Read the book: «Veza Canetti zwischen Leben und Werk», page 14

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E. Salons – Künstlerzirkel

Auf der einen Seite hatten Frauen nach dem Ersten Weltkrieg viel mehr Möglichkeiten, ein selbstbestimmtes Leben zu führen: „Der Kampf um die Emanzipation zeigt nach dem Ersten Weltkrieg erste Erfolge, die Frauen erhalten das Wahlrecht, viele Ausbildungs- und Berufsmöglichkeiten stehen ihnen in der Ersten Republik offen“411, auf der anderen Seite funktionierten viele gesellschaftlich relevante Begegnungsorte wie vermutlich auch der Salon Spitz nach alten Regeln. So dass Elias Canetti treffsicher das Bild Vezas als Analogie zum kultur- und gesellschaftspolitisch geprägten Bild einer Frau des 19. Jahrhunderts, der Bildikone Nanna von Anselm Feuerbach, hier einsetzen konnte. Gleichsam die Thematik erweiternd hat Elias Canetti in seinen Publizierten und Unpublizierten Lebenserinnerungen das Bild Ländliches Konzert Anselm von Feuerbachs gleich mehrfach verwendet. Dieses Bild, das das ältliche ungarische Fräulein in der Pension in Frankfurt so begeistert haben muss, und zwar nicht als Bild, sondern aufgrund der Tatsache, dass der tatsächlich noch sehr junge Elias Canetti ausgerechnet dieses Bild zwischen die Bilder der vielen Nannas von Feuerbach an die Wand geheftet hatte. „Frl. Adler (…) eine ungarische alte Jungfer, die über das ‚Konzert‘ von Feuerbach, den ich in unserem Wohnzimmer aufgehängt hatte, in Entzücken geriet.“412 Genau dieses Bild mit den zwei Musikern und den zwei nackten Musen deutet auf einen Sachverhalt hin, der über das ikonografisch bei Feuerbach Gezeigte hinausweist. Hält doch nicht der zweite Musiker die Flöte in der Hand, sondern die den beiden zugewandte Muse. Entsprechend führt Elias Canetti hinsichtlich der Ebenbildlichkeit von Veza und Nanna dann weiter ins Treffen: „Wenn sie auch keine Malerin war, obwohl sie schon früh eine Anlage dazu gezeigt hatte, so war sie doch immerhin gemalt, und zwar von einem Maler, der lange vor ihrer Zeit gelebt hatte. Seine Nana sah man damals überall reproduziert, sie war beinahe so beliebt wie später die Sonnenblumen von Van Gogh.“413

Kurz gesagt, wenn schon Nanna beziehungsweise Veza keine Malerin ist, dann aber mindestens das Bild oder die Muse eines Malers. Exakt diese Gegebenheit nimmt Elias Canetti auf, wenn er anfangs der 90er Jahre rückblickend in einem Text über Vezas Schreiben notiert: „Sie war in allen manuellen Dingen äusserster Geschicklichkeit, sie nähte, sie schrieb, sie malte, als wäre es nichts.“414 Die Erwähnung von Schreiben in dieser seriellen Aufzählung weist wiederum auf das Bild der Muse zurück, die die Flöte in der Hand hält, jedoch mindestens auf dem Bild nicht spielt. Im Kontrast dazu steht die Erzählung Pastora von Veza Canetti. Mit der Figur der Pastora und ihrer ästhetischen Gleichsetzung mit der Nanna von Anselm Feuerbach eröffnete Veza Canetti nicht nur den sozialkritischen Diskurs um die Magd oder Kontoristin an sich, sondern damit auch den Diskurs um die Figur der Muse allgemein und den um die Nanna insbesondere.

Vollends anders als Elias Canetti werten Gürtler und Schmid-Bortenschlager hingegen die Rolle von Frauen in verschiedenen Salons der Zwischenkriegszeit. Sie schreiben entsprechend in ihrem Band Erfolg und Verfolgung bezüglich der österreichischen Schriftstellerinnen von 1918–1945: „Autorinnen nehmen ihren Platz in den Künstlerzirkeln von Wien, München oder Berlin ein (…) wo sie die traditionelle Rolle der Freundin wichtiger Männer spielen, wo ihre intellektuellen und künstlerischen Fähigkeiten aber auch Anerkennung finden.“415 Ganz so optimistisch gibt sich Veza Canetti selbst zur Szene der Salons nicht, wenn sie im Theaterstück Der Tiger nur zwei unabhängige Künstlerinnen im Salon der Opernsängerin Pasta auftreten lässt: die junge Bildhauerin Diana sowie die Tänzerin Buff. Die Gäste des Salons Spitz wie auch des Salons von Pasta, der explizit in den Worten der Autorin im Alten Wien angesiedelt ist, lassen ausserdem nicht auf einen dezidiert linken Salon oder Künstlerzirkel schliessen.

Es lassen sich zudem zwei weitere Künstlerzirkel nachweisen, in denen Veza Taubner verkehrt haben muss und die ebenfalls Affinitäten zu den Salons des Alten Wien zeigen, nämlich der Salon von Trude Schmidl-Waehner und das Künstleratelier von Carry Hauser mit der Officina Vindobonensis.

E1. Bohèmenhafter Künstlersalon Trude Schmidl-Waehner

„Als Malerin und Grafikerin richtet sich Trude Waehner Anfang der 1920er Jahre ein Atelier im Elternhaus ein, welches zum Treffpunkt für Künstler, Gelehrte, Schriftsteller und Kunsthistoriker wird. Die Kunsthistoriker Ernst Kris und Ernst H. Buschbeck, der Mathematiker Karl Menger, der Nationalökonom und Soziologe Otto Neurath, der Philosoph Karl Popper und viele andere zählen zu den ständigen Besuchern dieser Treffen.“416 Desgleichen schreibt Paul Lützeler in Hermann Broch und die Moderne: „Einen bohèmenhaften Künstlersalon in Wien führte Trude Waehner in der elterlichen Wohnung im achten Bezirk. (…) auch im New Yorker Exil gehörte sie zum Freundeskreis Brochs.“417

Trude Schmidl-Waehner (1900–1979) scheint nicht nur Hermann Broch, sondern genauso Veza Canetti gut gekannt zu haben, wie drei Briefe Veza Canettis an Trude Schmidl-Waehner im Österreichischen Literaturarchiv sowie der Einsatz von Trude Schmidl-Waehner für die Affidavits der beiden Canettis für ein Exil in den USA deutlich machen.418 Veza Canetti schreibt an Trude Schmidl-Waehner: „I always had great admiration for your vitality and acitve mind, I’m sure your book will succeed and Broch would never praise your ideas, without cause.“419

Sie fügt in diesem Brief in seltener Offenheit an, wie zunehmend kritisch sie ihre eigene Rolle im Leben gesehen haben muss: „What concerns myself, all my masts are broken, and I myself am my greatest disappointment. On your very interesting views about art (I think you are perfectly right.) I am forbidden to comment, for that is where Canetti comes in. He has for same time forsaken poetry and dedicates himself entirely to the work of his life, his Mass-Psychology …“420 Die Briefe Veza Canettis an Trude Schmidl-Waehner in New York drehen sich jedoch sonst vor allem um die Verlagsproblematik im Exil allgemein und spezifisch den Roman Die Blendung betreffend. Dies hat seinen Grund darin, wie aus einem Brief von Trude Schmidl-Waehner in Exilarchiv in Frankfurt hervorgeht, dass Elias Canetti noch im März 1938 für den österreichischen Werkbund – eingeladen von Prof. Josef Frank, Oskar Kokoschka und Trude Schmidl-Waehner – einen Vortrag über den Roman Die Blendung hätte halten sollen.421 Genaues in Bezug auf die schriftstellerischen Tätigkeiten Elias Canettis weiss Trude Schmidl-Waehner indessen nicht, auch nicht über den Inhalt des Romans Die Blendung. Sie irrt sich zudem, wenn sie meint, Elias Canetti hätte schon viele kleinere Arbeiten in Zeitschriften publiziert, da verwechselt sie ihn wohl mit Veza Canetti. Vielleicht hat dieses Vorkommnis seinen Grund darin, dass Trude Schmidl-Waehner ab 1928 an der Kunstklasse von Paul Klee in Dessau studierte. Bereits 1933 musste sie allerdings wieder nach Österreich zurückkehren, weil sie sich in Deutschland sehr kritisch gegen den Faschismus geäussert hatte.422 Womöglich wollte Schmidl-Waehner aber auch Veza Canettis Arbeiten, die in erster Linie in linken Organen veröffentlicht worden waren, gar nicht erwähnen, um ein allfälliges Affidavit für die USA nicht zu gefährden.

Der Sarkasmus in den Briefen Veza Canettis an die Freundin in Amerika – „And its about time. For to me personally something outrageous happened: – I grew old. What concerns Canetti, he is still young, though his health is poor“423 – sowie das Einbringen von Respekt und Bewunderung gegenüber dem Werk der fast gleichaltrigen Trude Schmidl-Waehner offenbaren mehr Vertrautheit zwischen den beiden Frauen, als es allein aufgrund der Briefe rund um das Affidavit für die USA zu erwarten gewesen wäre. Veza Canetti schreibt beispielsweise an Trude Schmidl-Waehner im Mai 1944: „I have a very egoistic project with you, when we meet again, I want you to portray Canetti.“424 Aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg sind keine Kontakte zwischen den beiden Frauen bekannt. Trude Schmidl-Waehner muss in den 50er Jahren die Vereinigten Staaten verlassen haben, daraufhin auf einem Bauerngut in Frankreich und später in Venedig gelebt haben, bevor sie nach Wien zurückkehrte.425 Wohnhaus und Atelier in der Buchfeldgasse in Wien – ihr Elternhaus, das sie beim Gang ins Exil fluchtartig verlassen musste –, konnte sie nach dem Zweiten Weltkrieg nur mit langwierigen juristischen Mitteln zurückerkämpfen. Nicht vollständig geklärt ist das unrühmliche Verhalten Heimito von Doderers im Streit um das Wohnobjekt Buchfeldgasse, hatte er doch das Atelier von Trude Schmidl-Waehner zusammen mit Albert Paris Gütersloh schon 1938 bezogen, so wollte er es bei der Rückkehr von Trude Schmidl-Waehner nach Ende des Krieges vorerst nicht an die rechtmässige Besitzerin zurückgeben.426

Der Salon von Trude Schmidl-Waehner in der Zeit des Roten Wien verbindet die Welt der Künstler, Dichter mit der Welt der Wissenschaftler, wie die Gästeliste zeigt, die einerseits zwischen dem Wissenschaftstheoretiker und Soziologen Otto Neurath, dem Mathematiker Karl Menger, dem Philosophen Karl Popper sowie den Kunsthistorikern Ernst Kris, Hans Tietze, dem Architekten Josef Frank und den Dichtern Hermann Broch, Veza und Elias Canetti und weiteren changiert. Eine etwas kryptische Aufzeichnung Elias Canettis aus dem Jahr 1984, die Exilzeit in Hampstead betreffend, macht deutlich, dass dieser den Leuten des Wiener Kreises sehr kritisch gegenübergestanden ist: „Immer wieder gerät er an die Geschichte der Wiener Täter: Popper, Wittgenstein, jetzt sogar Neurath. (Dieser: ein Physiker als eine Art von Neanderthaler.)“427 Ganz unverständlich ist in dieser Reihe von Namen der Hass auf Otto Neurath, hat sich doch Veza Canetti mit dessen Felicitologie in ihrem literarischen Werk auseinandergesetzt. Otto Neurath hat sich nicht nur als Mitglied des Wiener Kreises und als einer der Verfasser der Wissenschaftlichen Weltauffassung einen Namen gemacht, sondern er gilt als Sozialist der ersten Stunde, war er de facto bereits in der Bayerischen Räterepublik tätig gewesen und hat sich danach sehr für den Austromarxismus engagiert.

Im Gegensatz zum Salon von Trude Schmidl-Waehner war der Salon Spitz mit hoher Wahrscheinlichkeit eher geprägt von der Journalisten-Zunft und von Dichtern der Wiener Moderne oder des Jung Wien.

E2. Officina Vindobonensis

Der dritte Künstlertreffpunkt oder Salon, in dem Veza Taubner schon in den 20er Jahren verkehrt haben muss, ist derjenige in der Officina vindobonensis; so wurde das Atelierhaus des Fotografen Robert Haas (1898–1997) und des Malers Carry Hauser (1895–1985) genannt.428 Nicht nur zu den Atelierfesten in der Officina Vindobonensis trafen sich ab 1925 vor allem bildende Künstler wie Fritz Wotruba, Alfred Kubin, Anton Faistauer, sondern überdies Schriftsteller wie Franz Theodor Csokor.429 Von Carry Hauser und Georg Ehrlich ist bekannt, dass sie sich wie Trude Schmidl-Waehner in der Künstlervereinigung Hagenbund engagierten. Bis 1938 druckte das Grafikatelier Officina Vindobonensis insgesamt 21 künstlerisch gestaltete Bücher wie zum Beispiel Werke von Hugo von Hofmannsthal, Ferdinand von Saar oder dem katholischen Geistlichen und Dichter Heinrich Suso Waldeck.430

Der Maler Carry Hauser hatte 1918 für Franz Theodor Csokors Die rote Strasse das Bühnenbild entworfen. Unter Umständen eine erste eindrückliche Begegnung Veza Taubners mit dem Theaterstück Csokors, dem eine sozialkritische Auseinandersetzung im Roman Die gelbe Strasse gefolgt ist. Natalie Lorenz hat in ihrer Forschungsarbeit zu Veza Canettis Roman, wie schon erwähnt, auf den ironischen Seitenhieb der Autorin auf Franz Theodor Csokor aufmerksam gemacht. Der Name Vlk, das tschechische Wort für Wolf, das die Autorin für den Kapitalisten verwendet, entspricht der Tatsache, dass sich Csokor selbst gerne als Wolf bezeichnet hat. Nathalie Lorenz geht aber noch weiter, wenn sie schreibt: „Zum einen verdeutlicht Herrn Vlks Verhalten, dass auch auf dem Gebiet des Glaubens das Geld regiert und man sich die Aufmerksamkeit der Kirche erkaufen kann. Zum anderen wird gezeigt, dass sich der Geistliche als unfähig erweist, auf die zwar absurden, aber dennoch Hilfe suchenden Fragen von Herrn Vlk einzugehen. Religion erscheint so als blosse Hülse, die den rein formalen Fragen inhaltlich nichts zu entgegnen vermag. Des Weiteren wird besonders durch die Diskrepanz zwischen dem sich bekreuzigenden Privatmann Vlk und dem in der Öffentlichkeit rücksichtslos handelnden Kapitalisten Vlk auf die Wirkungslosigkeit institutionell propagierter Nächstenliebe verwiesen.“431

Über eine ähnliche Diskrepanz zwischen dem Denken und Handeln des Dramatikers Franz Theodor Csokor schreibt Veza Canetti an Dr. Schönwiese im Jahre 1955:

„Ich habe vier Theaterstücke geschrieben und mit einer edelmütigen Empfehlung von Franz Czokor sind sie gelesen und gelobt, aber abgelehnt worden.“432 Ab dem Jahre 1947 war Franz Theodor Csokor Präsident des österreichischen P.E.N.-Clubs. Leider scheinen sich direkte Quellen zum Kontakt zwischen Veza Canetti und Franz Theodor Csokor, wie Briefe, nicht erhalten zu haben. Dieser indirekte Hinweis auf den Dramatiker weist aber darauf hin, dass Veza Canetti diesen relativ gut gekannt haben muss. Csokor ist die Figur, die bereits in frühen Netzwerken oder Freundeskreisen Veza Taubners auftaucht, wie im Asriel-Waldinger-Komplex als Freund der Dichter Ernst Waldinger und Alfred Grünewald oder im Salon der Camilla Spitz als Freund von Richard Billinger und eben im Atelierhaus Vindobonensis als Freund von Carry Hauser.

Es stellt sich natürlich nun die Frage, war Franz Theodor Csokor bekannt, dass Veza Canetti ihn und sein Werk Die rote Strasse im Roman Die gelbe Strasse sozialkritisch dekonstruiert hat, und wenn ja, was hat das für Auswirkungen auf seinen Einsatz für Veza Canetti als Dichterin gehabt? Da die Figur des Kapitalisten Vlk im Roman Die gelbe Strasse ausschliesslich in den Teilen entwickelt wird, die nicht schon als Erzählungen in den 30er Jahren publiziert worden sind, ist sehr gut möglich, dass Veza Canetti diese Figur relativ spät, beispielweise während des Exils konstruiert und in den Roman eingebaut hat. Dies wiederum könnte im Zusammenhang stehen mit dem bereits zitierten Briefausschnitt an Dr. Schönwiese, der von Veza Canetti folgendermassen weitergeführt wird: „(…) aber abgelehnt worden – Jetzt ist ein Roman fertig und ich möchte bitten: können Sie mir in Oesterreich einen Verlag empfehlen lassen, der Romane bringt, die nicht ‚für the happ few‘ sind, nicht highbrow sondern nur Unterhaltungsromane mit Niveau?“433 Dieser Sachverhalt kann nicht geprüft werden, da die Manuskript-Vorstufen zum Roman fehlen.

Wie Franz Theodor Csokor kehrte auch Carry Hauser kurz nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Exil nach Wien zurück. Der Fotograf und Grafiker Robert Haas hingegen blieb im amerikanischen Exil. Er wurde bis zu seinem Tod im Nachkriegs-Österreich weder ausgestellt noch berücksichtigt. 434 Dieses Schicksal verbindet ihn mit Veza Canetti, wie ferner die Tatsache, dass er während der Zeit des austrofaschistischen Ständestaates der Beilage des Wiener Tag, nämlich in Der Sonntag, veröffentlichen konnte. Hier veröffentlichte Veza Canetti 1937 die Erzählung Der Hellseher.435 Der Sonntag galt als letzte Publikationsmöglichkeit für viele liberale und eher linke Künstler. Die Sonntags-Beilage galt als sogenannter „liberaler Lichtschein“. 436

Robert Haas’ langjährige Wiener Freundin trägt den Namen Gusti Weiss. Von Beruf ist sie Kunstlehrerin und Fotografin, 437 der Kontakt ihrer Mutter Gertrud Weiss438 zu englischen Freunden hat dazu geführt, dass sie zusammen mit Robert Haas ins Erstexilland England ausreisen konnte. Zu Gusti Weiss, die – was Beachtung verdient – im Namen gleich zwei wichtige Reflektorfiguren aus dem Werk Veza Canettis der 30er Jahre in sich vereint, nämlich erstens den der Gusti, der aus sozialistischer Perspektive agierenden Figur, und zweitens den der Weiss, deren Name für gerechte Urteile steht.439 Ob die Kunstlehrerin Gusti Weiss in irgendeinem Zusammenhang steht mit der Gusti Weiss, die 1934 im Franz-Schneider-Verlag das Kinderbuch Im Mittelpunkt Renate440 veröffentlicht hat, ist schwer nachzuweisen. Das Buch ist geschmückt mit ungefähr zehn gezeichneten Illustrationen. Falls tatsächlich die Wiener Kunstlehrerin Gusti Weiss als Autorin oder Zeichnerin des Buches in Betracht kommt, bringt das unter Umständen Veza Canetti mit einem Ghostwriting für die Textpassagen oder einem allfälligen Lektorat ins Spiel. Die Verwendung von viel direkter Rede spricht dafür, der Handlungsort Deutschland eher nicht. Im Zentrum des Geschehens in dieser Geschichte, einem Entwicklungsroman im weitesten Sinne, steht ein Lotto-Gewinn, mit dem Renate versucht, das Geldproblem in ihrer Familie zu lösen. Eine wichtige Figur für Renate ist ihre Tante Hedwig, diese schenkt ihr ein Tagebuch. Akkurat in diesem Tagebuch aber hat Renate ihr Los versteckt und es leider sofort wieder vergessen, sodass sie den Gewinn nicht einlösen kann. Im letzten Moment findet Renate, als sie ihr Ungemach dem Tagebuch anvertrauen will, auch das Los wieder: „Sie setzt sich bequem hin, taucht die Feder ein und öffnet das liebe gute Tagebuch. Und da – Reni stösst einen leisen Schrei aus – da liegt das verlorene Los. Da liegt es glatt und bunt zwischen den letzten beschriebenen Seiten.“441 Nicht nur damit, dass Reni nun mit ihrer Mutter eine Reise antreten kann, wird ihr Glück perfektioniert, sondern es kehrt zudem noch der seit einigen Jahren verschollene Vater zurück. Aus dem Briefwechsel von Veza Canetti mit Ernst Schönwiese geht hervor, dass Hedwig für Veza Canetti ein besonderer Name ist. „(…) lieber Geschichten über Hausfrauen schreiben, besonders wenn sie den schönen Namen Hedwig haben (…)“442

Die Bedienerin mit dem Namen Hedwig, genau Hedwig Adenberger, spielt in zwei Erzählungen Veza Canettis aus den 30er Jahren eine Rolle, allerdings auf den ersten Blick nur am Rande des Geschehens, erstens in der Erzählung Ein Kind rollt Gold und zweitens in der Erzählung Der Zwinger. Sie ist die Mutter des Kindes, das Gold rollt, nämlich der Hedi – wahrscheinlich eine Kurzform von Hedwig –, viel mehr ist über ihre Lebensumstände nicht bekannt mit Ausnahme davon, dass sie so nett war, den Hund Grimm ihres verstorbenen ehemaligen Arbeitgebers, eines Sprachforschers, aufzunehmen, weil niemand ihn haben wollte; „so ein grosses Tier frisst und kostet viel“443. Exakt dieses Tier lernt von ihrer Tochter, der Hedi, also der kleinen Hedwig, Essen fair zu teilen. In der Erzählung Der Zwinger tritt Hedwig Adenberger hingegen nur in einem Nebensatz als Geberin der Groschen auf, die Hedi gerne an das Anstaltskind Helli spendet. Beide Erzählungen wurden für den Roman Die Gelbe Strasse verwendet, das heisst in dessen Kapitel Der Zwinger eingearbeitet. Mit der Erzählung Ein Kind rollt Gold hatte Veza Taubner 1933 den zweiten Preis beim Preisausschreiben der Arbeiter-Zeitung gewonnen. Den Namen Adenberger trägt auch eine zweite Figur im Erzählkosmos Veza Canettis in den 30er Jahren. Es ist das Dienstmädchen Emma Adenberger, sie ist die Schwester Hedwigs. In der Erzählung Der Kanal und im gleichnamigen Kapitel im Roman Die gelbe Strasse wird sie von der Dienstbotenvermittlung fast zu einer Prostituierten gemacht. In der Erzählung Der Fund – die nicht Eingang in Die gelbe Strasse gefunden hat – wird sie von einem Arzt, in den sie sich verliebt hat, schnöde zurückgewiesen, dafür verliebt sich der Dichter Tell in sie. In beiden Erzählungen wird Emma Adenberger von ihrer Schwester, der Bedienerin Hedwig, getröstet. Diese wie ihre gleichnamige Tochter Hedi sind in ihrer pragmatisch helfenden Art wahrscheinlich die einzigen Figuren in den Erzählungen der 30er Jahre, die ohne Schattenseiten gezeigt werden.

Intertextuell passen die Figur der Tante Hedwig im Kinderbuch Im Mittelpunkt Renate und die Figur der Hedwig Adenberger in verschiedenen Erzählungen Veza Canettis sehr gut zusammen; als Beweis dafür, dass Veza Canetti dieses Kinderbuch beispielweise zusammen mit Gusti Weiss verfasst hat, genügt das aber wohl nicht.

Immerhin notiert der Holocaust-Überlebende H. G. Adler in seinem autobiografisch konnotierten Band Die Wand bezüglich der Autorin Inge Bergmann, die unschwer als Veza Canetti zu erkennen ist: „Einmal verlebten wir mit ihm (Elias Canetti alias Oswald Bergmann, Anm. va) einen Sommer im Süden, da schloss sich uns auch Inge an, ein geistreich glitzerndes Geschöpf, zierlich und schön; sie mochte uns, wir mochten sie und konnten endlos miteinander plaudern. Sie schrieb kurze Landschaftsgedichte, herbe und mitunter etwas spröde Gebilde, auf die sie viel hielt, mehr als auf ihre knappen phantastischen Erzählungen, in denen die unerbittliche Führung der Handlung mit sprunghaft launischen Einfällen wetteiferte, alles in straffen verhaltenen Sätzen. Liebenswürdig spannend waren ihre Kinderbücher, mit denen sie gerade so viel verdiente, um bescheiden leben und Oswald, den oft Geldnöte plagten, kleinere Beträge zustecken zu können. Jene Sommerreise, zwei Jahre vor Kriegsbeginn, beendete aber leider nicht nur unsere kurze Verbindung mit Inge, sondern auch mit Oswald. Beide schrieben uns kaum mehr, und dann hörten wir, dass sie glücklich ins Ausland entkommen waren.“444

Welche der Gesellschaften Elias Canetti gemeint hat, wenn er in den Unpublizierten Lebenserinnerungen schreibt: „Sie war manchmal in Gesellschaften eingeladen, wo sie Künstler der unterschiedlichsten Art traf“445, ist bei der unsicheren Quellenlage nicht abschliessend zu bestimmen. Ins Auge gefasst werden könnte diesbezüglich der Besuch des Salons der Alma Mahler. Nicht nur, weil Elias Canetti Franz Werfel schon zu Beginn seines Wienaufenthaltes Mitte der 20er Jahre gekannt haben muss, wie Sven Hanuschek, aus Entwürfen Elias Canettis zitierend, angibt,446 sondern weil der Mix aus Musikern, Literaten und Künstlern im Theaterstück Der Tiger explizit auch auf den Salon der Alma Mahler zutrifft.

Die ganze Einschätzung dieser Kontakte Veza Canettis, was die Zeit vor ihrer Beziehung mit Elias Canetti in Wien betrifft, wird durch Kommentare überlagert, in denen von verschiedenen Biografen, Rezensenten und weiteren – insbesondere mit Hochkonjunktur in der Zeit nach dem Gewinn des Nobelpreises durch Elias Canetti 1981 – immer wieder darauf hingewiesen wird, welche Wiener Autoren, Autorinnen oder Künstler und Künstlerinnen auch noch Bekannte Elias Canettis gewesen seien. Erst ab Mitte der 90er Jahre und nach der Publikation der Texte Veza Canettis wurden die beiden zunehmend gemeinsam im Zusammenhang mit Künstlern und Autoren der Zwischenkriegszeit genannt. Viele Reaktionen hatte es auf die Publizierten Lebenserinnerungen Elias Canettis gegeben, wo er sehr ausführlich die sich für ihn nach und nach neu ergebenden Bekanntschaften mit berühmten Wiener Grössen beschreibt. Einige in den späten 80er und den 90er Jahren noch lebende Zeitzeugen – vor allem Frauen wie Hilde Spiel und Anna Mahler – haben schon früh darauf aufmerksam gemacht, dass alles anders gewesen sei als durch Elias Canetti beschrieben. Hilde Spiel äussert sich in einem Interview im Jahr 1990 darüber, wie Veza Canetti anfangs 30er Jahre in den Literatenkreisen Wiens eingeschätzt wurde, mit folgenden Worten: „Sie galt als brillantes Talent.“447 Dem entspricht auch, was Herta Blaukopf im Sammelband – Anna Mahler. Ich bin in mir selbst zu Hause – aus einem Brief Anna Mahlers zitierend zusammenfassend schreibt: „Den ersten Teil der Lebenserinnerungen (Die gerettete Zunge) hatte sie (Anna Mahler, Anm. va) gelten lassen, aber bereits vom zweiten Band (Die Fackel im Ohr) gemeint, er hätte ‚gar keinen Charakter‘, nicht zuletzt weil Canettis Frau Veza, mit der Anna befreundet gewesen war, darin ‚unkenntlich‘ sei. Auch er selbst, der Canetti der 1930er Jahre, sei ganz anders gewesen, als er sich selbst darstellte: ‚Wie ich ihn in Wien kannte, voller Gift, Hass und Neid (gegen Erfolgreichere), war er viel interessanter.‘“448