Geist & Leben 3/2020

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Geist & Leben 3/2020
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Inhalt



Heft 3 | Juli-September 2020

Jahrgang 93 | Nr. 496



Notiz



Messe über die Welt



Edith Kürpick FMJ



Nachfolge



Zur Relevanz asketischer Theologie. Sarah Coakley und Erich Przywara SJ



Christiane Alpers/Martin Kirschner



Pfadfinder und Dolmetscher. Zur Funktion der Figuren im Johannesevangelium



Hans-Georg Gradl



Den Abend feiern. Impulse für eine Theologie des Abends



Fabian Brand



Das Internet gut nutzen. Eine Aktualisierung der ignatianischen Essensregeln



Daniel Villanueva SJ



Nachfolge | Kirche



Simplify your church? Ein Plädoyer für geistliche Unterscheidung in der Krise



Igna Kramp CJ / Johanna Schulenburg CJ



Einem Geschwister das Herz öffnen. Chancen und Grenzen der Laienbeichte



Michael Rosenberger



Mystik – ungesucht gefunden



Dieter Hattrup



Nachfolge | Junge Theologie



Dritte im Bunde. Maria in ihrer Funktion für den Glauben



Jakob Mertesacker



Reflexion



Gebet und Liturgie anders (er)leben. Die rhythmo-mimopädagogische Rezitation nach Marcel Jousse SJ



Clara-Elisabeth Vasseur



Darf man spirituell fremdgehen? Theologische Überlegungen zur christlichen Zenpraxis



Alexander Löffler SJ



Ein Stab ist (k)ein Stab. Negative Theologie und Zen im Dialog



Alexander Schmitt



Lektüre



Vom Beteiligen und Unterscheiden (Teil I). Aufgabe der Christen nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil



Michel de Certeau SJ



Buchbesprechungen




Impressum



GEIST & LEBEN – Zeitschrift für christliche Spiritualität. Begründet 1926 als Zeitschrift für Aszese und Mystik



Erscheinungsweise: vierteljährlich

ISSN 0016–5921





Herausgeber:





Deutsche Provinz der Jesuiten



Redaktion:



Christoph Benke (Chefredakteur)



Britta Mühl (Lektorats-/Redaktionsassistenz)





Redaktionsbeirat:





Bernhard Bürgler SJ / Wien



Margareta



Gruber OSF / Vallendar



Stefan Kiechle SJ / Frankfurt



Bernhard Körner / Graz



Edith Kürpick FMJ / Köln



Ralph Kunz / Zürich



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Klaus Vechtel SJ / Frankfurt





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. Alles Übrige, inkl. Bestellungen, geht an den Verlag. Nachdruck nur mit besonderer Erlaubnis. Werden Texte zugesandt, die bereits andernorts, insbesondere im Internet, veröffentlicht wurden, ist dies unaufgefordert mitzuteilen. Redaktionelle Kürzungen und Änderungen vorbehalten. Der Inhalt der Beiträge stimmt nicht in jedem Fall mit der Meinung der Schriftleitung überein.



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Messe über die Welt



Wenn nach den langen Wochen der Ausgangssperre wieder erste Schritte unter freiem Himmel möglich sind, geben im 7. Pariser Arrondissement, im Innenhof der Missions Étrangères de Paris, wenige Treppenstufen Zugang zum

Salle des Martyrs

. Dort ist eine Abteilung Japan gewidmet, jenem Land, das 250 Jahre lang hermetisch abgeriegelt war und Christentum-immun sein wollte, bis weit ins 19. Jh. hinein. Doch 250 priesterlose Jahre lang haben die Taufe und das Gebet der Menschen den christlichen Glauben bewahrt und verborgen an die nächsten Generationen weitergegeben. Ausgestellt sind nicht nur persönliche Zeugnisse der Missionare und Leidensinstrumente ihres Martyriums. Man sieht auch gewöhnliche Alltagsgegenstände, die aber bei genauerem Hinsehen eine christliche Symbolik bergen. Unter extrem schwierigen Bedingungen versuchten die Getauften, das Leben, den Alltag zu heiligen. Mit großem Einfallsreichtum.



In unseren Tagen haben weltweit und zeitgleich nicht einfach diktatorische Systeme christliches Leben massiv eingeschränkt, hat auch nicht der so heftig debattierte Priestermangel die Feier der Sakramente verhindert. Nein, ein kleines, unberechenbares Virus hat uns sprichwörtlich und geistlich den Atem genommen. Wer hätte gedacht, dass von dieser Seite die Kampfansage käme? Was uns da wie aus dem Nichts überfiel, hat auch vor unseren Kapellen, Kirchen und Kathedralen nicht haltgemacht. So wurden die Türen aus Furcht verschlossen, wie zu einem nicht enden wollenden Karsamstag. Keine gottesdienstlichen Versammlungen; stark reduziertes soziales Engagement und noch stärker reduzierter Sakramentsempfang, keine Begleitung und kein letztes Geleit, kein Freudenfest und kein Trauergesang. Alles abgesagt. Alles geschlossen. Und bleiben Sie gesund!



Für die Grundvollzüge der Kirche gestaltete sich der Einfallsreichtum mehr oder weniger schwierig. Vielleicht am wenigsten für die

Diakonia

, denn plötzlich entwickelte sich ein neuer Blick für die sonst Übersehenen, erfand sich eine kreative Nachbarschaftshilfe, öffnete sich ein Priesterseminar mit seiner Küche und seinen Duschen für die Obdachlosen. Auch nicht so sehr im Blick auf die

Martyria

, denn sämtliche Medien und Kommunikationsmittel boten genügend Plattformen für Verkündigung und Glaubenszeugnis. Die große Verliererin, so scheint es, war die

Leiturgia:

 Gemeinsam das Gedächtnis Jesu Christi, seinen Tod und seine Auferstehung zu feiern und sakramental am Sonntag, im Alltag und in wichtigen Momenten des Lebens zu empfangen, wurde zum verordneten No-Go. Auch hier musste schnell das Internet Abhilfe schaffen. Und so konnte, wer wollte, fast rund um die Uhr bei live gestreamten Eucharistiefeiern real präsent sein – vor dem häuslichen Bildschirm. Gemeindelos feierten Priester die Messe vor laufender Kamera und erhoben die Hostie für eine virtuell andockende Welt – im Wissen um die Vielen und zweifellos in innerer Gemeinschaft mit ihnen. Damit kein Missverständnis entsteht: Und wenn auch nur ein einziger Mensch in einsamen, kranken Tagen Trost und Halt darin gefunden hätte, verdiente dies unkommentierten Respekt. Aber wenn es doch stimmt, was das II. Vatikanum neutestamentlich gut fundiert mit dem königlichen Priestertum der Getauften meint, dann darf sich die Ausübung dieses Priestertums auch in Pandemie-Zeiten nicht auf Anbetung und Kniebeuge vor dem Bildschirm reduzieren. So wie es sich ja auch schon im Spätmittelalter nicht auf eine bloße Schaufrömmigkeit beschränken ließ.



Vor gut hundert Jahren schrieb der forschende Mystiker Teilhard de Chardin in einer Extremsituation ein langes, dichtes Gebet:

Die Messe über die Welt

. Als der Priester in der Einsamkeit der chinesischen Wüste weder über Brot noch Wein verfügte, brachte er auf dem „Altar der ganzen Erde“ die Materie, die Arbeit und die Mühsal der Welt, all ihr Werden und Vergehen auf der Patene und im Kelch seiner weltoffenen Seele dar. Zeugnis einer tiefen Glaubenseinsicht, dass Gott als die wirklichste Wirklichkeit in allem und alles durch ihn und auf ihn hin geschaffen ist (Kol 1,16); berufen, mystischer Leib Christi zu werden. Sich mit seiner ganzen Existenz in den Dienst dieses

Auf-ihn-hin

 zu stellen, ist letztlich die Umschreibung einer Weihe, ja, einer

Konsekration

 der Welt, die dem Priestertum aller Gläubigen und gerade der Laien zu eigen ist, wie es das Konzil ausdrücklich formulierte: „So weihen

 auch die Laien, überall Anbeter in heiligem Tun, die Welt selbst Gott“ (LG 34). Die vom Priester über Brot und Wein gesprochenen Worte verwandeln diese in die Wirklichkeit Christi und überborden sie zugleich. Sie enden nicht im liturgischen Raum, sind vielmehr die alles durchdringende, verwandelnde Kraft der Welt, deren letztes Ziel Gott „alles in allem“ ist.



Die Hostie auf dem Altar der Kirche weitet sich, umfängt und trägt in sich die ganze Welt. Die Welt auf dem Altar ihres Werdens und Vergehens, ihres Leidens und Auferstehens verdichtet sich im einen unüberbietbaren Leib Christi. Gemeinsames Priestertum der Getauften und Dienstpriestertum der Priester sind herausgesandt aus der Enge verschlossener Türen hinein in die Weite des Lebens der Menschen in Gott. Nur so feiern wir die eine Messe über die Welt. Ohne Bildschirm. Und auch nach der Pandemie.















Zur Relevanz asketischer Theologie

 



Sarah Coakley und Erich Przywara SJ



Die religiöse Lage der Gegenwart ist komplex. Entkirchlichung und Säkularisierung westeuropäischer Gesellschaften führen immer flächiger zu einem Abbruch traditioneller Formen des Glaubens. Statt beißender Religions- und Kirchenkritik gibt es eine differenziert geführte öffentliche Auseinandersetzung, welche die Kirche in die Verantwortung nimmt, Missstände und Reformblockaden im Innern zu bearbeiten. Dabei haben die Missbrauchsskandale öffentlich gemacht, wie sehr sich diese Probleme gerade im Umgang mit Macht, Sexualität und Geld zuspitzen. Für eine gesellschaftliche Relevanz asketischer Theologie lässt sich also nur argumentieren, wenn diese auch selbstkritisch auf die Kirche gerichtet ist. Zugleich kann man in post-säkularen Gesellschaften vielfältige religiöse und spirituelle Suchbewegungen erkennen, verbunden mit einem Bewusstsein für das, was verloren geht, wenn Gott und der Glaube fehlen, oder wenn – offener formuliert – geistliche Kraftquellen fehlen, die Rückbindung an überlieferte Weisheit und die Anbindung an eine überindividuelle, geistliche Macht. Dies zeigt sich gerade in der ökologischen Krise. Der Papst hat mit

Laudato si’

 diese Fragen aufgegriffen. Umgekehrt tritt auch die negative, gewalttätige Seite von Religion derzeit deutlich zutage: in fundamentalistischer Selbstbehauptung und atheistischen Gegenreaktionen, im politisch-identitären Rückgriff auf Religion – bis hin zu den Exzessen dschihadistischen Terrors und islamophober Amokläufer. Das Religiöse bleibt ein Kraftfeld, in dem sich die individuelle und kollektive Sehnsucht der Menschen bündeln und das die besten wie schlimmsten Kräfte im Menschen freisetzen kann.



Läuterung des Religiösen



Eine Läuterung des Religiösen hin zu einer zeitgemäßen und friedfertigen Religiosität wird von zwei Seiten her versucht: Die einen grenzen sich von starrer, „dogmatischer“ Religiosität mit Nachdruck ab und suchen in Mystik und Spiritualität ein Feld authentischer religiöser Erfahrung, das aus Fremdbestimmung und Konventionen befreit.

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 Die anderen setzen auf das Zusammenspiel von Glauben und Vernunft in der wissenschaftlichen Theologie, um eine kritische Selbstaufklärung religiöser Bekenntnisse und Vollzüge zu ermöglichen. Spirituell Suchenden gilt dabei die akademische Theologie meist als abstrakt und lebensfern. Umgekehrt finden sich in der akademischen Theologie Vorbehalte gegenüber einer erfahrungsbezogenen Spiritualität, welche mit Esoterik und Irrationalität assoziiert wird. Durch diesen Zwist läuft die theologische Wahrheitssuche Gefahr, existentiell leer zu werden, die religiöse Erfahrung hingegen intellektuell blind.



Eine intellektuell durchdachte spirituelle Einbettung menschlicher Sehnsüchte hingegen ist nicht nur als Prävention religiöser Fanatismen erforderlich, sondern insbesondere auch angesichts der sozialen und ökologischen Folgen einer globalisierten kapitalistischen Wirtschaft. Das dieser Ökonomie zugrundeliegende Vernunftverständnis wird derzeit von vielen Seiten wegen seiner Reduktion auf eine Zweckrationalität kritisiert, die den effektivsten Weg zur Bedürfnisbefriedigung berechnet, ohne die Vernünftigkeit der Bedürfnisse selbst zu hinterfragen. Die quasi-metaphysische Hintergrundannahme ist eine grundsätzliche Ausrichtung des Menschen auf individualistische Bedürfnisbefriedigung und Nutzenmaximierung unter den Bedingungen von Güterknappheit und Rivalität. Die Fragen, was überhaupt begehrt werden sollte und was einen reifen Umgang mit Trieben, Affekten und Wünschen auszeichnet, wurde dagegen aus dem Politischen ausgeschlossen und entweder als natürliches Faktum vorausgesetzt oder als individuelle Entscheidung zur Privatsache erklärt: Im Zentrum der Politik steht dann nicht die Gestaltung der Polis hinsichtlich verschiedener Vorstellungen des Guten, sondern die Verwaltung knapper Güter, die Garantie von Sicherheit und die „faire“ Regelung der Rivalität im Wettbewerb. Leistung und Konsum, Wachstum und Konkurrenz unter den Bedingungen notorisch knapper Güter definieren dann die Bedingungen und Dynamik menschlichen Zusammenlebens. Dabei werden Mensch und Natur immer weitreichender einem Marktmechanismus unterworfen, der die ökologischen und sozialen Voraussetzungen des Lebens gefährdet. Die ökologische Krise erfordert ein radikales Umdenken.



Gerade hier kann die Theologie aus ihrem Jahrtausende alten Erfahrungsschatz schöpfen, um Sehnsüchte und Verstand, Verlangen und Reflexion in Einklang zu bringen.

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 In diesem Aufsatz möchten wir zwei Ansätze einer solchen asketisch-spirituellen Theologie vorstellen.



Sarah Coakleys spirituelles „Begierdetraining“



Die anglikanische Theologin Sarah Coakley zeigt auf, wie die bereits angedeuteten Problemfelder zusammenhängen: das Auseinanderdriften von systematischer Theologie und gelebter Spiritualität einerseits und das weitgehend unhinterfragte Ausbreiten einer einseitig ökonomischen Rationalität andererseits. Coakley zufolge fehlt es derzeit an einer zeitgenössisch verantworteten Theologie des Begehrens

(theology of desire)

, mittels welcher das Verhältnis von Begehren und Gottessehnsucht neu bestimmt werden könne.

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 Um systematisch-theologische Reflexion und aszetische, kontemplative Gebetspraxis als sich gegenseitig bedingende Einheit zu verstehen, entwickelt Coakley eine

théologie totale

. Diese ermöglicht es Praktizierenden, ihre Begehren je nach Zielrichtung zu kultivieren oder zu sublimieren und somit kritisch auf die heutigen Herausforderungen im Umgang nicht nur mit Sexualität, sondern auch mit den Konsumangeboten und Statusversprechen der Marktwirtschaft zu antworten.



Eine solche „aszetische“ Transformation setzt einerseits beim

menschlichen

 Begehren an, das nicht nur Triebbefriedigung anzielt, sondern sich in seiner offenen Struktur von der Objektfixierung lösen kann.

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 Dieser Überschuss wird in der Fähigkeit zur personalen Liebe deutlich, die einen Menschen in seiner Einmaligkeit und bleibenden Andersheit als ebenbürtiges Gegenüber erkennt – ohne in der Annäherung an die bzw. den Geliebte(n) an ein Ende zu gelangen. Insofern die menschliche Sehnsucht in nichts Endlichem zur Ruhe kommt

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, weist sie über den Bereich endlicher, erfüllbarer Wünsche und Bedürfnisse hinaus auf ein Unbedingtes, Unbegrenztes und Unerzwingbares, das der Glaube in der Liebe Gottes erkennt und bezeugt. So lässt sich die Sehnsucht als Antwort auf eine zuvorkommende göttliche Bewegung verstehen, die diese innere Dynamik im Menschen ermöglicht und trägt. Menschliche Reifung und ein Wachstum im Glauben bestehen dann darin, im Begehren weltlicher Güter und in der Liebe zu Mitmenschen nichts Endliches absolut zu setzen, sondern ausgerichtet zu bleiben auf jene je größere Liebe und jene unbedingte Güte, die der Glaube in Gott erkennt. Dies kann einer dominanten zweckrationalen Sicht von Mensch und Gesellschaft entgegengesetzt werden, welche die Dynamik des Begehrens auf einen Mechanismus „schlechter Unendlichkeit“ reduziert: Mit dem illusorischen Versprechen, das Begehren mit immer neuen Produkten oder Zielen zu befriedigen, werden ständig neue Bedürfnisse geweckt. Dies hat fatale Konsequenzen nicht nur für den Gottesglauben, der wie ein individuelles Bedürfnis oder eine beliebige Präferenz behandelt wird. Es destabilisiert zwischenmenschliche Liebesbeziehungen, die mit illusorischen Glückserwartungen überfrachtet werden. Und auch auf der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ebene zeigt sich immer unerbittlicher der illusorische Charakter des libertär-individualistischen Gesellschaftsmodells: Die enorme Dynamik des „Fortschritts“ und das umfassende Wohlstandsversprechen waren von Anfang an mit der Ausbeutung von Ressourcen und der Externalisierung der Kosten auf „periphere“ Weltregionen bzw. auf die Zukunft verbunden.

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 Derzeit erleben wir, wie diese sozialen und ökologischen Kosten das Leben auf dem Planeten insgesamt bedrohen.



Angesichts der (selbst-)zerstörerischen Dynamik einer entfesselten Bedürfnis-Ökonomie kommt einer Wiederentdeckung aszetischer Spiritualitäten also auch gesamtgesellschaftlich große Bedeutung zu. Dabei geht es nicht um eine Abwertung der Lebenskräfte, wie Nietzsche es dem Christentum (oft zurecht) unterstellte, sondern um einen schonenden Umgang mit ihnen. Sarah Coakleys Entwurf einer asketischen Dogmatik lässt sich in diesem Kontext lesen. Angesichts des neoliberalen Mythos, dass alle Begierden prinzipiell und möglichst umgehend befriedigt werden können, lasse sich in Gebet und Aszese lernen, dass es neben der Bedürfnisbefriedigung sinnvolle Zeiten der Enthaltsamkeit gibt. Dazu greift Coakley gendersensibel und psychoanalytisch informiert auf Traditionen vormoderner asketischer Theologie zurück, beispielsweise auf Gregor von Nyssas Vorstellung eines „Begierdetrainings“, bei welchem man sich lebenslang dazu verpflichtet, die „Langstrecke“ der ständigen persönlichen Transformation einzuschlagen und die Bedeutung jedes Begehrens stets im Lichte Gottes zu reflektieren.

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 Dabei geht es nicht um die Abtötung sinnlicher Leidenschaften, sondern um die zeitweilige Suspension ihrer Befriedigung, welche es ermöglicht, gerade diese Leidenschaften intensiviert auf Gott auszurichten. Solch eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Begehren sieht Coakley als Teil des Weges zu einem (niemals abgeschlossenen) geistlichen Wachstum.

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Um gleichzeitig einer Funktionalisierung Gottes für menschliche Interessen entgegenzuwirken, legt Coakley den Nachdruck auf die theologische Arbeit der je neuen Korrektur idolatrischer Tendenzen im Gleichschritt zur spirituellen Öffnung für die Lebendigkeit Gottes und die Dynamik seiner je größeren Liebe.

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 Im Sinne des Glaubens der Kirchenväter an die mystische Vereinigung der Seele mit Gott und der damit verbundenen Vergöttlichung des Menschen postuliert Coakley eine Transformation der menschlichen Begehrensstruktur durch die Teilhabe am innertrinitarischen Leben, weshalb das Gebet im Geist, die liturgische Praxis und ikonografische Darstellungen zum Ausgangspunkt nicht nur der Trinitätslehre, sondern auch des Begierdetrainings werden. Man habe sich dies so vorzustellen, dass Betende in der Kontemplation, gerade wenn sie versuchen, innerlich still und leer vor Gott zu werden, mit all ihren Sehnsüchten und Verlangen konfrontiert werden, ohne diese direkt befriedigen zu können.

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 Das bewusste Ausharren in der Wahrnehmung unerfüllter Begierden ermöglicht es, diese zu hinterfragen, neu zu ordnen und auf Gott hin auszurichten – sie verlieren die Herrschaft über das eigene Leben.

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 Coakley sieht damit die Kontemplation als eine mühsame und entbehrungsreiche Arbeit und ritualisierte Übung, fernab irgendwelcher Gefühle spiritueller Wellness oder mystischer Ekstase.

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 Doch kommt es ihr zufolge im Ergebnis solchen Gebets zu einer Öffnung des Geistes hin zu einer neuen Weltsicht, in der alles Verlangen auf Gott hin umgepolt und die Empfänglichkeit für alles Schöne unendlich intensiviert ist.

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 In diesem Sinne gibt die mystische Vereinigung der Seele mit Gott Aufschluss über die gottgewollte Bedeutung und Einordnung eines bestimmten Begehrens in einen größeren Gesamtzusammenhang.



Ignatianische Aszese nach Erich Przywara SJ



Bezieht sich Coakley neben patristischen Quellen vor allem auf die karmelitische Mystik des Johannes vom Kreuz, so wollen wir in diesem Aufsatz den besonderen Beitrag der ignatianischen Spiritualität zur gegenwärtigen Diskussion um menschliches Begehren hervorheben, wird diese doch zurecht als „Spiritualität des Liebens“ bezeichnet.

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 Während sich Coakleys Ansatz auf die mystische Vereinigung mit Gott in kontemplativer Stille konzentriert, liegt der Schwerpunkt bei Ignatius auf der Konkretisierung dieser Vereinigung in grundlegenden Lebensentscheidungen, aber auch im Alltag.

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 Ignatianische Spiritualität bezeichnet eine „‚Auskehr‘ der gottgeeinten Seele in das Alltagsleben, um mitten in Leben und Arbeit Gott zu finden“

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. In der ignatianischen Spiritualität geht Kontemplation dem aktiven Handeln in der Welt nicht voraus, sondern vollzieht sich in der Aktivität, weshalb von einem „Durchbruch (…) hin zu einer Spiritualität, die die Sendung in die Welt und die Mystik der Tat betont“, gesprochen werden kann.

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 Der Aszese kommt hier eine wichtige Rolle zu, insofern ignatianische Spiritualität die Vereinigung mit Gott weniger mit mystischer Ekstase als mit einer Teilhabe „am Abstieg der Göttlichen Majestät in das Joch mit und zwischen und unter Geschöpfen“ assoziiert.

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 „Es geht um ein Sterben aus der Welt für eine stärkere Sendung in die Welt hinein“

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, um aszetische Weltentsagung, die mit einer „Mystik der Weltfreudigkeit“ verbunden ist, wie Hugo Rahner es fasst.

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 Ignatianische Spiritualität strebt das „immer größere Durchbrechen der Glorie“ in der Entsagung an (DSM 135 f.).

 



Bei der Frage um die Ausrichtung menschlichen Begehrens auf Gott steht ignatianisch zunächst grundlegend die Entscheidung bezüglich des „Fahneneids“ zum Heere Gottes oder Satans auf dem Spiel: Ob ich also mein Leben jener Macht unterstelle, die in die Freiheit führt, oder jener anderen, die durch Verführungen in die Enge treibt.

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 Dementsprechend kann der Mensch aus rationaler wie emotionaler Einsicht in die damit verbundene Freiheit wählen, sein Leben auf Gott auszurichten. Nur ein auf Gott ausgerichtetes Leben ist wahrhaft frei, wohingegen Welt- und Eigenliebe als letzter Bezugspunkt stets zu einem „Haftenbleiben“ an etwas Endlichem verleiten (DSM 18; 41). In anderen Worten schadet Eigennutzorientierung nicht nur der Umwelt und Gemeinschaft, sondern auch der individuellen Freiheit.



Gleichwohl soll das aszetische Zurückstellen eigener Begierden nicht aus dem Verlangen nach Freiheit, sondern immer wieder neu aus einem „lang geübten, reich gelebten Vertrauen“ geboren werden (MD 74). In diesem Vertrauen gründend wird die ignatianische Aszese durch das positive Verlangen angetrieben, das eigene Leben der je größeren Ehre Gottes in allem und durch alles zu widmen, wodurch der Mensch seinerseits geheilt wird (DSM 111). Dieses Verlangen ist somit keine Reaktion auf einen Mangel – an Heil und Erlösung –, sondern es nährt sich aus der Ahnung des „unerforschlichen Geheimnisses“ des menschlichen Daseins und Wesens, „dass der ‚Gott über dir‘ in dir dein Glück ist“ (MD 34). Die gleichzeitige Erfahrung von Seligkeit in und mit Gott einerseits und eigener geschöpflicher Nichtigkeit andererseits sind Ausgangspunkt ignatianischer Aszese (DSM 136 f.). Wie vor allem in der „Betrachtung zur Erlangung der Liebe“ (GÜ 230–237) am Ende der Exerzitien hervorgehoben, geht es darum, an dem durch Gottes Großmut geschenkten und beschenkten Leben nicht selbstsüchtig oder ängstlich festzuhalten, sondern es im Empfangen großmütig weiterzuverschenken.

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Vor diesem Hintergrund besteht der Sinn der Exerzitien darin, „sich selbst zu überwinden und sein Leben zu ordnen, ohne sich bestimmen zu lassen durch irgend eine Hinneigung, die ungeordnet wäre“ (GÜ 21). In den

Geistlichen Übungen

 soll Gott selbst in der Seele des Menschen wirken, „d.h. Sehnsüchte und Hinneigungen des Empfängers von dessen Innen aus ordne und wandel“ (DSM 35 f.). Der von Przywara gezogene Gegensatz zwischen einer

ausschließlichen

 Ausrichtung menschlicher Begierden auf Gott und einem Verfolgen eigener Ziele ist insofern nicht selbst- und weltverachtend, als es lediglich um die letzte Zielrichtung menschlicher Sehnsüchte geht. Przywara spricht zwar von einer „Aszese des

Entgegentuns“

 gegen die eigene weltliche und sinnliche Liebe und von einer „Aszese des Aus-sich-heraus-springens“ (vgl. GÜ 189) aus Eigenliebe und -belang (DSM 107 ff.). Doch lehnt Przywara nicht die Eigenliebe als solche, sondern lediglich die Eigenliebe als letzte Zielrichtung des Lebens, also die Egozentrik, ab.

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 Genauer bewahrt die Ausrichtung auf Gott Menschen davor, ihr Leben auf eines der beiden Extreme festzulegen: Eigenliebe oder Selbstverachtung (DSM 108 ff.). Das an Gott ausgerichtete Leben schwingt zwischen diesen beiden Extremen hin und her, schließt sie beide ein, aber bleibt an keinem haften. Setzt ein Mensch Selbstaufopferung oder Eigenliebe als letzte Zielrichtung des Lebens, wird sein Leben von diesem Ziel bestimmt und an dieses gebunden; folglich entbehrt er der Fülle der Freiheit, die man nur im „Pendelschwung“ zwischen den beiden Extremen erfahren kann.

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 Erlösung

in

 der Entsagung bedeutet also, dass die „Übergabe an den ‚lebenliebenden‘ Gott“ zur „tiefsten Kraft kräftigen Lebens“ wird, „weil sie, den letzten Krampf angsthafter Selbstbehauptung lösend, königliche Freiheit und beinahe göttliche Leichtigkeit der Seele verleiht“ (MD 74 f.).



Indifferenz



Die auf diese Art alles umrahmende Sehnsucht nach Vereinigung mit Gott nährt und erfüllt sich nicht wie bei Coakley in der stillen Kontemplation, sondern in Lob, Ehrfurcht und Dienst, für welche die Grundhaltung der Indifferenz erforderlich ist. Die Seele ist dann mit Gott vereint, wenn sie die Dinge so behandelt, wie es ihnen von Gott her zukommt (MD 75; DSM 131). So definiert Przywara Indifferenz als ein „im Angesicht der bestehenden und erkannten Unterschiede“ keine Unterschiede zu machen (DSM 127). Die Haltung der Indifferenz trägt aufgrund der wahrgenommenen Unterschiede also keine Rangordnung mehr oder weniger begehrter Dinge im Sinne des eigenen Geschmacks an die Dinge heran, sondern richtet sich stets auf dasjenige aus, was zur größeren Liebe führt.

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 Hierbei sollen eigene Bedürfnisse keineswegs verleugnet werden. Man solle weiterhin in Freuden „aufatmen“ und in Schmerzen „leiden“, sich zum Positiven hingezogen und vom Negativen abgestoßen fühlen (DSM 129–132). Entscheidend ist lediglich, dass diese Gefühle den Umgang mit den Dingen nicht bestimmen. Man soll sich nicht vom „unruhigen Begehren“ des Positiven oder „knechtischen Fürchten“ des Negativen treiben lassen, welches sonst immer zwischen einem selbst und den Dingen „schwelt“ (MD 35 f.). Anstatt sich den Dingen aus „hastiger Selbstsucht“ zu nähern, kann man durch ehrfürchtigen Abstand vor sich selbst und allem Geschaffenen lernen, „Vielfalt und Eigenart und Eigengesetzlichkeit des Wirklichen“ unvoreingenommener zu sehen.



Hier findet konkret die geistige Weitung statt. Wer sich nicht absperrt „in behaglicher Enge eines kleinen Kreises, unfähig zu neuem Auswandern und neuem Erobern und neuer Enttäuschung“, dessen „Sehnen und Verlangen und Wollen“ kann an der „Weite der Unendlichkeit Gottes“, an der „Unerforschlichkeit Seiner Wege“ (MD 32 f.; 59), und so an der „Ewigkeitstiefe aller Dinge“ (MD 59) teilhaben.



In Anbetracht der Tatsache, dass die Welt erlöst, aber noch nicht vollendet ist, vollzieht sich diese seelische Einigung im Dienst. Hier ist der Mensch mit dem erlösenden Gott vereint, trägt aber nicht rein selbstlos zur Erlösung der Welt bei, sondern wird hierin auch selbst erlöst. Ignatianischer Dienst verhindert sowohl, dass sich der Mensch aus Eigenliebe oder Selbstschutz aus der Welt zurückzieht als auch, dass er sich völlig selbstlos an die Welt verschenkt (DSM 108 ff.). Im Dienst geht es darum, Gottes immer wieder überraschenden Fügungen zu folgen, „restlos zu wehen im Wehen Gottes, restlos zu brennen im Feuer Gottes“ (DSM 20). Solch ein Dienst ist nicht selbstlos. Einseitig in Richtung des Extrems der Selbstaufgabe „schwingend“, wird der als unumstößliche Pflicht geleistete Dienst starr und mechanisch, in „seelenmörderischer Geschäftigkeit“, ausgeführt (MD 73). Der aus liebendem Gottvertrauen motivierte Dienst hingegen leistet mehr als die Pflicht und bekommt so eine persönliche, virtuose Note (DSM 41 f.). Wer liebend dient, verwirklicht im Dienst die je eigene Einzigartigkeit – und doch wird diese Selbstverwirklichung nicht von egozentrischen Zielen des Menschen, sondern von den göttlichen Fügungen, denen sich der Mensch im Liebesdienst frei anvertraut, bestimmt.



„Theologisches Begierdetraining“



In diesen Ausführungen ging es uns darum, gewissermaßen zwei Formen eines „theologischen Begierdetrainings“ vorzustellen, die eine Logik eigennutzorientierter Bedürfnisbefriedigung nicht nur kritisieren oder Verzicht predigen, sondern attraktive Alternativen zeichnen, wie das Kultivieren des Begehrens als Weg zu Gott und zu einem integralen Selbst- und Weltverhältnis verstanden werden kann. Sowohl bei Sarah Coakley als auch bei Erich Przywara kann von einer Neuausrichtung der menschlichen Begehrens- und Erkenntnisstruktur durch aszetische Formung gesprochen werden. Diese ordnet nicht nur die Affekte, sondern führt auch in ein „rationaleres“ Verhältnis zur Welt. Coakley will der Verabsolutierung begehrter Objekte vorbeugen, indem sie Menschen einlädt, die drängendsten Begierden in stiller Kontemplation zeitweilig zu suspendieren und sich auf diesem Wege nicht nur auf Perioden der Enthaltsamkeit vorzubereiten, sondern auch Geschmack an der seelischen Vereinigung mit Got