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Veronika R. Meyer

Stromlos

Veronika R. Meyer

Stromlos

Ein Wimmelbild des Schreckens

orte Verlag

© 2016 by orte Verlag, CH-9103 Schwellbrunn

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Radio und Fernsehen,

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Umschlaggestaltung: Janine Durot

Gesetzt in Arno Pro Regular

Satz: orte Verlag, Schwellbrunn

ISBN 978-3-85830-201-4

ISBN eBook 978-3-85830-202-1

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Der grosse Regen

Ein Gewimmel von Regenschirmen da unten. Kaum Menschen zu erkennen, bloss das bunte, ständig wechselnde Ballett ihrer Schirme. Die Musik dazu das ununterbrochene Rauschen des Regens. Julia Kehl blickte aus dem Fenster ihrer Alterswohnung am Spisertor in St. Gallen. Sie war über neunzig, aber sie konnte sich nicht erinnern, dass es früher einmal so lange andauernd geregnet hätte. Sie wusste, dass Erinnerungen täuschen können, aber hatte man je dergleichen gesehen? Immerhin musste sie sich heute nicht ins Schirmballett stürzen. Selber kochen war nicht mehr nötig, was sie genoss, und wenn sie sonst etwas brauchte, fand sie das meiste im Supermarkt, der sich im gleichen Gebäude befand.

Julia trat vom Fenster zurück, fuhr mit dem Lift ins Restaurantgeschoss hinunter und sinnierte über den Regen nach. An ihrem Frühstückstisch wurde Weltuntergangsstimmung zelebriert: «Der Bodensee wird Rorschach schlucken, wenn das nicht bald aufhört.» – «Und das Bähnli nach St. Georgen hinauf wird nicht mehr fahren können, die Steinach bringt zu viel Wasser.» – «Man hätte die geplante Rhein-Sanierung, dieses Rhesi-Projekt oder wie, schon längst bauen sollen. Gestern Abend sagten sie im Fernsehen, wenn das mit dem Regen so weiter gehe, werde der Rhein ins Seeztal hinüberschwappen.» Womit immerhin Rorschach gerettet wäre, dachte Julia. Die Diskussion verstummte ziemlich schnell, als Gipfeli und Brötchen mit reichhaltigen Beilagen serviert wurden und kräftiger Kaffeeduft den Nasen schmeichelte.

Der Himmel selbst schien flüssig geworden zu sein, seit Tagen schon. Konnte man diese Flut überhaupt Regen nennen? Waren das nicht Wasserstürze, fortwährend kippende Löschtanks irgendwo da oben, zerberstende Wolken? Zeitweise sah man durch die Wasservorhänge kaum zum Berner Münster hinüber. Dann und wann beruhigten sich die Elemente zu Nieselregen, um nach einer halben Stunde umso kräftiger Stadt und Land ungeniert begiessen zu können.

Noch vor einer Woche hatte man unter grosser Hitze gelitten; es war erst Mitte Mai, aber die Dreissig-Grad-Grenze war bereits mehrmals überschritten worden. Die Bademeister in den Freibädern freute dies, die Bierfabrikanten auch. Erst vor Kurzem waren auch in den höchstgelegenen Skigebieten die Anlagen geschlossen worden, denn der Winter war schneereich gewesen wie schon lange nicht mehr. Dann aber fiel es auch den unermüdlichsten Snowboardern nicht schwer, das Brett gegen die Badehose zu vertauschen; es war eine Lust, sich in Sonne und Schwimmbad zu tummeln. Bis der Regen kam. Warmer Regen, gleich von Anfang an heftig und nahezu ununterbrochen. Daniel Rüegsegger, der Historiker und Universitätsprofessor in Bern, mochte Regen, je stärker desto lieber; ihn packte jedesmal ein archaisches Gefühl, das er nicht erklären konnte und auch nicht wollte. Vielleicht waren deswegen historische Flut- und Überschwemmungsereignisse eines seiner Forschungsthemen geworden. Eigentlich galt er als Kapazität auf diesem Gebiet, aber ausser ein paar Kolleginnen interessierte sich kaum jemand für diese alten Geschichten.

Am ersten Tag stand er oft am offenen Fenster und genoss das Rauschen. Wunderbar nach dieser Hitze. Später häuften sich die beunruhigenden Meldungen in den Nachrichten. Im Fernsehen und per Webcams konnte er zuschauen, wie die Aare an Wucht zunahm. Die Reguliermassnahmen im Drei-Seen-Land verhinderten anfänglich Überschwemmungen, man hatte aus früheren Hochwassersituationen viel gelernt und wusste jetzt, dass man den Bielersee rechtzeitig absenken musste. Das war Anfang Mai nicht einfach gewesen, denn die Schneeschmelze war in den Bergen in vollem Gang, so dass Lütschine, Kander, Simme und Saane ihre Wasserpracht geradezu jubelnd dem Mittelland entgegen führten. Aber die tüchtigen Mitarbeiter der Regulierzentrale in Bern hatten die Situation im Griff. Hatten sie jedenfalls zu Beginn des Regens.

Daniel Rüegseggers Sorge nahm zu. Am dritten Tag des grossen Regens vertiefte er sich wieder einmal in die Burgunderchronik, welche Diebold Schilling im Auftrag der Berner Räte 1483 fertiggestellt hatte. Eines der jüngsten Ereignisse darin ist die Flutkatastrophe von 1480: Do man zalt von der gebûrt unsers herren und behalters Jhesu Cristi tusent vierhundert und achzig iare an einem dornstag vor sant Marien Magdalenen tag ving es an regen und regnet drig tag und nacht aneinandern, das es nie ufgehort und warent anders nit, dann gros slegregen. Schilling war Augenzeuge und musste sich nicht aufs Hörensagen verlassen.

Am vierten Tag des grossen Regens – ein solches Ereignis war hierzulande historisch nicht belegt, aber warum sollte es unmöglich sein? – überschlugen sich die Schadenmeldungen. Thun stand trotz des Entlastungsstollens unter Wasser, ebenso das Mattequartier in Bern, grosse Teile des Berner Seelands und die Dörfer entlang der Emme. Was nicht an die Öffentlichkeit drang, war eine gehässige Telefonkonferenz auf höchster Regierungsebene zwischen den Kantonen Bern, Solothurn und Aargau: «Sie überschreiten die reglementarisch erlaubte Höchstwassermenge der Aare in Murgenthal jetzt schon seit 29 Stunden! Uns reicht’s!» – «Wir stehen selbst vor einem Desaster! Sind Sie dort unten zu wenig katholisch? Beten Sie doch mal inbrünstig zu Petrus, vielleicht hilft das. Wenn wir einen Ausweg wüssten, hätten wir den Regen schon längst abgestellt. Zehntausende Personen sind im Kanton Bern bedroht!» – «Und jetzt bedrohen Sie noch viel mehr Leute im Solothurnischen und im Aargau. Das hat man von einem Lumpenkanton wie Bern, unfähig und immer schnell am Schieberöffnen beim Regulierwehr Port!» Es war einer Mitarbeiterin in der Telefonzentrale zu verdanken, dass hier die unergiebige Diskussion unter einem fadenscheinigen Vorwand beendet wurde. Drei Regierungsräte sassen zornig, frustriert und voller Angst in ihren Büros und wussten keinen Ausweg. Die Rettungskräfte waren seit Tagen im Einsatz, aber menschliche Ingenieurkunst und Tatkraft wirkten jetzt lächerlich klein. Sandsäcke und schweres Räumgerät gegen ein Jahrtausendhochwasser?

Am fünften Tag waren die Niederschläge endlich weniger heftig, aber der warme Regen hatte die Schneeschmelze erst recht in vollen Schwung gebracht. Die Pegel der Flüsse und Seen stiegen noch immer. Daniel wanderte von seiner Wohnung im Länggassquartier zur Äusseren Enge und in den Kleinen Bremgartenwald, wohlweislich in Gummistiefeln. Der Wald triefte vor Nässe und strotzte gleichzeitig vor lebenskräftigem Grün. An der Geländekante, welche die Aare überragt, blieb er stehen. Der Fluss zwängte sich achtzig Meter unter seinem Standort durch sein Bett, sein gewaltiges Rauschen schien nach mehr Platz zu schreien, seine braune Farbe war ein einziger Protest. Uni-Kollegen aus der Geologie hatten ihm schon vor Jahren erklärt, dass die Aare hier übersteilte Hänge geschaffen hatte, ein Gelände, das noch nicht zur Ruhe gekommen war und sich deshalb noch während Tausenden von Jahren durch Rutschungen da und dort verändern würde, bis die Engehalbinsel, der Kleine Bremgartenwald und eigentlich auch die Autobahn verschwunden wären. Jetzt, wo einige Kilometer flussabwärts ein See, eine Staumauer, ein konventionelles und ein Kernkraftwerk standen, könnte bereits morgen eine Katastrophe eintreten.

Auch in St. Gallen regnete es noch immer stark. Manches dauert in dieser Stadt länger als anderswo, manches macht man gründlicher, das betrifft auch das schlechte Wetter. Julia Kehl blickte auf den Spiserplatz hinunter. Eine Komposition der Trogenerbahn hielt an, einige bunte Schirme stiegen aus, andere ein. Wie oft in den letzten Tagen war sie auch jetzt froh, dass sie bloss beobachten konnte und nicht handeln musste. Eigentlich hatte sie allen Grund, glücklich zu sein: Noch nie hatte sie so sorgenfrei gelebt wie jetzt. Der Körper zwickte zwar da und dort, aber da war nichts Gravierendes. Materiell ging es ihr gut, die Rente reichte für die kleine Wohnung mit Vollpension, sie hatte hier neue Bekannte gefunden, manchmal unternahm sie eine kleine Reise, und sie war jeden Tag neugierig auf alles, was um sie herum und in der Welt passierte.

Aber heute waren die Nachrichten bedrückend. Rorschach lag unter Wasser, und Julia erinnerte sich beschämt an ihren gestrigen Gedanken, dass nämlich dieses Städtchen eher geschützt werden sollte als beispielsweise Sargans. Sie war halt ihr Leben lang ein Bodenseekind geblieben, und alles was sich hinter den Churfirsten oder dem Gonzen befand, lag für sie weit weg. Jetzt hatte man tatsächlich nur mit Mühe verhindern können, dass der Rhein Sargans eroberte, aber die Ebene zwischen Fluss und Dorf war überflutet. Die Behörden befürchteten Dammbrüche am Rhein. An einer besonders kritischen Stelle wurde deshalb eine Autobahnunterführung hastig zubetoniert. Ebenso lag das Gebiet nördlich von Widnau unter Wasser, die Autobahn wurde vorsichtshalber gesperrt, und die Eisenbahn fuhr nicht mehr. Auch die beiden Energy-Wings-Getränkefabriken in Widnau und im vorarlbergischen Nüziders standen im Wasser, was zu einem vierwöchigen Betriebsunterbruch führte – auch wegen der späteren Ereignisse in der Grossregion St. Gallen – und in der Folge weltweit Abermillionen von Jugendlichen frustrierte. Der Firmenbesitzer war wütend bis zur Weissglut, was ihm einen Herzinfarkt bescherte. Dass er ihn überlebte, ärgerte sowohl seine Konkurrenten wie auch seine Kritiker.

Wahre Schreckensmeldungen kamen aus dem St. Galler Oberland. Die Dörfer Weisstannen und Vättis waren durch mehrere grosse Erdrutsche von der Aussenwelt abgeschnitten. Die Arbeiten zur Räumung mussten immer wieder unterbrochen werden, weil weitere Rutsche nicht nur drohten, sondern tatsächlich auch niedergingen. Im Bildschirm von Julias Wohnung stand zitternd ein Mitarbeiter des Werkhofs Mels. «Herr Pfiffner, was geschah an der Strasse nach Weisstannen?» – «Wir versuchten, die Erdmassen im Rauchsteintobel mit zwei Baggern wegzuschaufeln, als ein weiterer grosser Rutsch kam. Ich konnte gerade noch abspringen und wegrennen, weil ich weiter unten arbeitete. Dann musste ich zuschauen, wie Dreck, Felsen und Wasser die beiden Maschinen verschütteten. Kollege Alex Müller konnte sich nicht retten. Ich war machtlos. Immer wieder stürzten Steine hinunter, ich musste mich in Sicherheit bringen.»

Julia schlief so schlecht wie lange nicht mehr. Als sie am nächsten Morgen zum Frühstück ging, lag das nationale Sensationsblatt aufdringlich wie immer auf dem Tischchen beim Empfang. «Alex M. (23) im Weisstannental verschüttet. Wegen anhaltenden Unwetters mussten die Rettungsarbeiten über Nacht eingestellt werden.» Heute schmeckten ihr Gipfeli und Kaffee nicht. Dieser Alex war nur wenig älter als ihre Urenkel.

Auch Daniel Rüegsegger kämpfte in dieser Nacht mit innerer Unruhe und fand keinen Schlaf. Die Aare war heute Nachmittag viel mächtiger unter ihm vorbeigerauscht, als er es sich vorgestellt hatte. Irgendwann hörte er Sirenen, aber das war ja nichts Aussergewöhnliches. Vielleicht mussten in Stuckishaus weitere Keller ausgepumpt werden. Im Vergleich zu den Zivilschützern und Feuerwehrleuten, die jetzt im Dauereinsatz standen, kam er sich wie ein Nichtsnutz vor, in einem ungefährdeten Quartier behaglich im Bett liegend, dabei sich das Konzept für eine weitere Veröffentlichung über irgendein historisches Hochwasser im Kopf zurechtlegend. Oder sollte er sich vielleicht künftig auf genau das jetzige Ereignis konzentrieren und alles, auch das kleinste Detail darüber sammeln und der Forschung zugänglich machen?

Im Gegensatz zu Daniel hatte der Kantonale Führungsstab in Bern das grösste Risiko der aktuellen Situation übersehen. Das war eigentlich nicht verwunderlich; es galt, von Stunde zu Stunde die Rettungskräfte neu zu organisieren, Pumpen und anderes Gerät zu verschieben und immer dort zu intervenieren, wo Hilfe am nötigsten war. Einmal war ein Sondereinsatz an der Kander nötig, weil die örtliche Feuerwehr der Situation nicht mehr Herr wurde, dann war bei Langnau eine Brücke zu schützen, und auch im Berner Mattequartier unten konnten die Menschen nicht im Stich gelassen werden.

Es war gegen elf Uhr nachts als der Wald am Aarehang auf einer Breite von fünfzig Metern ins Rutschen geriet. Nicht weit von der Stelle, wo Daniel Stunden zuvor gestanden war, setzte sich das durchnässte, schwere Erdreich mitsamt den Bäumen langsam in Bewegung, gewann an Geschwindigkeit und riss Hunderte Stämme in den Fluss. Nur einige wenige Bewohner der gegenüberliegenden Seftau wurden Zeugen des Ereignisses, weil sie mit dem Hund Gassi gingen, auf dem Balkon eine Zigarette rauchten oder von einem Konzert spät nach Hause kamen. Sehen konnte man in Finsternis und Regen nichts, aber ein dumpfes, unheimliches, noch nie gehörtes Grollen war hörbar, gefolgt von nicht enden wollendem Bersten, ohrenbetäubendem Knacken und von zahllosen peitschenden Schlägen auf das Wasser der Aare.

An Julia Kehls Frühstückstisch war die Stimmung mies. Sie ärgerte sich über das kleinkarierte Denken einiger Mitbewohner. «Mein Neffe hat mir schon vor Wochen versprochen, morgen mit mir eine Blueschtfahrt in den Thurgau zu unternehmen. Bei dem Regen wird sicher nichts draus.» – «Es gäbe bestimmt nicht viel zu sehen. Die Apfelblüten sind doch schon längst alle abgefallen, vom Regen weggeputzt. Kaufen wir halt Äpfel aus Neuseeland!» – «Ich will jetzt endlich Sonne! Eigentlich wollte ich nach der Pensionierung nach Spanien ziehen, aber meine Frau war dagegen. Und jetzt, wo sie gestorben ist, schaffe ich diesen Umzug nicht mehr. Ich werde in diesem elenden Kaff hier verrecken.» Es war nicht auszuhalten.

Gottlieb Wegelin stiess zur keifenden Runde. Er war jeden Morgen spätestens um sechs Uhr putzmunter, und weil man nicht vor sieben Uhr zum Frühstück gehen konnte, schaute und hörte er mit Leidenschaft die neusten Nachrichten auf allen erreichbaren Kanälen – Lokalradio, Deutsch- und Westschweizer Sender, TV-News aus Süddeutschland und Österreich. Beim Frühstück waren manche froh, von ihm kompetent über die Ereignisse der vergangenen Stunden informiert zu werden, je nach Interesse summarisch oder detailreich; andere ärgerten sich über ihn und nannten ihn «wandelndes Tagblatt». Jetzt war Gottlieb bleich und aufgewühlt: «In der Nähe von Bern gab es einen riesigen Erdrutsch, und die Aare wird gestaut.» Einer der Stänkerer reagierte unwirsch: «Erdrutsche gibt’s hierzulande auch, wird wohl nicht so schlimm sein.»

Während der Nacht stieg der Pegel der Aare oberhalb des Rutschgebiets rasch an. Einige Häuser in der Seftau und Felsenau wurden vollständig überflutet. Dank des guten Alarmkonzepts konnten sich alle betroffenen Personen retten, einige erst im letzten Moment, nur mit ihren Kleidern oder dem Nachtgewand, aber immerhin. Feuerwehr und Zivilschutz mussten Korpsmitglieder wieder aufbieten, die erst vor wenigen Stunden zur Erholung nach Hause entlassen worden waren. Zwei riesige Scheinwerfer wurden installiert, um den Ort der Katastrophe auszuleuchten. In Umrissen wurde ein Damm aus Baumstämmen, Erdreich und Felsblöcken sichtbar, so gross, dass die Lichtkegel wie schwache, irrlichternde Kerzenflammen wirkten. Gegen fünf Uhr morgens gewann das Bild im diesigen Regen des grau erwachenden Tages deutlichere Konturen, und wer es sah, meinte in die Hölle zu blicken; nicht in einen Feuerschlund, sondern in einen braunen, reissenden Strom, der sich hämisch über den Damm stürzte. Die verkeilten Bäume boten dem Wasser Widerstand, aber wie lange noch?

Regierungsrat Thomas Berger, der schon bald nach dem verheerenden Rutsch alarmiert worden war, kam vor Ort gegen alle inneren Widerstände zur quälenden Einsicht, dass da mit noch so schwerem Gerät nichts auszurichten war. Es gab nur eines: Der Damm musste gezielt gesprengt werden, punktuell, damit das gestaute Wasser einigermassen kontrolliert abfliessen konnte. Ein wahnwitziger Plan, aber der einzig mögliche. Er eilte in sein Büro, wo er über eine Hotline direkt die einzelnen Mitglieder des Bundesrats erreichen konnte. Diese Einrichtung war ihm immer komisch und übertrieben erschienen, er hatte sie selbstverständlich nie benützt. Er wählte die Verbindung zu Verteidigungsminister Roland Oberli. Dieser war vor wenigen Stunden geweckt und über die kritische Lage an der Aare informiert worden. Irgendwie empfand Oberli es in seiner Ratlosigkeit als Erleichterung, mit Berger darüber sprechen zu können. «Meinst du sprengen? Von Flugzeugen aus? Bist du verrückt?» – «Ja, das meine ich wirklich. Mit Flugzeugen kenne ich mich nicht aus, aber ich denke, dass wir den Einsatz von Spezialtruppen benötigen.» – «Können wir denn nicht erst einmal abwarten? Jetzt regnet es nicht mehr stark, und wie du sagst, ist die unmittelbare Umgebung oberhalb des Damms bereits überschwemmt. Dort wird die Situation kaum mehr schlimmer werden.» – «Aber unter dem Wohlensee steht das Kernkraftwerk Mühleberg, das macht mir Sorgen.» – «Ja, schon irgendwie beunruhigend. Letzte Woche sah ich zufällig dessen Leiterin Claudine Rochat bei einem Apéro. Wir diskutierten über Hochwassergefahren allgemein, dann über das Kernkraftwerk, doch sie meinte, dem könne nichts passieren. Ich fragte sie sogar direkt, ob man das Werk nicht ein paar Tage lang abschalten sollte, bis das Hochwasser vorbei sei. Weil sich aber in diesem Moment dein Kollege Steuri mit Sektglas und Lachsbrötchen zu uns vorgedrängelt hatte, wechselten wir das Thema. Er will immer und bei jeder Gelegenheit bloss über die maroden Kantonsfinanzen sprechen.»

Während sich in Bern das Wetter endlich etwas beruhigte, nahm in St. Gallen am Vormittag die Intensität des Regens nochmals zu. Über die Eggen ging ein Starkregen nieder, in der Waldegg konnte sich niemand an ein so heftiges Ereignis erinnern. Der Rütiweiher, der dank seines neuen Damms in den letzten Tagen St. Georgen vor Hochwasser geschützt hatte, lief über und schickte seine Fluten in die Steinach. Diese führte ohnehin so viel Wasser, dass die Mülenenschlucht vorsorglich für Fussgänger gesperrt worden war. Nun tobte der Bach, zum Fluss angewachsen, durch St. Georgen und riss einige parkierte Autos mit, während der Verkehr durch das Quartier gerade noch rechtzeitig unterbunden werden konnte. Auch die Fussgänger konnten in sichere Seitenstrassen fliehen. Aber zwei Schülerinnen, Biljana Kosic und Noëmi Iff, die trotz des Verbots ihren Heimweg wie immer durch die Schlucht genommen und sich beim Anblick der braunen Flut wohlig gegruselt hatten, wurden bei der oberen Brücke, noch bevor sie diese betreten hatten, vom Sturzbach mitgerissen. Er presste sie in die Tiefe, hob sie an die Oberfläche, trieb sie bald gegen das linke, dann an das rechte Ufer und drückte sie schliesslich gegen die Pfosten bei der Talstation der Mühleggbahn. Mutige Passanten, die selber im knöcheltiefen Wasser standen, versuchten die Mädchen zu bergen, aber dies gelang erst nach einer Viertelstunde durch die Polizei. Wiederbelebungsversuche blieben erfolglos.

Die Stadt schrie auf. Nicht, weil sich das Wasser einen Weg über den Gallusplatz und durch die Moosbruggstrasse zum Spisertor hinunter suchte; nicht, weil es an der Lämmlisbrunnenund der Steinachstrasse Keller überflutete, bis es hinter der Olma beim städtischen Werkhof Wiedacker an die Lärmschutzwand der Autobahn prallte und dort einen See bildete; sondern weil zwei junge Menschenleben ausgelöscht worden waren. Mit Bitternis nahm man nachmittags zur Kenntnis, dass der Regen schwächer wurde und sich hin und wieder ein Stück Himmel zeigte, wie ein nasser, bläulicher Fetzen Stoff hinter den Wolken aufgespannt. Warum erst jetzt?

Trotzdem atmete die Stadt auf, als am späten Nachmittag endlich wieder einige zaghafte Sonnenstrahlen ihre Türme beschienen. In Bern beschwor Bundesrat Roland Oberli die Armeeleitung, bis zum Abend einen Plan für die Sprengung des Damms vorzulegen und diese am nächsten Tag durchzuführen. Zudem waren er und Regierungsrat Thomas Berger bei ihrem langen Gespräch zu Schlüssen gekommen, vor denen ihm graute. Erstens musste das Kernkraftwerk Mühleberg abgeschaltet werden; das war allerdings nicht tragisch, denn Strom war zur Zeit im Überfluss vorhanden, aber das Grauen meldete sich, wenn Oberli daran dachte, warum die Abschaltung nötig war. Und zweitens mussten die Behörden der Gemeinden zwischen Wohlensee und Drei-Seen-Land beauftragt werden, die schon längst ausgearbeiteten Evakuationspläne wegen Hochwassers zu aktivieren, wenn auch vorerst nur auf der ersten Stufe und ohne Mitteilung an die Bevölkerung. Es wurde ein hektischer Tag für Oberli, Berger, verschiedene Katastrophenstäbe und die Zivilschutzbehörden. Kernkraftwerk-Leiterin Claudine Rochat war bis anhin wirklich überzeugt gewesen, dass ihrer Anlage nichts geschehen könne. Doch als sie am Morgen vom neugebildeten Damm in der Seftau erfuhr, kamen ihr erstmals Zweifel. Während sie noch unschlüssig war, ob sie wirklich eine Schnellabschaltung verfügen solle, erhielt sie den entsprechenden Befehl vom eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorat. Eigentlich war sie erleichtert, wenn auch in ihrem Stolz verletzt, denn nun musste sie nicht selber entscheiden.

Die Aare führte trotz der Wetterberuhigung nach wie vor eine Wassermenge, die alles übertraf, was in historischen Quellen beschrieben war. Daniel Rüegsegger kam zum Schluss, dass in der Stadt Bern seit ihrer Gründung im Jahr 1191 nie ein grösseres Hochwasser aufgetreten war. Es war eine Jahrtausendflut. An verschiedenen Örtlichkeiten der Engehalbinsel kam es zu kleineren Erdrutschen, wobei erneut zahlreiche Bäume in die Aare fielen, sich vor Ort verkeilten oder aber zum Damm geschwemmt wurden, der dadurch noch mächtiger wurde. In der Seftau wurden grosse Bagger platziert, sogar ein Kran aufgebaut. Auf der gegenüberliegenden Seite, im Rutschgebiet, war dies nicht möglich. Doch alle Anstrengungen waren vergeblich. Konnte wieder einmal ein Stamm aus dem Wasser gehievt werden, so dauerte es nicht lange, bis ein nächster daher gespült kam. Das Können der erfahrenen Maschinenführer und die Kraft ihrer mächtigen Geräte blieben ohne Wirkung.

Es war bemerkenswert, wie viele Militärhelikopter während des Vormittags über dem Damm erschienen und nach einigen Runden wieder verschwanden. Offenbar wurde ein Plan für die Sprengung entwickelt. Dann wieder machten sich zahlreiche Helikopter privater Firmen die besten Plätze streitig, die von verschiedenen Medienhäusern und sogar von freischaffenden Fotografen gechartert worden waren. Es war für alle Passagiere in den Maschinen eindrücklich zu beobachten, wie alles Bemühen am Fluss unten mit den Spielzeugbaggern und dem Kran so gut wie wirkungslos blieb.

Daniel konnte sich trotz viel Arbeit und drängenden Terminen die Jahrtausendflut und den Damm nicht entgehen lassen. Nachmittags stand er wieder an der Geländekante des Kleinen Bremgartenwalds und staunte. Er staunte über die braune Aare, den Damm, die treibenden Bäume auf dem Fluss, die Bagger, die Helikopter. Die Sicht auf die Situation war allerdings sehr beschränkt, denn die gefährdeten Zonen am Hang waren grossräumig abgesperrt worden. Nachdenklich, aber nicht wirklich überrascht vom Geschehen, wanderte er zur Strasse zurück und hinunter zur Halenbrücke. Auf ihr standen zahlreiche Schaulustige, beim jetzigen Wasserstand etwa dreissig Meter über der reissenden Flut. Flussaufwärts war die Neubrügg zu sehen, eine gedeckte Holzbrücke aus dem sechzehnten Jahrhundert. Die Situation dort schien kritisch zu sein. Die steinernen Brückenpfeiler waren nicht mehr sichtbar und das Wasser reichte bis zur Fahrbahnverkleidung aus Holz. Wahrscheinlich war auch die Strasse überschwemmt. Während sich Daniel gedankenverloren darüber wunderte, dass die Neubrügg den Fluten widerstehen konnte, wurde er plötzlich von rasch stärker werdendem Helikopterlärm aufgeschreckt. Ein ganzes Geschwader flog ihm entgegen, nicht etwa in Formation, sondern in einem beängstigenden Durcheinander. Fasziniert beobachtete er die Helikopter, die wie ein Schwarm filigraner Insekten wirkten. Jetzt verharrten sie über der Neubrügg, so dass auch er seinen Blick wieder senkte. Da begann die Holzkonstruktion zu beben; die ehrwürdige Brücke, die fast fünfhundert Jahre lang allen Unwettern und Fluten getrotzt hatte, schien sich zu wehren, aber dann – nach zehn Sekunden oder einer Minute? – erschien die reissende Flut zuerst zwischen den Balken, welche das Dach trugen, stieg blitzschnell höher und wälzte sich schliesslich über das Dach selbst. Es war nicht zu erkennen, in welchem Augenblick die Brücke brach, aber bald gab es keine Zweifel mehr, dass sie geborsten war, denn jetzt sah Daniel nur noch einen Wasserschwall, der auf seinem Scheitel Bäume und Brückenbalken trug und mit einer unglaublichen Geschwindigkeit in seine Richtung stürzte. Er war von diesem Anblick so fasziniert, dass er keinen Moment lang ans Weglaufen dachte. Und auch als die Flutwelle die Halenbrücke erschütterte, stand er am Geländer, hielt sich fest, sah für eine Sekunde die Wasserfront direkt unter sich, rannte wie die übrigen Zuschauer über die Fahrbahn zum anderen Geländer und war überwältigt vom Blick auf Strudel und mitgerissene Bäume. Weil aber die Halenbrücke die Aare in einem grossen Bogen überspannt und normalerweise keiner ihrer Pfeiler im Wasser steht, hielt sie der wütenden Aare stand und Daniel sah, wie die Flut ungebrochen dem Wohlensee zu jagte. Die Helikopter jagten hinterher.

Der Damm bei der Seftau war achtzehn Stunden nach seiner Entstehung gebrochen.

Gottlieb «Tagblatt» Wegelin las heute kein Buch und schrieb auch keinen Brief, was er sonst oft tat, sondern starrte auf den eingeschalteten Fernseher, trat ans Fenster und starrte in den Regen hinaus, setzte sich wieder vor die Glotze, obwohl den ganzen Tag über bei den Nachrichtenkanälen nicht viel Neues zu sehen war. Alle zeigten Bilder vom Damm bei der Seftau, die sich über die Stunden kaum veränderten. Aus der Luft war zu beobachten, wie die Bagger erfolglos werkelten und die Aare weitere Bäume gegen das Bollwerk spülte. Dagegen waren die flussaufwärts gelegenen überschwemmten Quartiere kaum ein Thema in der Berichterstattung. Die Reporter übertrafen sich gegenseitig mit aufgeregten, aber nichtssagenden Kommentaren über Damm und Flut. Wer für ein Interview vor eine Kamera geschleppt wurde, wirkte hilflos. Ob Regierungsrat, Wasserbauingenieur, Meteorologin, Genie-Offizier, Mitglied des Kantonalen Führungsstabs oder Seftau-Bewohnerin – alle waren schockiert und mit einem Szenario konfrontiert, das sie sich bisher nie hatten vorstellen können oder wollen. Obwohl also die ganze Berichterstattung seit dem Vormittag nichts Neues mehr hergab und Gottlieb den Ton ohne Informationsverlust hätte ausschalten können, blieb er in seinem Aktionsmuster zwischen Fernseher und Fenster gefangen. Als gegen elf Uhr Polizei- und Sanitätswagen mit Geheul am Spisertor vorbei rasten, schaute er wieder hinaus und sah, wie die Steinachflut von der Moosbruggstrasse her den Platz erreichte und den Verkehr zum Erliegen brachte. Wer Auto fuhr, traute sich nicht weiter, und dem Lokomotivführer der Trogenerbahn erging es offenbar gleich. Doch bereits nach einer Viertelstunde versiegte das Wasser, und es kehrte so etwas wie Normalität ein. Dass endlich auch der Regen nachliess, bemerkte Gottlieb allerdings nicht. Er ging zum Mittagessen, das eine Abwechslung bot, aber seine düsteren Gedanken nicht vertreiben konnte. Doch dann verwünschte er sich, dass er an diesem Tisch sass, eine liebevoll angerichtete Mahlzeit vor sich; als nämlich die Serviceangestellte bemerkte, in der Mülenenschlucht seien zwei Mädchen umgekommen. Die Diskussionen, welche ohnehin nicht lebhaft gewesen waren, verstummten. Wahrscheinlich ging es den meisten ähnlich wie Gottlieb: Man kam sich hilf- und kraftlos, unnütz und sehr alt vor. Wenn selbst Polizisten und Sanitäter, die vor einer Stunde vorbeigeheult waren, nichts ausrichten konnten, was könnte man denn selber tun, wie helfen?

Gegen fünf Uhr nachmittags wurde jedermann, der wie Gottlieb Wegelin vor einem Fernseher sass, Zeuge des Dammbruchs bei Bern und der riesigen Flutwelle, welche die Neubrügg zerstörte, unter der Halenbrücke durchjagte, die leichte Konstruktion des Stegmattstegs mühelos in Stücke brach und von Kappelen- und Wohleibrücke kaum gebremst wurde – wobei diese beiden Bauwerke vermutlich stark beschädigt wurden. Nach dem letzten Hindernis schoss die Wasserwand über den Wohlensee. Soweit man dies anhand der von den Helikoptern aus gefilmten Videos beurteilen konnte, wurde sie nicht kleiner. Sie wirkte sehr schnell, und doch dauerte es unerträglich lange, bis sie nach den letzten Windungen des Sees das Flusskraftwerk Mühleberg mit Maschinenhaus und Staumauer erreichte.

Während mehr als einer halben Stunde drückten und zerrten die Fluten an der Mühleberg-Staumauer. Vor wenigen Jahren war sie mit Stahlpfählen verstärkt worden. Gewaltige Wassermassen schossen über die Entlastungsklappen neben dem Maschinenhaus und stürzten in die Tiefe; ein Niagarafall im Bernbiet. Allerdings mit dem Unterschied, dass der Mühlebergfall im braunen Wasser auch ein ausgedehntes Mikadospiel aus Bäumen mitführte, welche zum Teil am Stauwehr zersplitterten und nach dem Fall in den Wasserwalzen verschwanden, um viel weiter flussabwärts wieder an der Oberfläche zu erscheinen. Andere Bäume gingen nicht zu Bruch, sondern türmten sich oberhalb des Wehrs wie vorher beim Damm bei der Seftau. Aber die Staumauer hielt. Glück gehabt.

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