik Karl Kraus’ zieht Veza Canetti mit Hermann Broch gleich.

ZWISCHEN: Pseudonym – oder die Gefangene der eigenen Identität

Ein weites Feld für Spekulationen ergibt die Tatsache, dass Veza Canetti zu Lebzeiten nur Texte unter Pseudonym veröffentlicht hat. Einerseits kann damit argumentiert werden, dass viele Autoren und Autorinnen der Zwischenkriegszeit unter Pseudonym publiziert haben, gerade auch Frauen. Andererseits eröffnet sich genau an diesem Punkt ein zweites, gesellschaftspolitisch gesehen noch weiteres Feld für Spekulationen. Im Falle von Veza Canetti sind bis heute keine Briefschaften, Manuskripte, Notizen und weiteres, mit Ausnahme von Ausweis und Zeugnis, bekannt, die den Namen Veza oder Venetiana Taubner tragen. Ob das bei Veza Canetti-Taubner etwas mit dem Gefühl, der Gefangene der eigenen Identität zu sein, zu tun hat, wie es Dieter Thomä dem Philosophen Michel Foucault zuschreibt, ist gut möglich. „Wenn Foucault sich der Neugier seiner Gesprächspartner widersetzt, so tut er dies nicht, weil ihm jene Präsenz prinzipiell fremd wäre, sondern deshalb, wie er mit der Art der Präsenz, die ihm zugemutet wird, nicht einverstanden ist. Daher rührt auch seine Zurückweisung eines ‚Ich‘, das sich gewissermassen in dieser Präsenz festsetzt und sie auf Dauer stellt. In wunderbarer Zuspitzung tritt diese Abwehr des Gefühls, ‚der Gefangene (…) der eigenen Identität‘ zu sein, in einem Ausspruch aus dem Jahr 1975 heraus: ‚Ich bin mit meinem Leben glücklich, nicht so sehr mit mir selbst.‘“472

Bereits vor der Heirat mit Elias Canetti hat Veza Taubner sich in einem Brief an Hermann Kesten als Veza Magd-Canetti bezeichnet und ihre Adresse in der Ferdinandstrasse 29 auch mit diesem Namen angegeben. Nach der Heirat und im Exil hingegen wird sie durchwegs ihren offiziellen Namen Veza oder Venetiana Canetti verwenden und erst 1951473 damit beginnen, als Absender/Briefkopf Veza J. Canetti zu notieren. Das J. zwischen Vor- und Nachnamen wurde von der literaturwissenschaftlichen Forschung als Kürzel für Jüdin angesehen. Es sind indessen verschiedene Lesarten dieses Sachverhalts erwägenswert. Zum Beispiel werden die Söhne des Grossvaters von Veza Taubner immer mit einem J. zwischen Namen und Vornamen angegeben, was heisst, dass sie die Söhne von Josef M. Calderon sind, für die Töchter wird dieses Kürzel nicht verwendet. Im Gegensatz zum Absender bleibt die Unterschrift unter den Briefen, ob mit Maschine oder handschriftlich, aber stets Veza Canetti, Veza, Venetiana oder Venetiana Canetti. Erst am 3. März 1963 – also wenige Wochen vor dem Tod – ändert sich dies und Veza Canetti unterschreibt einen Brief an Dr. Suchy mit (Mrs) V. J. Canetti.474

Dazu passt gut, dass Elias Canetti, sich selber oder jemand anderen in den Unpublizierten Lebenserinnerungen unter dem Stichtag „Wien, September 1929“ zitierend, notiert: „‚Eine Geschichte schreiben: Ich auseinandergespalten in fünf, sechs Figuren. Sie muss in eine groteske Gemeinschaft dieser fünf, sechs münden, um zu beweisen, wie lächerlich die weitverbreitete Fiktion von der Einheit der Persönlichkeit ist.‘“475

In Die Fackel im Ohr erläutert Elias Canetti, Veza sei der Meinung gewesen, seine Mutter schreibe und publiziere heimlich unter einem Pseudonym. „‚Sie hält uns alle für Schwätzer. Mit Recht. Wir bewundern die grossen Bücher und reden nur immer davon. Sie macht sie und verachtet uns alle so sehr, dass sie zu niemandem davon spricht. Einmal werden wir’s erfahren, unter welchem Pseudonym sie veröffentlicht. Dann werden wir uns schön schämen, dass wir’s nie gemerkt haben.‘“476 Mit Bestimmtheit trifft das, was Elias Canetti Veza über seine Mutter sagen lässt, aus heutiger Perspektive für das Schreiben von Veza Canetti selbst zu. Nicht nur hinsichtlich ihres Publizierens unter Pseudonym seit 1932, sondern auch in Bezug auf die erfolgreichen – wie Elias Canetti sie nennt –, jedoch heute unbekannten Publikationen davor. Aber auch der zweite Teil dieser kurzen oben zitierten Passage in Die Fackel im Ohr hat es bezüglich der Parallele zu Veza Canetti in sich, wenn Elias Canetti den Dialog mit Veza folgendermassen wiedergibt: „Ich blieb dabei, dass das unmöglich sei, ich müsste es bemerken, wenn sie schreibe. ‚Sie tut es nur, wenn sie allein ist. In den Sanatoriumszeiten, wenn sie sich von euch zurückzieht. Sie ist dann nicht wirklich krank. Sie verschafft sich bloss Ruhe zum Schreiben. Sie werden noch einmal staunen, wenn Sie die Bücher Ihrer Mutter lesen!‘“ Gleich mehrfach erwähnt Elias Canetti in den Unpublizierten Lebenserinnerungen, dass Veza in schweren Zeiten von ihrer Familie zur Erholung auf die Raxalpe, das heisst auf den Knappenhof (nomen est omen), geschickt wurde. „Ihre Mutter pflegte sie von Zeit zu Zeit hinzuschicken, wenn die Atmosphäre in der Wiener Wohnung so gespannt war, dass sie für ihr seelisches Gleichgewicht fürchtete. Sie blieb vielleicht eine Woche, selten länger: im Frühling war das Erste, was sie unternahm, ein Besuch auf dem Knappenhof, im Herbst war es das Letzte.“477

Veza Canetti selbst begründet ihre Pseudonymwahl mit dem etwas bärbeissigen Feuilletonredakteur Dr. König: „(…) schrieb in Wien für die Arbeiter Zeitung unter drei Pseudonymen, weil der sehr liebe Dr. König, der wieder eingesetzt ist, mir bärbeissig klarmachte‚ ‚bei dem latenten Antisemitismus kann man von einer Jüdin nicht so viele Geschichten und Romane bringen, und Ihre sind leider die besten‘.“478