Read the book: «Final Game», page 6

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Kopfschüttelnd verdrängt Sam jeden weiteren Gedanken. Stattdessen erwacht in ihr ein Wunsch; ein Bedürfnis.

Wackelig schleift sie sich die Treppe hinunter, geht an den Tresen und wählt Lauras und Jessicas Nummer. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit ertönt Jessicas Stimme völlig verschlafen.

»Hast du mich erschreckt. Ich dachte, dass es das Krankenhaus ist«, murmelt sie schläfrig. Ein raschelndes Geräusch der Bettwäsche versichert Sam, dass sich Jessica von Laura abwendet, um voll und ganz bei ihr zu sein.

»Sam, was ist los?«

»Kannst du bitte herkommen und auf die Kinder aufpassen? Ich muss ins Krankenhaus.« Sam weiß, dass sie um diese Zeit etwas Unwürdiges von Jessica verlangt, aber sie kann nicht anders. Sie muss zu Neve. Sie muss einfach.

»Was? Wieso? Sie haben nicht angerufen. Sam, Neve wird es … .«

»Bitte Jessica, ich bitte dich.« Sam stehen die Tränen in den Augen. Es kostet sie unheimlich viel Kraft auch nur ein Wort über die Lippen zu bekommen. Sie hört Jessica schnaufen, ein weiteres rascheln folgt.

»Was ist los?«, murmelt Laura verschlafen im Hintergrund.

»Ich bin gleich da«, brummt Jessica und legt auf.

***

Wie versprochen, rollt Jessicas Wagen eine halbe Stunde später auf die Auffahrt. Sam wartet keine Begrüßung oder sonst irgendetwas ab und fährt sofort los. Jessica schaut ihr noch verwundert hinterher, betritt dann aber das Haus, damit sie sich um zwei schlafende Kinder kümmert. Mehr als ihren Schlaf im Gästezimmer weiterzuführen, wird sie eh nicht machen brauchen. Die beiden Mädchen sind pflegeleichter, als ein Rudel Faultiere.

***

Erschrocken blickt Sam durch das große Fenster in Neves Zimmer. Panisch hechtet sie zum Tresen der Intensivstation.

»Ist irgendetwas mit meiner Frau passiert?« Sam überschlägt sich fast. Ihre Stimme klingt hektisch und angsterfüllt.

Fragend blickt die Krankenschwester zu ihr hoch, kurz zu Neves Zimmer und dann wieder zu Sam zurück.

»Nein, bei Ihrer Frau gibt es keine Probleme. Sie ist stabil. Es gab keine nennenswerten Veränderungen in den letzten Stunden. Warum fragen Sie?«

»Weil … ihr Gesicht … ihr Kopf, er liegt auf der Seite.« Erstaunt zieht die Schwester eine Augenbraue hoch. Sparsam schaut sie Sam an.

»Misses Stewart-Sanchez«, lächelt die gute Frau »Ihre Frau schläft. Sie befindet sich nicht mehr in diesem tiefen Koma wie sie es von den letzten Wochen her kennen. Bewegungen sind da ganz normal. Sie bekommt zwar noch immer Beruhigungsmittel, aber dass der Körper sich von alleine bewegt, ist das beste Indiz dafür, dass er die Medikamente gut verarbeitet. Es ist also nur von Vorteil wenn sich Ihre Frau eigenständig bewegt.« Das Grinsen auf dem Gesicht der Krankenschwester ist so beschämend für Sam, dass sie es ihr am liebsten aus dem Gesicht schlagen würde. Aber sie beherrscht sich und kehrt zum Zimmer zurück.

Leise betritt sie dieses, geht an das Bett und kniet sich neben Neves Kopf auf den Boden. Mit Tränen der Erleichterung schaut sie ihr beim schlafen zu. Die Atemmaske verdeckt die Hälfte von Neves wunderschönem Gesicht, aber das stört nicht. Im Gegenteil, denn dadurch, dass die Maske beim ausatmen beschlägt, weiß Sam, dass die Atmung ganz alleine von Neve getätigt wird. Dass sie keinen Schlauch mehr im Hals stecken haben muss, der das Atmen für sie übernimmt. Ein besseres Zeichen dafür, dass das Herz seine Arbeit gut aufgenommen und die Aufgabe gewissenhaft ausübt, gibt es gar nicht.

Blind greift Sam nach Neves Hand und streicht ihr sanft über den Kopf. Alleine hier sein zu können und das alles machen zu dürfen, mit dem Wissen, dass Neve irgendwann wieder nach Hause kommen wird, bereitet Sam eine freudige Gänsehaut. Neve wird wieder heimkommen. Irgendwann wird sie wieder zuhause sein.

Sam schreckt etwas auf, als sie sehen kann, wie sich Neves Augäpfel bewegen. Wild wandern sie hinter den geschlossenen Lidern hin und her. Hektisch blickt Sam zur Maske zurück. Die Atmung ist gleichbleibend. Nichts deutet darauf hin, dass ihre Frau körperliche Probleme hat. Die Augen fliegen aber noch immer von einer Seite zur anderen, bis sie schlagartig stehen bleiben. Etwas entspannter sinkt Sam wieder in sich zusammen, betrachtet ihre Frau und streicht ihr erneut über den Kopf.

Nach wenigen Minuten werden ihre Augen ganz groß, als sich Neves Lider bewegen. Zittrig versuchen sie sich zu öffnen, bleiben aber verschlossen. Solange bis Neve den nächsten Versuch startet. Nur flackernd kann sie die Lider hochschieben, bis Sam die ersten Millimeter von Neves Augen sehen kann. Vor Freude könnte sie zu weinen anfangen, befiehlt sich aber stark zu sein.

Neves Augen schnellen zittrig hin und her, bis sie nach und nach einen Fokus aufnehmen. Die Lider sind halb geöffnet, dennoch scheint sie das Objekt vor sich wahrnehmen zu können.

Sams Herz überschlägt sich vor Freude und Aufregung. Die kleinen Freudetränen in ihren Augen kann sie nicht halten. Es geht beim besten Willen nicht.

»Hallo, schöne Frau«, flüstert sie und streicht Neve weiterhin über den Kopf. Neves Augen wandern ziellos umher, bis sie Sam erneut fokussiert.

Durch die kleine Bewegung am Kiefer kann Sam sehen, dass Neve etwas sagen will. Aber bis auf Atem der die Maske beschlägt, entweicht nichts ihrer Kehle.

»Nicht«, hält Sam ihre Frau von dieser eigentlich normalen aber schweren Handlung ab. Neves Kiefer bewegt sich wieder zurück. Sie schluckt und schließt die Augen. Ihr Gesicht verzieht sich kurzzeitig zu einer schmerzverzerrten Maske. Neves Hals muss sich wie scharfkantiges Gebilde anfühlen. Ihre Augen fallen kurz zu, dann nimmt sie wieder mit aller Kraft den Fokus auf. Für Sam sieht es allerdings aus, als wenn Neve zwei Flaschen Scotch intus hat und nichts mehr kontrollieren kann. Alles schwankt wild hin und her.

Mit einem Mal kann sich Sam nicht mehr halten. Sie erhebt sich und vergräbt ihr Gesicht vorsichtig in Neves Halsbeuge. Haltlos beginnt sie zu weinen.

»Ich versuche es, Schatz. Ich versuche es wirklich, aber ich schaffe es einfach nicht. Ich kann ohne dich nicht sein. Es klappt einfach nicht. Ich weiß nicht wie ich ohne dich sein soll … wie ich ohne dich funktionieren soll. Für mich ist das absolut unmöglich.« Sam weint ihre Hilflosigkeit heraus, bis sie sich von ihrer Frau löst und sich wieder hinkniet. Erschrocken blickt sie auf die kleine Träne die aus Neves Auge tritt und langsam über die Nase rollt. Auch wenn Neve dem besten Alkoholiker mit ihrem schwankenden Blick Konkurrenz macht, kann Sam diese maßlose und unendliche Liebe ins Neves Augen erkennen, die sie in diesem Augenblick für die junge Frau empfindet.

»Nicht weinen, Schatz. Oh Gott, es tut mir leid ….« Verzweifelt, hilflos und überfordert wischt Sam vorsichtig die Träne weg. Sie verflucht ihren Gefühlsausbruch. Neve hat eben erst die Augen geöffnet und Sam überfällt sie schon wieder mit ihrer Gefühlsduselei, nur weil sie zu doof ist, ohne Neve zu leben.

Mit einem Anflug eines kleinen Lächelns in den Augen, schaut Neve ihre Frau an und schließt die Augen bewusst für einen längeren Augenblick. Dann schaut sie Sam so fest wie möglich an. Sam braucht ein paar Schreckmomente bis sie diese kleine Geste versteht.

»Du kommst nach Hause, nicht wahr?«, lächelt sie vorsichtig. Wieder schließt Neve die Augen. Sam lacht erfreut, greift nach Neves Hand und küsst diese gefühlte tausend Mal.

»Und ich werde da sein und dich gebührend empfangen«, lächelt Sam verliebt. Glücklich schaut sie dabei zu, wie sich Neves Augen ein weiteres Mal schließen, sich danach aber nicht mehr öffnen. Neve geht neuen Träumen nach und tankt Kraft für die nächste Gefühlsattacke ihrer Frau.

***

Mit leuchtend großen Augen steht Precious am Nachmittag neben Neves Bett. Auch wenn Sam ihr sagte, dass es nicht sicher sei, ob Mummy wach wäre, wollte die kleine Maus zu ihrer Mutter. Sie wollte sie einfach sehen, mehr nicht.

»Mummy hat den Schlauch gar nicht mehr im Mund«, stellt sie erstaunt fest. Sam tritt hinter sie und streicht ihr zaghaft über den Kopf. Ihre Augen verweilen auf Neve, die noch immer mit dem Kopf zur Seite gedreht, schläft und nichts von dem kleinen Besuch mitbekommt.

»Nein, den braucht sie jetzt auch nicht mehr. Sie kann wieder alleine atmen. Sie wird aber noch sehr lange diese Maske tragen müssen, die ihr beim atmen hilft.« Neugierig blickt Precious zu ihr hoch.

»Warum?« Wie mittlerweile gewohnt, setzt sich Sam auf den Stuhl und zieht Precious auf ihren Schoß.

»Manchmal fühlt man sich morgens beim aufstehen doch immer total schlapp und ohne Kraft, oder?« Precious nickt interessiert.

»Das ist, wenn sich die Muskeln im Körper während des Schlafs entspannt haben. Dann fehlt ihnen die nötige Kraft, um richtig zu arbeiten. Und weil Mummys Atemmuskulatur die letzten Wochen nicht alleine arbeiten konnten, sondern das die Maschine für sie übernahm, sind Mummys Muskeln jetzt natürlich kleiner und schwächer geworden. Mummy muss die Muskeln erst wieder trainieren und ihnen zeigen, wie man atmet. Das kann einige Wochen dauern.«

»Wow«, haucht Precious fasziniert und blickt zu ihrer Mutter zurück, die sich von ihrem Schönheitsschlaf nicht ablenken lässt.

»Precious?«

»Ja?« Mit dem Blick auf ihre Mutter gerichtet, lässt sich die Maus nicht davon abhalten Neve zu beobachten.

»Du weißt doch was Mummy gearbeitet hat, bevor sie krank geworden ist, nicht wahr?« Precious nickt.

»Und du weißt auch, was ich arbeite, richtig?« Wieder nickt Precious.

»Was möchtest du denn später mal arbeiten, wenn du groß bist?« Precious rutscht auf Sams Schoß hin und her und zerquetscht ihr dabei fast die Oberschenkelmuskeln.

»Ich möchte Polizistin werden. So wie Mummy.« Plötzlich schmerzen die Oberschenkel gar nicht mehr. Im Gegenteil, alles in Sams Körper fühlt sich mit einem Mal taub und regelrecht tot an. Sam weiß nicht wie sie mit dieser Antwort umgehen soll. Ein Teil ihres Traums von letzter Nacht soll tatsächlich wahr werden? Precious will wirklich Polizistin werden? Ist das ihr Ernst?

Sam kann sich irgendwie nicht so recht für die berufliche Zukunft ihrer Tochter freuen, auch wenn sie weiß, dass es eigentlich das Richtige ist. Aber nach diesem Traum fühlt sich für Sam so einiges nicht mehr richtig an.

Selbst der Gefühlsausbruch den sie die Nacht bei Neve hatte, fühlte sich nicht richtig an. Zurückhalten konnte sie ihn dennoch nicht. Sie weiß, dass sie einfach nicht ohne Neve sein kann. Sie dann aber mit offenen Augen zu sehen und zu wissen, dass Neve weiterleben wird, ließ alles in ihr zusammenbrechen. Sie war in diesem Augenblick genau das was Neve ihr sagte - was Precious ihr im Traum mitteilte: Sie war egoistisch. Auch die Affäre mit Jessica zeigt das was Neve mit ihren letzten Worten sagte: Sam ist ein verdammter Egoist. Immer denkt sie nur an sich, ohne an ihre Mitmenschen, oder an die Folgen ihrer Entscheidungen zu denken. Für sie gilt immer nur das, was sie denkt und glaubt. Alles andere kommt erst später.

Ihr ist bewusst, dass sie ihrer Frau vergangene Nacht eine gewaltige Last an Verantwortung überlassen hat. Wenn Neve nicht wieder auf die Beine kommt, würde Sam ihr Versprechen nicht halten können und ihrer Frau in den Tod folgen. Es wäre wieder einmal eine egoistische Handlung, mit der sie die Kinder alleine lassen würde. Es ist jetzt aber ausgesprochen und rückgängig kann sie den Gefühlsausbruch nicht mehr machen. Sie kann jetzt nur hoffen, dass Neves Gehirn zu benebelt war, als dass sie wusste was um sie herum geschah und welche Worte Sam aussprach.

»Mummys Finger bewegt sich«, quiekt Precious ganz leise. Hektisch springt sie von Sams Schoß und tritt an das Bett. Auch wenn Sam diese kleine Bewegung nicht gesehen hat, glaubt sie ihrer Tochter. Precious wird sich das nicht eingebildet haben.

Erfreut beobachtet sie die Maus dabei, wie sie Neves Hand umgreift.

»Mummy«, flüstert sie leise und blickt zu ihrer Mutter hoch. Sechs Wochen musste Precious mit ansehen, wie ihre Mutter regungslos im Bett lag und sich nicht bewegte. Die paar Zuckungen ihrer Muskeln wurden für Precious zur Gewohnheit. Sie verlor irgendwann die Hoffnung ihre Mutter würde aufwachen, weil sie verstand, dass das ohne einem neuen Herzen nicht passieren würde. Jetzt aber schlägt dieses neue Herz in Neves Brust und arbeitet daran, zum Alltag zurückzukehren.

Mit einem brummenden Laut dreht Neve den Kopf gerade. Sie beginnt schwerer zu atmen. Sam tritt ebenfalls an das Bett und beobachtet ihre Frau kritisch. Sie muss wohl träumen. Die Gesichtszüge der älteren Frau verhärten sich.

»Mummy drückt meine Hand«, flüstert Precious und blickt zu den beiden Händen hinunter. Sam schaut dort ebenfalls hin. Sie behält Neves Hand im Auge. Sie will nicht, dass Neve ihrer Tochter unbewusst wehtut und deren Hand eventuell zu stark drückt.

Die brummenden Laute gehen weiter. Die Atmung steigt. Die Maske beschlägt mit jedem ausatmen.

»Was hat Mummy?«, haucht Precious vorsichtig, nur um Neve nicht zu erschrecken.

»Ich denke, dass sie träumt«, antwortet Sam ebenso leise. Ihre Augen verweilen auf den Monitoren die Neves Vitalfunktionen überprüfen. Bis auf einen leicht erhöhten Herzschlag kann sie nichts Außergewöhnliches erkennen.

»Ich sage den Schwestern Bescheid.« Ohne darüber nachzudenken, dass sie Precious alleine bei ihrer Mutter lässt die ihre Handlungen noch keineswegs unter Kontrolle hat, verlässt Sam das Zimmer und eilt an den Tresen der Intensivstation. Nicht mal eine Minute später kehrt sie mit einer Schwester zurück, die mit Sicherheit froh sein wird, wenn Neve diese Station verlässt. Nicht wegen ihr als Patientin, sondern wegen ihrer viel zu besorgten und nervenden Frau.

Die Schwester kontrolliert sämtliche Geräte und Maschinen und würde am liebsten die Schultern zucken, beherrscht sich aber. Anstatt mit Sam zu reden, spricht sie bewusst Precious an.

»Deiner Mummy geht es gut. Sie träumt bloß. Es kann sein, dass sie stark zu schwitzen anfängt, aber das gehört zum aufwachen dazu. Mummys Körper muss sich langsam wieder an alles gewöhnen und das ist nach so langer Zeit nicht immer einfach. Verstehst du das?« Wissbegierig lauscht Precious der Schwester mit großen Augen und schaut neugierig zu ihrer Mutter zurück.

»Ja. Wie lange dauert es dann aber noch, bis Mummy wach ist?«

»Das kann niemand so genau sagen. Wenn sie aufwacht, wird sie nur für ein paar Minuten die Augen öffnen können, weil ihr Körper noch zu schwach ist. Sie wird noch sehr viel schlafen. Aber von Tag zu Tag wird das besser, bis sie irgendwann wieder ganz lange wach bleiben wird. Einige Patienten schaffen das schon nach drei Tagen und andere brauchen bis zu zwei Wochen dafür. Es kommt also ganz auf den Menschen alleine an.«

»Ok.« Verständnisvoll nickt Precious und schaut weiterhin zu ihrer Mutter, während die Schwester der Südländerin einen genervten Blick zuwirft und danach das Zimmer verlässt. Sam weiß selbst, dass sie nervt. Aber muss man das gleich so deutlich zum Ausdruck bringen?

»Alles gut, Mummy.« Precious' Stimme ertönt so ruhig, dass Sam überrascht zu ihr zurückblickt. Ihre kleine Hand liegt vorsichtig um Neves Wange, während die andere noch immer die Hand ihrer Mutter hält. Precious' Hand streichelt sanft Neves Wange. Schon nach einigen Sekunden wird Neves Atmung ruhiger und gleichmäßiger. Sam glaubt sich das einzubilden und blickt zu einem der Monitore zurück. Aber auch die Technik zeigt ihr an, dass sich Neves Herzschlag normalisiert. Und weil Precious das natürlich auch nicht entgeht, lächelt sie stolz zu Sam hoch, schaut dann aber wieder zu Neve zurück, die mit jedem Atemzug ruhiger wird, bis ihr Kopf auf die Seite rollt. Sie atmet wieder geregelter und lockert auch den Griff um Precious' Hand. Dennoch verbleiben die kleinen Finger in der großen Hand der älteren Frau, die irgendwie versucht ins Leben zurückzukehren.

»Sieh«, flüstert Sam freudig. Ihr Herz beginnt aufgeregt zu schlagen, als sie Neves bebende Augenlider sehen kann. Mit Neves Hand in ihrer eigenen, rutscht Precious zu Neves Kopf hoch und schaut ihr direkt in das Gesicht.

»Mummy?« Ihre Stimme ertönt ganz leise. Sie will ihre Mutter nicht erschrecken.

Als wenn sie auf Precious gehört hätte, öffnet Neve ganz langsam die Augen. Genau wie letzte Nacht huschen ihre Augen wild hin und her, bis sie bei Precious stehen bleiben. Auch wenn Sam sich gerne hinter Precious stellen und Neve zeigen möchte, dass sie ebenfalls da ist, verdrängt sie diese egoistische Handlung und tritt stattdessen einen Schritt zurück. Dieser Augenblick soll nur den beiden gehören. Schließlich ist sie lernfähig.

»Hallo Mummy«, haucht Precious. Ihr ganzes Gesicht strahlt, als Neve sie schwach aber mit relativ offenen Augen anschaut. Neve schluckt schwer. Ihr Blick ruht auf ihrer Tochter. Ihre Augen beginnen ganz langsam zu leuchten, Sam kann es sehen. Etwas was ihr Herz höherschlagen lässt.

»Precious.« Neves Stimme ertönt leise und kraftlos hinter der Maske. Erschrocken und schon fast geschockt, schlägt sich Sam eine Hand vor den Mund, nur um nicht vor Freude zu quieken. Neve hat es tatsächlich geschafft zu reden. Sie hat Kräfte mobilisiert, die eigentlich noch gar nicht da sind, nur um ihre Tochter zu begrüßen.

Tränen steigen in Sam auf. Das ist alles zu schön um wahr zu sein. Das muss alles ein Traum sein. Wahrscheinlich wacht sie gleich auf und stellt fest, dass sie wieder mal alles nur geträumt hat.

»Hallo Mummy«, freut sich Precious überschwänglich und drückt ihrer Mutter zahllose Küsse auf die Stirn. Dann zeigt sie zur Seite.

»Mommy ist auch hier«, bindet sie Sam mit in diese Begrüßung. Auch wenn Sam das eigentlich nicht wollte, tritt sie dennoch in Neves Blickfeld. Dieses kleine Aufeinandertreffen sollte wirklich nur Precious und Neve gehören. Die kleine Maus scheint aber ihren eigenen Plan zu haben.

Schwach hebt Neve den Blick und schaut zu Sam hoch. Die Südländerin könnte vor Glück und Freude heulen, weil sie ihrer Frau in die Augen blicken kann, verbietet sich diesen Gefühlsausbruch aber.

Neve schaut mit zittrigen Augen zu ihr hoch. Ihr Blick wird matt, er bekommt einen zerstreuten Ausdruck. Nach und nach legt sich ihre Stirn ganz langsam in mickrige Falten. Nachdenklich schaut sie Sam an, bis sie schwer ausatmet. Die Maske beschlägt, ihre Augen fallen zu. Sie bleiben geschlossen.

***

Die nächsten Tage ändert sich nichts an diesem Zustand. Neve kann nur für wenige Momente ihre Augen offenhalten. Etwas was selbst der behandelnde Arzt ungewöhnlich findet. Aber alle neu gemachten Tests erbringen gute Ergebnisse. Medizinisch betrachtet ist Neve auf dem besten Weg einer unkomplizierten Genesung, nur scheint ihre körperliche Kraft noch nicht zurückgekehrt zu sein. Der Arzt beruhigt Sams Sorge damit, dass die Wochen vor Neves Zusammenbruch offensichtlich zu anstrengend für ihren Körper waren und dieser sich nun ganz langsam von diesen Strapazen erholt. Etwas was Sam ganz und gar nachvollziehen kann.

Laura und die anderen rennen ihr auch schon seit Tagen hinterher, weil sie Neve endlich sehen wollen, aber die Südländerin schafft es irgendwie immer wieder die Hunde zurückzuhalten. Mit aller größten Mühe, aber sie schafft es. Sie konnte ja nicht wissen, dass sie am heutigen Tag etwas Rückendeckung gebrauchen könnte. Sie strauchelt nämlich einen Schritt zurück, als sie den behandelnden Arzt an Neves Bett stehen sieht. Ihre Frau ist wach und hört dem Arzt angestrengt zu. Es muss sie enorm viel Kraft kosten. Sam kann die Anstrengung in Neves Gesicht sehen.

Leise betritt Sam das Zimmer, begrüßt den Arzt mit einem kurzen Nicken, der das Gespräch in diesem Moment beendet. Er wirft Sam noch einen kurzen Blick zu, schaut ein letztes Mal zu den Monitoren und verlässt danach das Zimmer.

Wie angewurzelt bleibt Sam vorerst stehen, geht dann aber näher an das Bett heran und umgreift Neves Hand. Ohne bisher Notiz von ihr genommen zu haben, blickt Neve mit kleinen aber offenen Augen zu der Zimmertür zurück. Dann entzieht sie sich der Hand ihrer Frau, indem sie ihre eigene langsam zurückzieht. Verwundert schaut Sam zu den Händen zurück, die mit einer unfassbaren Entfernung zueinander auf der Matratze liegen.

Ist es eingetreten? Ist das passiert was ihr der Arzt nach der OP erklärt hat? Erkennt Neve sie im Augenblick noch nicht wieder? Wird sie noch ein paar Tage brauchen, bis sie weiß wer diese Frau an ihrem Bett ist? Weiß Neve überhaupt was gerade passiert?

»Sechs Wochen.« Neves Stimme klingt ebenso leise und kraftlos wie vor ein paar Tagen, als sie ihre Tochter begrüßte. Sie legt den Kopf zur Seite und schaut Sam direkt an. Sie schaut ihr ganz genau in die Augen.

»Sechs Wochen, Sam.« Sams Herz beginnt vor Freude aufgeregt zu hüpfen. Neve erkennt sie. Neve weiß wer sie ist.

»Ich wollte das nicht, Sam.« Angestrengt holt Neve tief Luft. Die Beatmungsmaschine hilft ihr dabei rettenden Sauerstoff in ihre Lungen zu füllen.

»Sechs Wochen habt ihr um mich gebangt und …«, wieder holt Neve tief Luft »und seid durch die Hölle gegangen.« Wo nimmt diese Frau nur die Kraft her, um so deutlich reden zu können?

»Das war mein freier Wille, Sam.« Die Maschine geht ihrer Arbeit nach und transportiert Sauerstoff in Neves Körper.

Sam kann nicht glauben, dass Neve redet. Dass sie tatsächlich so viele Sätze hintereinander aussprechen kann. Dennoch wandern ihre Augen verunsichert durch das Zimmer. Sie spürt, wie Neve ihr in diesem Augenblick den Arsch bis zum Pluto aufreißt. Sie braucht nur ein paar Worte zu nutzen und dennoch blutet Sam aus dem Arsch, wie das Wasser die Niagarafälle hinunterfließt.

Sie sieht ein kleines Röhrchen auf dem Tisch neben Neves Bett stehen. Dort befinden sich die Überreste des Stents, der ihrer Frau eingepflanzt wurde. Das Ding was sie töten sollte. Das Ding das nur entfernt werden konnte, weil Neves Herz … . Neve weiß also was passiert ist. Dass sie ein fremdes Herz in ihrem Brustkorb trägt. Dass genau das passiert ist, was sie nicht wollte.

»Sam, wenn das Schicksal … .«

»Nein!« Auch wenn es das Schlimmste ist was Sam im Augenblick machen kann und tatsächlich eine Diskussion mit ihrer Frau beginnt, wagt sie diesen Schritt. Sie tritt ganz an das Bett heran, beugt sich über ihre Frau, schaut ihr direkt in die Augen und umgreift ihr Gesicht.

»Ja, ich war egoistisch! Und ja, ich habe auch ebenso verdammt egoistisch gehandelt. Ich weiß, dass ich einen Fehler gemacht habe - dass ich deinen Wunsch ignoriert habe. Aber ich konnte und wollte dich nicht gehen lassen, unter keinen Umständen. Glaube mir, dein Tod wäre für uns alle qualvoller gewesen, als die letzten Wochen.« Mit Tränenuntersetzten Augen blickt Neve zu ihr hoch.

»Sam«, sie holt tief Luft »ich liebe dich so sehr … so sehr.« Die Maschine geht gewissenhaft ihrer Arbeit nach. Das Geräusch macht Sam nervös.

»Aber … .«

»Nein Neve. Ich erwarte und verlange von dir, dass du mir noch mindestens die nächsten dreißig Jahre auf die Nerven gehst. Dass du als alter, schrumpeliger, ergrauter und tattriger Greis eines natürlichen Todes stirbst. Du wirst weder durch eine Kugel, noch durch Gift, noch durch irgendetwas anderes sterben. Dafür werde ich sorgen.« Neve versucht sich unter der Maske an einem schwachen Lächeln.

»Wann hörst du endlich auf«, sie atmet tief ein »so unmöglich zu sein?«

»Dann, wenn du aufhörst mich zu lieben.«

»Das wird niemals passieren.« Mit einem süßen Lächeln zwinkert Sam ihrer Frau zuversichtlich zu.

»Dann ist das Thema hiermit beendet«, flüstert sie und haucht Neve einen Kuss auf die Stirn.

»Ich bin so müde«, murmelt Neve leise.

»Schlaf, ich werde bei dir bleiben.« Das letzte Wort ist noch nicht ganz ausgesprochen, da fallen Neve auch schon die Augen zu.

Vorsichtig setzt sich Sam auf die Bettkante, streicht ihrer Frau mit einem Finger über die Stirn und beobachtet sie beim schlafen. Dass ihr Körper und ihr Verstand das Maß der Erträglichkeit erreicht haben, dass sie nichts Neues mehr aufnehmen und verarbeiten kann, merkt Sam, als sie auf dem Bett zusammensackt und in einen Weinkrampf verfällt. Ihr Kopf sinkt auf Neves Brust. Weinend vergräbt sie sich in ihrer Frau. Neve lebt. Sie ist da. Sie wird bei ihr bleiben. Sie wird sie bis zum letzten Tag begleiten … .

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