Read the book: «Final Game», page 3

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Vom Schlaf irgendwie erschöpft dreht sich Sam zur anderen Seite. Kaum kommt sie zum erliegen, reißt sie die Augen auf. Es piept? Geschockt sitzt sie sofort aufrecht. Hektisch greift sie nach dem Pager vom Krankenhaus. Mit der anderen Hand schaltet sie das kleine Nachtlicht ein. Blinzelnd und mit schmerzenden Augen blickt sie auf das kleine Display. Nichts. Das Teil ist stumm und zeigt ihr keine Neuigkeiten an. Sams Herz klopft allerdings noch immer bis zum Hals. Auch das piepen geht weiter.

Verwirrt legt sie den Pager auf das Nachschränkchen zurück, bis ihr Blick auf ihr Handy fällt. Es blinkt, vibriert und piept. Seit wann piept das Ding? Wann hat sie einen neuen Klingelton eingestellt?

Perplex greift Sam nach dem Handy und muss ihren Augen befehlen Jessicas Namen auf dem Display richtig zu lesen.

»Ja?«, meldet sie sich flüsternd. Ein kurzer Blick zu Precious folgt.

»Ich bin es.« Jessica klingt so verschlafen wie Sam sich fühlt.

»Das Krankenhaus rief eben an.« Im Bruchteil einer Sekunde ist Sam schlagartig hellwach. Ihr Herz beginnt zu rasen, ihr wird unerträglich heiß. Blitzschnell blickt sie zu Precious zurück. Angst erfüllt sie. Mit wackeligen Beinen steht sie auf und schleicht aus dem Schlafzimmer. Das eingeschaltete Licht brennt in ihren Augen.

»Jessica, was … ?«

»Neve hatte einen Krampfanfall. Durch den Beatmungsschlauch zog sie sich eine Lungenentzündung zu.« Eine ohrenbetäubende Pause kehrt in das Gespräch ein. Sam ist nicht fähig richtig zu atmen oder zu denken. Alles dreht sich … .

»Sam, du weißt was das bei Neves Zustand bedeuten könnte … .« Kraftlos lehnt sich Sam gegen die Wand. Ihr fällt das Atmen unfassbar schwer. Es fühlt sich an, als wenn jemand auf ihrem Brustkorb sitzen würde. Alles ist so beengt und erdrückend.

Sam glaubt sich zu verhören, aber sie ist sich nach ein paar Sekunden sicher. Laura weint im Hintergrund. Bis zum heutigen Tag hat sie ihre beste Freundin wegen Neve nicht weinen gesehen. Immer war sie unfassbar stark und hat Sam gehalten. Diese Nachricht scheint sie jetzt aber völlig mitgenommen zu haben.

»Jessica, bitte … .« Sam kann nicht glauben, dass sie diese Worte wirklich aussprechen kann wenn es sein muss. Es scheint jetzt aber eine Situation eingetreten zu sein, bei der sie einen klaren Kopf bewahren muss.

»Ich werde sie nicht leiden lassen, Sam. Das verspreche ich dir.« Jessica muss sich das weinen schwer verbieten, kann es aber nicht verhindern, dass sie kurz schnieft. Lauras Weinen im Hintergrund wird lauter und stärker.

»Kümmere dich um Laura«, flüstert Sam und legt gleich darauf auf. Sie kann sich nicht vorstellen was es Jessica an Kraft kosten muss all diese Last zu tragen. Eventuell eine Entscheidung treffen zu müssen, die sie zerstören könnte. Gleichzeitig muss sie sich aber auch noch um ihre eigene Familie kümmern und nebenbei ihre Freunde stützen. Was hat Neve ihr da nur angetan? Nein, was hat Sam ihrer Freundin nur angetan?

Wankend tritt Sam an die Treppe. Kraftlos hält sie sich am Geländer fest. Schritt für Schritt geht sie die Stufen hinunter. Tausend Bilder jagen durch ihren Kopf. Bilder die zeigen wie Neve im Bett liegt. Bilder die zeigen wie Neves Körper wegen dem Anfall unkontrolliert zuckt. Bilder die zeigen wie Neve von unzähligen Ärzten umzingelt ist, die ihr Leben retten wollen. Bilder auf denen Dinge zu sehen sind, die geschahen während Sam schlief. Alle haben geschlafen. Alle Hunde haben friedlich in ihren Betten geschlafen, während Neve den Tod ein weiteres Mal herausforderte.

Bei dem Gedanken daran, verlassen Sam ihre Kräfte. Weinend sinkt sie auf der Treppe zusammen. Zitternd kauert sie auf den Stufen. Mit einem Mal wird ihr etwas bewusst. Seit fast drei Wochen sitzt sie täglich an Neves Bett und ging irgendwann, weil sie sich um die Kinder kümmern musste. Jeden Tag verabschiedete sie sich von ihrer Frau, empfindet dies nun allerdings als völlig wirkungslos. Sam ging jeden Tag mit dem Wissen nach Hause, dass Neve die kommende Nacht überleben würde und Sam sie am nächsten Tag wie gewohnt besuchen kann. Ihr ist es nie in den Sinn gekommen, dass das nicht passieren könnte. Dass Neves Körper dieser Prozedur nicht standhalten würde und einfach aufgab. Diese Tatsache kam für Sam nie in Frage. Neve ist stark. Sie ist unheimlich stark, etwas anderes gibt es für Sam einfach nicht.

Dieser Vorfall zeigt ihr aber, dass jede bisherige Verabschiedung nur ein minimaler Hauch ihrer Gefühle war. Nie verabschiedete sie sich richtig von ihrer Frau. Immer war es auf ein morgiges Wiedersehen bezogen. Was ist aber, wenn es kein Morgen mehr gibt?

Bei diesem Gedanken zittert Sam noch stärker. Sie war schon wieder egoistisch. Schon wieder hat sie nur an sich gedacht und nicht daran, was das alles für Neve bedeutet. Welche Kraft Neves Körper aufbringen muss. Hat er das die letzten Monate aber nicht schon ausgiebig genug getan? Hat er nicht genug gekämpft? War er etwa nicht stark?

Auch wenn Sam versucht weinend und schniefend die Fassung wieder zu erlangen und sich sogar von den Stufen erhebt, kann sie nichts gegen die Tränen machen. Sie kommen unaufhörlich. Ihr Herz schmerzt bei jedem Gedanken an ihre Frau. Daran, wie sie Meilenweit entfernt im Krankenhaus liegt und um ihr Leben kämpft. Sam weiß, dass sie sich um die Kinder kümmern muss. Wenn es nach ihr gehen würde, säße sie schon längst in ihrem Wagen und würde ins Krankenhaus fahren, nur um Neve nahe zu sein, auch wenn sie nichts tun könnte. Sie weiß aber auch, dass sie zuhause zwei kleine Kinder hat, die ihre Mutter sehen wollen wenn sie aufwachen. Sam weiß, dass sie hier bleiben und für ihre Töchter da sein muss. Sie muss sich um sie kümmern und ihnen Sicherheit und Halt geben, auch wenn sie davon selbst nichts mehr aufweisen kann. Sie fühlt sich leer und ausgebrannt. Jegliche Kraft und Hoffnung hat sie verlassen. Die Nachricht, dass Neve erneut um ihr Leben kämpft und die Tatsache, dass sie diese Nachricht nicht verarbeiten kann, zeigt ihr, dass sie ganz und gar ausgelaugt ist. Dass keine Kraft mehr vorhanden ist, von der sie schöpfen könnte. Dennoch muss sie an Precious und Jean denken.

Mit einem Blick zurück nach oben, wankt Sam in die Küche. Zitternd bereitet sie sich einen Kaffee zu, mit dem sie sich einige Zeit später auf die Couch setzt. Fast in Trance schaltet sie den Fernseher ein und sucht einen Radio-Sender. Ton reicht ihr, Bild wäre im Augenblick tatsächlich zu viel für sie. Sie würde reizüberflutet werden und damit kann sie jetzt grade nicht umgehen.

Sam weiß, dass sie zu Neve will. Dass sie einfach nur zu ihrer Frau will. Sie weiß auch, dass es ihrem natürlichen Instinkt widerstrebt hier zuhause zu sitzen, anstatt bei ihrer Frau zu sein. Sie führt einen inneren Kampf mit sich aus, dem sie kaum etwas entgegenzusetzen hat. Ihr fehlt die nötige Kraft um sich auf eines der Gefühle zu konzentrieren. Ihr ist bewusst, dass ihr zuhause ihr in diesem Moment wie ein Gefängnis vorkommt. Dass sie hier raus will – dass sie tatsächlich nicht hier sein will. Aber sie hat zwei Kinder. Sie hat Neve versprochen, dass sie sich um sie kümmern wird. Neve hat in vielerlei Hinsicht an so vieles gedacht und vorausgeplant. Sie tat das alles im Sinne ihrer Familie. Sam hingegen kann nur an sich denken. Sie muss sich dazu zwingen, zuhause bei ihren Kindern zu bleiben. Jessica wird sich melden. Sobald sie eine Information aus dem Krankenhaus bekommen wird, ist Sam die Erste der sie davon erzählen wird. Nur wann das sein wird, weiß niemand.

Alleine dieser Gedanke lässt Sam schwindelig werden. Um ihren Kreislauf aber einigermaßen aufrecht zu halten, trinkt sie einen großen Schluck Kaffee. Es fühlt sich für sie im Augenblick an, als wenn sie in einer Seifenblase sitzen würde, die mit einer kurzen Nachricht – mit wenigen Worten zerstört werden könnte. Nur ein Anruf, ein paar Worte und Sams Leben wäre für immer vernichtet.

Kopfschüttelnd blickt sie zu dem Fernseher. Nein, Neve wird sie nicht alleine lassen, niemals. Sie wird kämpfen, auch wenn sie eigentlich gar keine Kraft mehr dazu hat. Sie kämpft, um zu ihren Kids und ihrer Frau zurückkehren zu können. Sam weiß das. Es gibt eigentlich gar keine andere Möglichkeit als diese. Neve wird kämpfen!

***

Wie ein Tornado wirbelt Sam am Morgen um ihre eigene Achse. Die Schüssel mit Birnenstücken für Jean fällt ihr aus der Hand und zerschlägt auf den Küchenfließen.

Mit einem einzigen Satz ist sie beim Tresen, reißt das Telefon aus der Halterung und schleudert diese mit einer einzigen Bewegung fast vom Tresen.

»Ja?«

»Es geht ihr den Umständen entsprechend gut. Sie ist stabil.« Kaum spricht Jessica diese Worte aus, laufen Sam Freudentränen über die Wangen.

»Die Lungenentzündung war nicht so schlimm wie zuerst angenommen. Neves Körper hat die Entzündung früh genug angezeigt, so dass nichts Gravierenderes passieren konnte. Allerdings bekommt sie weitere Medikamente, um die Entzündung zu behandeln.« Sams Schweigen zeigt Jessica, dass ihr eine Tonnenschwere Last vom Herzen gefallen ist. Sam wüsste eh nicht, was sie im Augenblick sagen sollte. Ihr fehlen einfach die Worte.

»Sam?«, fragt Jessica vorsichtshalber dennoch nach.

»Wie geht es Laura?«, flüstert Sam kaum hörbar. Sie hört Jessica schlucken.

»Sie ist fertig mit den Nerven. So habe ich sie in all den Jahren noch nie erlebt. Selbst du würdest sie nicht wiedererkennen.«

»Wie geht es dir?« Sam hört ihre Freundin schmunzeln.

»Danke, dass du fragst«, flüstert Jessica erfreut.

»Mir«, sie räuspert sich »mir geht es soweit ganz gut. Das Denken fällt mir schwer und die Konzentration für die Kids fehlt mir, aber ich schaffe das schon. Wenn das alles vorbei ist, brauche ich definitiv Urlaub«, lacht Jessica schwerfällig.

»Den spendiere ich dir dann«, lacht Sam ebenfalls.

»Zu großzügig von dir.« Sam kann sich Jessicas grinsendes aber erschöpftes Gesicht richtig gut vorstellen. Was die Frau im Augenblick ertragen muss, ist der Wahnsinn. Sie muss in so viele Richtungen denken und gleichzeitig funktionieren. Sam ist mit sich selbst und den Kids ja schon überfordert. Wenn sie sich aber auch noch um Neve und ihre Freunde kümmern müsste, würde sie sich aus Selbstschutz irgendwo verkriechen.

»Kann ich später kurz vorbeikommen bevor ich ins Krankenhaus fahre?«

»Natürlich, das würde uns freuen. Sam, ich weiß, dass dir das nicht schmecken wird, aber fahre heute bitte nicht ins Krankenhaus.« Das erste Gefühl das in Sam aufsteigt, ist Wut. Sie spürt schon dieses Brodeln.

»Neve hat eine wahnsinnig anstrengende Nacht hinter sich. Gib ihr bitte einen Tag Ruhe, Sam. Nur einen. Gib ihr und dir selbst etwas Ruhe. Morgen kannst du wieder hin. Bring die Kids später einfach mit und ich koche uns etwas, ja?« Jessica spricht so ruhig und einfühlsam, dass sich Sam fragt, wie sehr sie sich eigentlich unter Kontrolle haben muss, um nicht in Tränen auszubrechen und stattdessen an ihre Freunde zu denken. Wo nimmt Jessica nur die Kraft und Geduld her? Wie kann sie überhaupt noch klar denken? Ist es das was Neve in ihr sah, als sie die Patientenverfügung ausfüllte? Ist es das was Neve aus ihrer Freundin herauskitzeln wollte? Diese ruhige und besonnene Art? Dieses kontrollierte Denken und Handeln?

»Du bist unglaublich«, flüstert Sam so leise, dass Jessica nach wenigen Sekunden »Was hast du gesagt?« nachfragt.

»Ich komme später mit den Kids rum. Vielleicht kann ich dir beim kochen helfen. Braucht ihr noch etwas? Soll ich etwas mitbringen?«, lenkt Sam gekonnt ab.

»Nein, danke. Ich wollte eh gleich einkaufen fahren.«

»Wirklich? Und was ist mit Laura? Du kannst doch nicht … .«

»Mach dir um sie keine Sorgen. Ich weiß schon wie ich meine geliebte Frau wieder auf die Beine bekomme.« In Jessicas Aussage schwingt solch ein Schalk mit, dass Sam nicht nachfragen braucht was Jessica mit Laura anstellen wird. Sie wird wissen was sie macht.

***

Mit offenen Armen empfängt Jessica Sam am frühen Abend. Sie hält sie fest und hofft ihr somit etwas Kraft geben zu können.

»Alles ok?«, flüstert sie in Sam hinein, die als Antwort darauf nur nickt.

»Ich bin ziemlich im Arsch, aber es geht schon … irgendwie.«

»Dann kannst du dich ja mit Laura zusammentun«, grinst Jessica hinterlistig, nimmt Sam von sich weg und schaut sie zuversichtlich an. Eine Kopfbewegung ins Haus folgt.

»Dann geh mal das Wrack suchen und heitere sie etwas auf.« Gerade als Jessica an Sam vorbei will um die Kids zu begrüßen, hält Sam sie fest. Hinterlistig grinst sie.

»Sag bloß, dir ist es nicht gelungen deine Frau wieder auf die richtige Bahn zu lenken?« Jessica blickt zu ihr zurück. Geheimnisvoll zieht sie die Augenbrauen hoch.

»Doch, meine Methoden haben schon fast utopische Ausmaße angenommen, aber es fehlt noch der letzte Feinschliff der besten Freundin«, zwinkert Jessica und holt Jean aus ihrem Kindersitz, während Precious auf der anderen Seite aus dem Wagen steigt.

Mit einem letzten Blick zurück zu ihren Kids und Jessica, betritt Sam das Haus und schaut sich suchend um. Draußen auf der Veranda kann sie ihre Freundin dann ausmachen. Sie bleibt kurz stehen, als sie durch den Qualm erkennen kann, dass Laura scheinbar wieder mit dem rauchen angefangen hat. Enttäuscht schüttelt sie den Kopf und tritt hinaus.

»Müsst ihr eigentlich immer alle mit dem rauchen anfangen, wenn etwas Schreckliches passiert ist?«, murmelt sie bockig vor sich hin. Gerade als sie an Lauras Seite treten will, dreht sich ihre Freundin zu ihr um.

»Hey«, lächelt sie mit gespielter Stärke. Sam schaut zu ihr hinüber und erschrickt. Entgeistert – schon fast geschockt starrt Sam ihre beste Freundin an, die im Gesicht aussieht, als wenn sie tausend Bienen gestochen hätten und ihr Gesicht daraufhin so dermaßen aufgequollen ist, dass der nächste Stich dieses zum platzen bringen würde. Laura grinst und zieht die Schultern hoch.

»So sehe ich nun mal aus, wenn ich Stunden nichts anderes getan habe, als zu heulen. Was meinst du wie ich damals ausgesehen habe, als du und Neve gestorben seid? Mich hat man gar nicht wiedererkannt.« Sam starrt ihre Freundin noch immer an und wird sich einer Sache bewusst. Die beiden kennen sich seit über dreißig Jahren und Sam hat Laura noch nie so richtig heulen gesehen. Bisher waren es immer nur kleine Tränchen, oder ein Anflug von weinen, aber noch nie hat Laura so voller Gefühl geweint wie Sam das selbst schon oft genug an den Tag gelegt hat.

»Wie geht’s dir?«, flüstert sie verwirrt. Laura zieht an der Zigarette und schiebt danach die Schultern hoch.

»Neve liegt im Krankenhaus und kämpft um ihr Leben und wir leben hier unser eigenes Leben weiter. Wie soll es mir da schon gehen?« Sie schmeißt die Zigarette zu Boden und tritt sie aus.

»Allmählich kapiere ich endlich weshalb Neve nach Hunters Point abgehauen ist. Das alles hier«, angestrengt holt Laura tief Luft »wollte sie nicht. Mich macht das kaputt. Ich kann langsam nicht mehr.« Nervös und mit zitternden Händen zündet sich Laura eine neue Zigarette an. Sam denkt im ersten Moment daran, ihr diese aus der Hand zu nehmen, spürt aber, dass sie tatsächlich selbst eine Zigarette vertragen könnte.

»Jessica fährt alles auf was sie bieten kann, um mich bei Verstand zu halten, aber dieser driftet Tag für Tag mehr und mehr ab. Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, wie sie das alles aushält - wo sie die Kraft für all das hernimmt. Sie muss eine enorme Energie haben, wofür ich sie vergöttre.« Irgendwie benommen schaut Laura in das Haus zurück.

»Wenn ich schon so abdrehe wenn Neve mit dem Tod ringt, wie flippe ich dann aus, wenn mich meine Frau alleine lässt?« Mit Tränen in den Augen und dieser Frage ausgestattet, schaut Laura ihre langjährige Freundin an.

»Im Augenblick gehen mir so unfassbar viele und auch teilweise kranke Fragen und Gedanken durch den Kopf.« Verzweifelt schüttelt Laura den Kopf und blickt in den Garten hinaus.

»Welche?«, flüstert Sam vorsichtig. Laura lacht schnippisch.

»Ob es schlau war, eine Frau zu lieben die so viel älter ist als ich und die definitiv vor mir gehen wird. Ob es richtig war, eine Familie zu gründen. Ob ich nicht einfach meinen alten Lebensstil beibehalten hätte können. Warum ich überhaupt diese Gefühle Jessica gegenüber zugelassen habe. Weshalb ich mich für sie entschieden habe. Weshalb ich nicht einfach diese Rotzgöre von damals hätte bleiben können, die jede Frau genommen hat, die ihr über den Weg lief und sie danach über den Jordan geschickt hat. Manchmal glaube ich, dass es der größte Fehler meines Lebens war, Gefühle zu zulassen und Jessica zu lieben. Wenn ich alleine geblieben wäre, dann würde ich mir all diese Fragen gar nicht stellen und ich würde noch heute durch die Straßen streifen. Alleine, ja, aber zu mindestens nicht mit diesem Schmerz im Herzen.« Sam spürt den Kloß der sich in Lauras Hals bildet, weil sich dessen heimtückischer Zwilling im selben Moment in ihrem eigenen Hals ausbreitet. Tapfer schluckt sie.

»All diese Fragen und Gedanken kenne ich nur zu gut«, krächzt sie angestrengt.

»Mir geht es nicht anders, Laura. Manchmal gibt es Momente, wo ich mich für meine Gefühle Neve gegenüber selbst töten könnte … .«

»Das Thema hatten wir schon«, unterbricht Laura sie lachend. Sam stockt.

»Du weißt wie ich das meine«, nuschelt sie. Laura nickt schwach.

»Man zweifelt an sich selbst und seinem Verstand. Alles steht Kopf und nichts scheint logisch zu sein. Und dann …«, Sam blickt kurz nach hinten »passiert das.« Vorsichtig tritt Jessica von hinten an Laura heran. Richtig zaghaft schlingt sie ihre Arme um Lauras Hüfte und hält sie fest. Schüchtern vergräbt sie ihr Gesicht in den blonden Haaren ihrer Frau, riecht und gibt ihr einen Kuss. Sam kann sehen, wie sich Lauras Augen von alleine schließen. Ein Lächeln bildet sich auf ihren Lippen. Sie beginnt loszulassen und sich fallen zu lassen.

»Es ist wie es ist, Laura. Keine von uns kann sich dagegen wehren. Unsere Liebe Neve und Jessica gegenüber ist alles was uns aufrecht erhält. Was uns Kraft und Zuversicht gibt. Was uns stark macht und für uns den Sinn des Lebens ergibt. Wir wären nichts ohne Neve und Jessica – zwei verlorene Seelen, mehr nicht.« Laura seufzt. Sie weiß, dass Sam Recht hat. Das hat sie immer … meistens … manchmal.

»Neve wird das packen, oder?«, fragt sie zurückhaltend. Sam nickt zuversichtlich, obwohl sie sich nach vergangener Nacht gar nicht mal mehr so sicher ist.

»Natürlich wird sie es schaffen, sie ist ein zäher Brocken.« Auch wenn sie die Worte selbst nicht glaubt, muss sie wenigstens so tun als ob, um Laura wieder auf die Beine zu bekommen. Die blickt kurz zu ihrer Frau nach hinten, dann wieder zu Sam. Schnell schaut sie zwischen den beiden Frauen hin und her.

»Lust auf einen Dreier?«, grinst sie frech. Jessica beginnt zu lachen, drückt ihrer Frau noch einen Kuss auf den Kopf und schaut zu Sam hinüber.

»Ich sagte doch, dass nur noch der letzte Schliff der besten Freundin fehlt«, zwinkert sie und lässt die beiden Freundinnen alleine stehen.

***

Beim Abendessen muss Sam schwer schlucken. Sie sieht, wie Precious ganz langsam an den Esstisch herantritt. Ihre Augen verweilen unsicher auf dem Stuhl der an diesem Abend leer bleiben wird. Der Stuhl, auf dem sonst ihre Mutter sitzt.

Sam kann leichte Panik in Precious' Augen erkennen. Sie schweifen wild hin und her.

»Schatz«, flüstert Sam vorsichtig, nur um Precious nicht zu erschrecken. Verunsichert schaut die Maus zu Sam hinüber, die eine Hand zu ihr ausstreckt.

»Komm her und setz dich zu mir«, lächelt sie zuversichtlich. Sie weiß, dass sie Precious im Augenblick nicht alleine lassen kann. Das wäre zu schmerzhaft für sie.

»Von wegen«, jauchzt Damon plötzlich dazwischen und schnappt sich seine Schwester. Erschrocken quiekt die kurz auf, als ihr großer Bruder sie einmal durch die Luft wirbelt. Wie selbstverständlich setzt er sich auf Neves Stuhl und platziert seine Schwester direkt neben sich. Er rückt ihren Stuhl noch etwas zurecht und schaut an ihr vorbei zu Jean hinüber, die schon voll und ganz mit ihrem Besteck beschäftigt ist. Er kann Sams Blick spüren, der über Jeans Haare hinweg auf ihn gerichtet ist. Sam hätte Jean eigentlich einen Platz weiter gesetzt und Matt gebeten, sie zu füttern, damit sie sich um Precious kümmern kann. Weil Damon aber Neves Platz eingenommen hat und seine Schwester von dieser ungewöhnlichen Sitzordnung ablenkt, lächelt sie ihn dankbar an und nickt ihm ebenso zu. Er nimmt ihren Blick auf und wuschelt Precious absichtlich kräftig durch die Haare.

»Damon!«, kreischt der Zwerg laut auf. Gespielt wütend schaut sie ihn an.

»Lass das.«

»Sonst was? Haust du mich?«, grinst der Jugendliche seine kleine Schwester an. Anstatt zu antworten, holt Precious gleich aus und boxt ihrem Bruder gegen den Oberarm.

»Aua aua, ich sterbe«, jault Damon gespielt theatralisch und hält sich den Arm. Grinsend blickt er in die Runde. Jessica und Laura haben Dylan in seinem Kinderstuhl auf der gegenüberliegenden Seite soweit zu sich in die Mitte geschoben, dass es nicht auffällt, dass neben dem kleinen Hosenscheißer eigentlich sein großer Bruder sitzt, die Ordnung aber wegen einer fehlenden Person umdisponiert wurde. Matt und Jill haben sich im Laufe des Abends dazugesellt und nehmen die Plätze am Tischende und Anfang ein.

»So, jetzt geht’s aber mal langsam los hier.« Als wenn er eine Schafherde zusammentreiben würde, klatscht Damon aufscheuchend in die Hände und blickt hungrig über den gedeckten Tisch.

»Lasst uns anfangen, ich habe später noch eine Verabredung.« Bevor aber auch nur eine Hand beginnt in den Schüsseln zu wühlen, hebt Damon sein Glas.

»Auf Neve, die wegen ihrer Faulheit ein wundervolles Abendessen verpasst«, prostet er in die Runde. Die ersten Sekunden bleibt es still. Damon weiß aber, dass er keinen Fehler gemacht hat.

»Auf Neve, deren Cellulitis-Arsch ich gründlich versohlen werde.« Niemand hätte gedacht, dass Sam die Erste ist, die ihrem Patensohn mit dem Prost folgt. Es scheint ihr aber gut zu tun, denn das freche Grinsen auf ihren Lippen wirkt aufrichtig und ehrlich.

»Auf Neve«, folgen die anderen ihrem Beispiel.

Während Sam ihren ersten Schluck Wein zu sich nimmt, blickt sie aus dem Augenwinkel zu Damon hinüber. Der Junge ist so unglaublich groß und erwachsen geworden. In einigen Monaten wird er achtzehn, wirkt aber wie ein fünfundzwanzigjähriger. Er hat sehr viel mitmachen und erleben müssen, trotz dessen, dass alle noch immer versuchen ihn und die anderen Kids aus dem Leben der Hunde rauszuhalten. Zwar weiß Damon was seine Eltern sind und welchen Nebenjob sie haben, dennoch interessiert es ihn keineswegs. Niemals fragt er irgendetwas oder unterstellt ihnen etwas. Er nimmt es einfach hin, ohne es zu verurteilen.

»Damon.« Fragend blickt der Junge zu Sam hinüber. Die streicht sich mit einer Hand über das Kinn und zeigt dann auf das ihres Patenjungen.

»Du hast da was. Ich glaube ein Fussel, oder so.« Kaum verengen sich Damons Augen zu einem giftigen Blick, beginnt Sam schallend zu lachen. Sie weiß, dass der Junge es keineswegs ausstehen kann, wenn man ihn auf seinen Bart anspricht, den er sich voller Stolz und mit großer Mühe wachsen lässt. Das was ihm da aber aus dem Gesicht sprießt hat noch keineswegs Ähnlichkeit mit einem Bart. Es sieht eher aus, wie eine Horde schwarzgefärbter Spinnweben.

Dafür kann er aber mit einem kräftigen Körper punkten. Der dauerhafte Besuch eines Fitneßstudios trug schon früh Früchte. Und als Damon in der Schule dann auch noch feststellte, dass die Mädchen darauf abfahren, war es schwer ihn von den Gewichten loszureißen. Er mutiert mehr und mehr zu einem Mann, der sich tatsächlich sehen lassen kann. Er kommt seinem Vater unfassbar gleich.

Sams Gelächter wandert über den ganzen Tisch und nimmt ihre Freunde fast gefangen. Nach und nach beginnen alle zu lachen, auch wenn es auf Damons Kosten ist. Sie sind froh, dass das Abendessen und das kleine Zusammentreffen nicht so steif ablaufen, wie es eigentlich jeder erwartet hat.

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