Katzmann und die Dämonen des Krieges

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Polizisten? Nein, Bullen konnten sich den teuren Stoff nicht leisten und mussten auch nicht derart zerknitterte Lappen tragen. Beobachteten ihn schon die Verbrecher, die es auf Preßburgs Koffer abgesehen hatten? Aber wie sollten die auf ihn kommen? Am besten, er würde nach der Runde aussteigen und dann schnell, aber auf Umwegen nach Hause gehen. Ein paar Mark hatte er gewonnen, das musste für heute reichen.

Er erreichte das Klo und öffnete die Tür. Uringestank. Wenigstens war kein Mensch hier. Ein bisschen Ruhe konnte er gebrauchen. Er trat an die Pissrinne, öffnete den Hosenstall, pinkelte und beobachtete, wie der Strahl an die Wand stieß, in die Rinne lief, in den Abguss floss.

Hinter ihm öffnete sich die Tür, ein Hauch frischer Luft schwappte herein. Cramer schüttelte die letzten Tropfen von seinem Pimmel und steckte ihn in die Hose.

Eine Hand an seinem Kragen. Ein Griff wie von einer Eisenfaust. Ein Ruck. Sein Kopf knallte an die Pisswand.

«Scheiße! Was soll denn das? Aua!»

Wieder ein Ruck. Rums, sein Kopf knallte gegen die Wand. In seiner Stirn stach ein Schmerz, als würde ein Specht direkt auf den Schädel picken.

«Au! Scheiße! Aufhören!»

Der Griff wurde gelockert. Helmut Cramer versuchte, den Mann in seinem Rücken mit den Händen zu greifen. Wieder die Eisenfaust. Und wieder krachte sein Kopf gegen die Wand. Er hielt still, so gut er konnte. Seine Knie zitterten. Der Kopf brummte inzwischen, als wäre eine ganze Spechtfamilie am Werke.

«Der Junge wird also langsam vernünftig.» Die Stimme klang tief, fast wie von einem Bären. Der Kollege von seinem Bruder? Die Worte rochen nach Bier.

«Was ist denn los?»

«Das fragst du mich? Warte, ich helfe meinem Falschspieler beim Nachdenken.» Erneut knallte sein Kopf gegen die Wand.

«Au! Scheiße!»

«Das hatten wir schon. Ich möchte jetzt einen Vorschlag hören, wie es weitergeht.» Der Bär brummte, als mache ihm die Anstrengung nichts aus, aber auch keinen Spaß. Als wolle er am liebsten schnell zurück in seine Höhle.

«Ich höre auf zu spielen. Ich wollte nach der Runde sowieso gehen.»

« Nach der Runde?» Kopf gegen die Wand.

«Au! Nein, gleich. Ich sage, ich habe plötzlich Kopfschmerzen bekommen.»

Die Tür öffnete sich. Ein Mann nuschelte etwas, Helmut Cramer verstand die Worte nicht.

«Wir müssen uns noch kurz zu Ende unterhalten. So lange hältst du es aus.» Der Bär brummte die Worte von Helmut Cramer weg.

Der Nuschler murmelte: «Sgud, Ludwich.»

«Danke. Wir sind fast fertig.» Die Stimme des Bären und der Biergeruch kehrten zu Helmut Cramers Kopf zurück. Die Tür fiel zu. Dann sagte der Bär: «Also, du gehst raus und sagst, dass du nicht mehr spielen kannst. Was machen wir mit den Runden, die schon gespielt sind?»

«Äh …» Kopf gegen die Wand. «Au! Scheiße, Scheiße!»

«Du musst an deinem Ausdruck arbeiten, junger Mann. Das werde ich deinem Bruder bei Gelegenheit sagen. Aber zurück zu deinen Skatfreunden: Was machst du mit den gespielten Runden?»

«Ich sage, ich will das Geld nicht. Habe nur um die Ehre gespielt.»

«Um die Ehre, haha.» Der Bär lachte noch tiefer, als er sprach. Helmut Cramer spannte seine Muskeln an, er erwartete den nächsten Schlag. Zum Glück blieb der aus.

«Also gut, mein junger Freund. So kannst du es machen. Ich gebe dir noch einen Rat für die Zukunft. Den Ede nimmst du nicht mehr aus. Das ist eine gute Seele. Und wenn ich dich erwische, wie du den betrügst, setzt es eine Tracht Prügel. Verstanden?»

«Verstanden.» Es schien fast ausgestanden zu sein. Selbst die Spechte schienen langsamer zu flattern.

«Mit Hannes kannst du dich meinetwegen anlegen. Aber wenn der dich erwischt, wirst du dir eine Tracht Prügel von mir wünschen.

Mit einem Gesicht voller Narben bist du auch nicht mehr der Schöne .»

Der Bär lockerte seinen Griff. Helmut Cramer entspannte seine Muskeln.

Eisenfaust. Kopf gegen die Wand.

«Au! Scheiße!»

«Und gewöhn dir diese Ausdrücke ab.» Der Bär ließ los. Helmut Cramer erwartete einen letzten Schlag. Die Schmerzen stachen nicht mehr, es fühlte sich eher an, als ob der Kopf ein Kürbis sei, kurz vorm Platzen.

Doch die Schritte entfernten sich. Er schaute zur Tür und sah, wie der Bär in den Gastraum ging. Das war tatsächlich dieser Kollege seines Bruders aus dem Großhandel! Dieser Vorarbeiter, Heilmann oder Weymann oder so. Er würde eine Gelegenheit finden, es ihm heimzuzahlen.

Heinz Eggebrecht trank Bier und sah im Augenwinkel, wie der Skatspieler sich von seinen Tischkumpanen verabschiedete. Warum nur so plötzlich? Hatte ihre Aufmerksamkeit ihn vertrieben?

«Der Kerl geht. Sieht fast so aus, als fühle er sich bei etwas ertappt. Da war er wohl eher der Lump.» Konrad Katzmann schlürfte einen Schluck vom frischen Bier.

Am Skattisch schien es Ärger zu geben. Einer der Mitspieler gestikulierte wild mit den Armen. Die Stimmen wurden lauter, drangen durch den Kneipenlärm: «Mitten in der Runde.», «… der will uns wohl verarschen!»

Der junge Mann, den sie beobachtet hatten, antwortete zu leise, Heinz Eggebrecht konnte nichts verstehen. Aber offenkundig versuchte er, die aufgebrachte Runde zu beschwichtigen, indem er mit den Handflächen symbolisch Luft nach unten pumpte. Der Gestikulierer rief laut: «Das reicht! … Lass dich nicht mehr hier blicken! Raus jetzt!»

Der junge Mann nahm den Mantel über den Arm und lief zur Tür.

«Ja, er war doch eher der Bösewicht. Wenn ich ihn jetzt ablichten würde, bräuchte man gar keinen Text mehr.»

«Könnte sein. Ein Prosit auf die Photographie!» Konrad Katzmann lachte und hob sein Bier.

Heinz Eggebrecht stieß seins dagegen und trank einen großen Schluck. So viel Bier wie heute konnte er sich sonst nicht leisten - langsam merkte er, wie ihm der Alkohol in den Kopf stieg. Es fühlte sich an, als würde jemand mit einem Schwungrad in der Hand die Innenseite seines Hinterkopfes hinaufklettern und dabei das Rad langsam drehen. Dies hier musste das letzte Bier sein.

«Vielleicht reicht das für heute auch an guten Taten. Sonst kann ich morgen gar nichts mehr vom großen Reporter lernen.»

«Ja, ich kann das Ende des Tages auch schon am Grund meines Bieres sehen. Was du morgen von mir lernen kannst, weiß ich allerdings auch nicht. So ein Reporter ist ja nur ein halber Mensch ohne Zeitung.»

Heinz Eggebrecht griff nach dem Zigaretten-Etui. Noch zwei Stück lagen darin. Das war ein Zeichen. «In der Redaktion sind trotzdem immer Leute.»

«Klar. Man darf doch nicht den Anschluss verlieren, nur weil nichts gedruckt wird. Ich werde morgen auch in die Tauchaer Straße gehen.»

Die Zigaretten konnten die Luft kaum noch schlechter machen. Heinz nahm einen kräftigen Zug. Der Qualm biss in seinen Augen. Er musste an den Vormittag, an die Neuesten Nachrichten, denken. An den Mord an diesem … Wie hieß der gleich? «Heute morgen hab ich bei der Konkurrenz übrigens von einem Mord gelesen. Es gibt nun einen Unternehmer weniger in Leipzig. Er hieß Plensdorf oder Proßberg … nein, Preßburg. Ich kenne diesen Namen irgendwoher. Ich weiß nur nicht, woher.»

«Bis nach Dresden ist Preßburgs Ruf jedenfalls noch nicht gedrungen. Ich höre den Namen zum ersten Mal.»

«Großhändler ist er wohl gewesen, schreiben die Neuesten Nachrichten .»

Konrad Katzmann liefen die Gesichtszüge in die Breite wie bei einem Brei, der überkocht. « Die Neuesten Nachrichten, so so. Was hast du denn mit dieser Ausbeuterpostille am Hut? Schaust du dort nach, in welche Anleihen du deinen Lohn am besten steckst?» War das immer noch ironisch gemeint, oder vermutete Katzmann allen Ernstes, dass Eggebrecht seine Einladung erschlichen hatte, obwohl er eigentlich im Geld schwamm? Er beschloss, vorsichtshalber nicht nach einem Spruch zu suchen, sondern die schlichte Wahrheit zu sagen. «Nein, nein. Meine Vermieterin schiebt mir das Blatt unter der Tür durch, wenn sie es gelesen hat. Ich habe keine Aktien unterm Bett.»

Konrad Katzmanns Gesicht behielt seine Breite, nur das Grinsen trat jetzt deutlicher hervor. «Nicht mal ein winziges Milliönchen?»

Der foppte ihn doch! Er musste reagieren. Der Alkohol ließ die Gedanken jedoch nur langsam wabern, so dass Eggebrecht wieder keine Chance auf eine schlagfertige Antwort haben würde. Oder doch? Ein Versuch war es wert: «Doch, jetzt fällt mir’s ein. Daher kenn’ ich den Preßburg. Der Laden gehört mir!»

Konrad Katzmann lachte so laut, dass er Tabaksrauch in großen Mengen ausstieß und dabei an eine Dampflok beim Beschleunigen erinnerte. Er boxte Heinz Eggebrecht freundschaftlich an die Schulter, quer über den Tisch. Ein Treffer zum Feierabend, herrlich!

Zwei Biere trafen sich über der Tischmitte. Plong! Die Kehle wurde kühl. Währenddessen drehte das Schwungrad im Kopf seine Runden.

«So ein Mord kann eine feine Sache sein, zumindest für einen Reporter, der keine Artikel für den nächsten Tag schreiben muss.» Konrad Katzmanns Grinsen war verschwunden, die Worte fuhren nur noch in einer winzigen Spur der Ironie. «Morgen in der Redaktion sehen wir uns die Sachen mal genauer an. Vielleicht lernen wir beide noch was.»

DREI
Sonntag, 15. Februar 1920

EUGEN LEISTNER saß hinter seinem Schreibtisch, als hätte er dort Wurzeln geschlagen. Genauso hatte er dort gethront, als Heinz Eggebrecht am Freitag losgegangen war, zum Bahnhof, um Konrad Katzmann abzuholen. Er schien sich in den letzten beiden Tagen nicht bewegt zu haben, allenfalls hatte er bedächtig mit dem Kopf genickt, wie er es jetzt tat, ohne von den Papieren auf seinem Tisch aufzublicken.

«Na, junger Mann, was machen wir denn hier am Sonntag?» Leistner sprach langsam durch seinen Bart, seine Stimme knarzte wie eine alte Holztür.

 

Heinz Eggebrecht konnte viele Dinge nicht leiden. Dass Leistner ihn immer in der ersten Person Plural ansprach, würde weit oben stehen, wenn er eine Liste schreiben müsste. Am liebsten hätte er geantwortet: Ich warte auf Konrad Katzmann, Sie aber sitzen hier herum. Ich weiß nicht, was das in der Summe ergibt, was «wir» demnach gemeinsam machen. Aber selbstverständlich sparte er sich die freche Entgegnung auch dieses Mal. Vor ihm saß Eugen Leistner, der große Eugen Leistner, der verdiente Genosse, der verantwortliche Redakteur für die Innenpolitik. Und wenn man die LVZ dieser Tage betrachtete, so gab es vor dem Anzeigenteil fast nur Innenpolitisches. Also war es besser, Ärger zu vermeiden. «Ich warte auf Konrad Katzmann. Wir sind verabredet.»

«Ah, unser Mann aus Dresden ist da. Sehr gut, sehr gut.» Leistner hob den Kopf. Die Ringe unter seinen Augen hatten die Farbe von Kohlebriketts, sie passten damit farblich zu der Strickjacke, die der Redakteur trug. Sein Kopf versank wieder im Papierkram auf dem Schreibtisch, dann sprach Leistner weiter: «Sie sollten immer genau darauf achten, was Genosse Katzmann tut. Er ist ein guter Mann, da gibt es was zu lernen.»

«Ganz genau. Das bin ich. Guten Morgen, die Herren!» Konrad Katzmann stand in der Tür. Sein Grinsen schien er aus der Kneipe über die Nacht gerettet zu haben. Rings um den Mund lagen mattgraue Schatten auf seinem Gesicht.

«Guten Morgen, Genosse Katzmann! Schön, dass du da bist.» Falls Leistner die Ironie in Katzmanns Worten bemerkt hatte, so konnte er das gut verbergen. Seine rechte Hand beschrieb einen Halbkreis, der zwei Stühle als äußere Punkte markierte.

Konrad Katzmann setzte sich.

Also gut, bloß nicht dumm herumstehen. Heinz Eggebrecht ging um Konrad Katzmann herum, zum anderen Ende des Schreibtisches. Als er sich setzte, bemerkte er, wie die Kollegen ihn beobachteten. Hatten die Genossen nichts Besseres zu tun? Mussten die ihn angaffen, als würde er Turnübungen machen?

Er setzte sich, die Blicke von Leistner und Katzmann ruhten weiterhin auf ihm. Nein, er würde nichts sagen. Die beiden hatten sicher wichtige Themen zu besprechen. Heinz Eggebrecht versuchte, abwechselnd zu den beiden Journalisten zu blicken, ohne dabei dümmlich auszusehen. Das war nicht einfach, insbesondere deswegen, weil er sich selbst nicht sehen und seinen Gesichtsausdruck nicht überprüfen konnte. Er beschloss, diese Miene daheim, vor dem Spiegel, zu üben.

«Also gut». Konrad Katzmann beugte sich nach vorn und stützte den Unterarm auf den Schreibtisch. «Ich melde mich zum Dienst.»

«Das ist gut, Genosse. Wir haben hier derzeit nicht sehr viel zu tun. Sie wissen ja, das Verbot. Aber die politische Lage spitzt sich zu. Da wollen wir unsere besten Leute hier haben.»

«Wann haben wir denn wieder eine Zeitung?»

«Genau kann das keiner sagen, aber wir rechnen damit, dass Maerckers’ unsägliche politische Strafmaßnahme in der kommenden Woche zurückgenommen wird.» Leistner war bei den letzten Worten lauter geworden. Heinz Eggebrecht kam es fast so vor, als würden seine Barthaare dabei wehen, aber vermutlich bewegte Leistner einfach nur sein Kinn stärker, und die dichte Hecke um die Lippen verdeckte das.

«Ich würde mich mit dem jungen Mann bis dahin in eine Recherche stürzen.»

Leistners Blick wurde mit einem Schlag hellwach, ganz als hätten Katzmanns Worte einen Hebel umgelegt. Das Gesicht bekam Spannung: Die Augenbrauen und die beiden Falten dazwischen sahen aus, als hätte einer dieser neuen, modernen Künstler den Buchstaben W in ein abstraktes Gemälde gezeichnet. Durch den Bart drang kein Wort.

«Da ist dieser Mord an dem Großhändler. Preßburg heißt er.»

«Alle Achtung! Keine zwei Tage in der Stadt und schon an einer brisanten Geschichte dran. Kannte man diesen Bourgeois denn auch in Dresden?»

«Nein. Unser junger Freund hat den verstorbenen Herrn ins Spiel gebracht.» Katzmann winkte mit der linken Hand kurz in Richtung Heinz Eggebrecht.

Schon wieder diese Eleganz - das Zeichen vermittelte die gleiche schlichte Nachdrücklichkeit, die Heinz Eggebrecht bereits an Katzmanns Anzug bewundert hatte. Und sie wirkte. Leistner drehte den Kopf, nickte und musterte Heinz Eggebrecht, als hätte er einen Unbekannten vor sich.

«Gut gemacht, junger Mann.» Leistner nickte und wandte sich wieder Katzmann zu, bevor Heinz Eggebrecht auch nur ein Wort sagen konnte. «Preßburg war eine Schlüsselfigur der Reaktion in Leipzig. Er hat die studentischen Zeitfreiwilligen-Einheiten mit seinem Geld aufgepäppelt. War vorn dabei, wo auch immer die Bourgeoisie sich zusammengerottet hat.»

«Sie meinen, das war ein politischer Mord?»

«Zunächst meine ich, dass es keinen Falschen getroffen hat.» Leistner nahm seine Pfeife aus dem Ständer neben der Schreibmaschine, zog einen Tabaksbeutel aus der Jackentasche und begann mit dem Stopfen. «Wenn Sie etwas herausfinden, wüsste ich gern sofort Bescheid. Und natürlich freue ich mich auf den Hintergrundbericht im nächsten Blatt.»

Liesbeth Weymann schloss den obersten Knopf an ihrem Mantel. Jetzt, da die Sonne sich hinter einer grauen Wolke versteckte, zog die Februarbrise noch stärker am Hals. Sie stand schon seit über zehn Minuten am Treffpunkt, wie immer zu früh. Und das, obwohl sie wusste, dass Frieda bestimmt zu spät kommen würde. Ihre beste Freundin war der Ansicht, dass eine Dame stets etwas Verspätung haben müsse, weil das Warten die Spannung steigere. Liesbeth Weymann teilte diese Meinung nicht, verzieh Frieda die Unpünktlichkeit aber. Eine beste Freundin blieb nun mal die beste Freundin, auch mit einer schlechten Angewohnheit.

An diesem Sonntagnachmittag schlenderten nur wenige Spaziergänger über den Markt. Liesbeth Weymann stand vor dem alten Rathaus. Von da aus konnte sie den ganzen Markt vom Messehaus zu ihrer Linken bis zum Siegesdenkmal an der Nordseite überblicken - aus dieser Richtung musste Frieda kommen, von ihrem Kassendienst im Theater. Und es konnte sich nur noch um Minuten handeln. Schließlich begann in einer halben Stunde der Film - eine willkommene Ablenkung von den Gedanken an den toten Chef, aber auch vom politischen Eifer des Vaters.

Nein, ein Blick auf die Uhr am Rathausturm verriet ihr, dass es schon in 25 Minuten so weit sein würde. Und zum Colosseum am Roßplatz waren es bestimmt zehn Minuten zu Fuß. Frieda sollte langsam auftauchen. Liesbeth Weymann schaute zum Siegesdenkmal, das ihr die Sicht auf die Hainstraße versperrte, dann blickte sie Richtung Katharinenstraße: keine Frieda. Liesbeth Weymann merkte, wie sie mit der rechten Fußspitze aufs Pflaster tippte. Friedas Trödelei verdarb ihr die Laune. Der Vorführer im Lichtspielhaus würde nicht auf sie warten, sondern den Film pünktlich starten –

ob sie nun auf ihren Plätzen saßen oder nicht.

Sie sah sich weiter um: Ein paar ältere Leute schlenderten über den Marktplatz, eine Kutsche klapperte hinterm Denkmal hervor. Von der Katharinenstraße wehte Krach herüber. Eine Handvoll Burschen in Uniformen grölten, die Spartakisten sollten an Bäumen hängen. Es waren Studenten, Zeitfreiwillige. Ihr Vater schimpfte immer über das rechte Pack an der Universität. Liesbeth Weymann trat einen Schritt zurück, in den Schutz der Rathausarkaden, und blickte zu den jungen Männern.

Die Studenten waren gut hundert Meter entfernt und stellten wohl vorerst keine Gefahr dar - sie klangen betrunken wie Bauern nach drei Tagen Kirmes. Dann bogen sie von der Katharinenstraße in Richtung alte Handelsbörse ab.

Sie spürte ein Tippen an ihrer rechten Schulter. Liesbeth Weymann blickte nach rechts. Doch da war nichts. Dann vernahm sie ein Lachen von links, als würde ein Huhn gackern. Frieda.

«Wo kommst du denn her?»

«Ich hab extra den Umweg über die Reichsstraße genommen, hihi. Und hab mich dann durch die Rathausarkaden geschlichen, hihi. Du hast so lustig ausgesehen. Immer da rüber geguckt. Und ich war hinter dir, hihi.» Frieda zwitscherte wie ein Vögelchen am Morgen.

«Nun red nicht so viel. Lass uns gehen!» Vielleicht schaffte Liesbeth Weymann es, wenigstens ein paar Minuten lang ärgerlich zu bleiben. Sie drehte sich Richtung Petersstraße und lief los.

«Ach, Lieschen, das war doch nur ein kleiner Scherz. Wir haben noch über zwanzig Minuten.» Das Zwitschern kam von links, das Vögelchen hielt Anschluss. «Nun komm schon. Sei nicht mehr sauer! Ich bin extra ganz leise getippelt, damit ich dich überraschen konnte.» Zwitscher zwitscher …

Liesbeth Weymann merkte, dass es ihr nicht gelang, länger ärgerlich zu bleiben. Sie wollte auch nicht wie ein störrisches Schaf bocken. Und nun lugte auch noch die Sonne wieder hinter der Wolke hervor.

«Komm schon, Lieschen.»

«Ist ja gut. Ich möchte ja nur den Anfang von dem Film nicht verpassen.» Der Ärger verflog, aber ein paar Augenblicke wollte sie Frieda doch noch schmoren lassen, deswegen lief sie noch ein bisschen schneller.

Sie bogen in die Petersstraße ein, Frieda japste, hielt aber Schritt. Große Spruchbänder über ihren Köpfen kündigten die Frühjahrsmesse an, eine Kraftdroschke tuckerte ihnen entgegen, der Fahrer hatte keine Eile. Am Sonntag floss das Leben wie Teig, wenn Mama ihn auf das Backblech ließ. Auch Liesbeth Weymann verlangsamte ihre Schritte und warf ein Lächeln nach links, zu Frieda.

Ihre Freundin strich hektisch mit den Fingern durch ihre Locken. Sie trug ihr Haar schulterlang. Mit den markanten Wangenknochen und dem Hütchen sah sie fast aus wie Mia May, die sie gleich auf der Leinwand sehen würden. Liesbeth Weymann musste auch zum Friseur gehen, denn mit ihrem Pferdeschwanz kam sie sich neben Frieda vor wie ein Mädchen vom Dorf.

Ein Mann winkte von der Straßenmitte herüber. Alles, was er trug, war schwarz, sein Anzug, seine Schuhe, die Fliege - bestimmt trank er auch den Kaffee türkisch. Von seiner Haartolle fiel eine Locke keck auf die Stirn.

«Ach, das Fräulein Schneider vom Theater und mit so einer reizenden Begleitung! Doppelte Schönheit.» Der Mann rollte das R und gestikulierte zu seinen Worten wie ein Conférencier auf der Bühne.

«Ach, Herr Reutter, charmant wie immer! Das ist meine Freundin Liesbeth Weymann.» Frieda wedelte mit dem Arm und klimperte mit den Augen. «Der berühmte Sänger Otto Reutter … Auf dem Weg zur Probe?»

«Nein, liebes Fräulein Schneider, ich bin nur noch kurz in der Stadt, habe schon gepackt. In Tilsit ruft das neue Engagement. Aber jetzt bin ich auf dem Weg ins Kaffeehaus. Sie wollen mir den Nachmittag nicht mit Ihrer Anwesenheit versüßen?»

«Das tut uns sehr leid, aber wir müssen Ihnen einen Korb geben. Leider, leider. Wir beide haben einen dringenden Termin mit der Herrin der Welt .»

«Oh, das Kino, die Macht der bewegten Bilder. Da habe ich mit meinen Couplets natürlich keine Chance … Aber vielleicht sehen wir uns, wenn ich wieder in der Stadt bin. Kommen Sie dann in mein Programm?»

Liesbeth merkte, wie sie erneut unruhig wurde, wie ihre Fußspitzen wieder zu tippen begannen.

«Aber natürlich, Herr Reutter. Wir kommen gern auf Ihre Einladung zurück. Senden Sie, wenn es so weit ist, die Karten ans Theater?»

«Selbstverständlich, Gnädigste. Ich komme wieder.»

Heinz Eggebrecht stieg aus dem Seitenwagen. Mit so einem Motorrad ging alles viel schneller. Es handle sich um eine NSU 1000, hatte Konrad Katzmann stolz erzählt, bevor sie von der Redaktion in der Tauchaer Straße bis zum Großhandel Preßburg in Plagwitz gerast waren. Der Wind pfiff immer noch in seinen Ohren, als würde ein Zwerg mit einer Piccoloflöte direkt in seiner Ohrmuschel sitzen. Zum Glück hatte Katzmann vor der Abfahrt einen Wollschal aus den Tiefen des Seitenwagens gezaubert - Heinz Eggebrecht wollte sich lieber nicht vorstellen, was der Zwerg bei diesem Fahrtwind sonst alles in seinem Hals angestellt hätte.

Während der ersten Schritte fühlten sich seine Knie an, als hätte eine Krankenschwester eine dicke Bandage darum gewickelt. Mit steifem Gang folgte er Konrad Katzmann über die Straße zur Einfahrt.

«Soll ich dir einen Gehstock beschaffen?» Katzmann verhielt sich wie ein Kabarettist auf der Bühne und schwieg dann, als sei das eine herausragende Pointe gewesen.

Heinz Eggebrecht sagte nichts, trottete zum Eisentor und blickte zwischen den Stangen hindurch. Der Hof wirkte verlassen wie eine Schule mitten in den Sommerferien. An der Rampe stand ein Lastkraftwagen, als habe er sich dort zur Ruhe gesetzt. Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen, an einem Sonntag herzukommen. Was sollten sie hier sehen?

 

Neben Heinz Eggebrecht beugte sich Konrad Katzmann über das Schloss und inspizierte die Verriegelung. Der wollte doch nicht etwa einbrechen?

«Hallo, meine Herren! Darf ich fragen, was Sie da tun?» Ein Mann rief die Worte im tiefen Sächsisch der Leipziger Vororte, in jeden Vokal schien er ein zusätzliches O zu schummeln. Er trug eine Uniform und kam schnell näher. Die Jacke straffte beim Gehen in der Bauchgegend derart, dass es aussah, als würde der ganze Kerl nur von den Knöpfen zusammengehalten. Der Polizist trug einen buschigen Schnauzbart, der Mund darunter wirkte dadurch noch schmaler, als er ohnehin war, dünn wie ein Draht.

«Wir betrachten eine Hofeinfahrt. Wer will das wissen, wenn ich wiederum fragen darf?» Falls Katzmann sich ertappt fühlte, so ließ er sich das nicht anmerken. Heinz Eggebrecht fragte sich, warum er selbst immer einen Kopf zu schrumpfen glaubte, wenn er einen Polizisten sah.

«Kommissar Bölke, Kriminalpolizei. Und warum betrachten Sie ausgerechnet diese Einfahrt, Herr …»

«Katzmann. Von der Leipziger Volkszeitung . Ich glaube, wir sind aus demselben Grund hier wie Sie. Wir interessieren uns für den Mordfall.»

«So so. Das glauben Sie also …» Bölkes Gesicht sah aus, als müsse er überlegen, ob er eine Frage oder eine Feststellung formuliert hatte. Dann fragte er: «Und wieso interessieren Sie sich für diesen Mord?»

«Nun, wir wollen die Öffentlichkeit informieren. Das ist wichtig für die Demokratie.»

«Meine Herren, ich bin Beamter. Ich kenne mich mit diesen neumodischen Dingen wie Demokratie nicht so genau aus. Aber es gefällt mir nicht, dass Sie hier herum … herumsch … herumstehen.»

«Ich hingegen freue mich, Sie zu treffen.» Katzmann setzte eine ernste Miene auf, die zu seinem ironischen Tonfall jedoch genauso wenig passte wie ein Löffel zu einem Schweinebraten.

«Wann bekommt man schon an einem Sonntag Informationen aus erster Hand, von einem Beamten?»

«Von mir hören Sie nüscht.»

«Wem gehört der Laden denn jetzt?»

«Von mir hören Sie nüscht.»

«Hatte Preßburg eine Frau?» Keine Antwort.

«Andere Erben?» Keine Antwort.

«Ach, kommen Sie, Herr Kommissar. Das sind doch keine Geheimnisse. Wir sind auch artige Reporter und gehen gleich zurück in unsere Redaktion.»

«Hiltrud Preßburg. Und ehe sie noch den Kollegen in der Stadtverwaltung auf den Geist gehen, die Preßburgs wohnen am Kickerlingsberg in Gohlis. Und nun weg hier!» Bölke klang wie ein Vater, der sein vorlautes Kind zum Spielen schicken wollte.

Konrad Katzmann nickte, so langsam, als hätte er eine Stahlfeder im Hals, die seine Bewegungen bremste. Heinz Eggebrecht nickte ebenfalls, einfach nur, damit er auch mal wieder etwas tat, abgesehen vom Herumstehen.

«Ich frage mich, was ein Kommissar hier tut? An einem Sonntag. Sie warten doch nicht auf Journalisten?»

«Ich habe Ihnen was erzählt und erwarte nun, dass Sie verschwinden.» Bölke schien ungeduldig zu werden.

Vielleicht auch, weil am Ende des Zauns ein Mann um die Ecke bog, der dem Kommissar ein Handzeichen gab und zackigen Schrittes herbeilief. Der Herr trug Hut, Kneifer und einen feinen Anzug. Wenn er mal einen großbürgerlichen Aufschneider photographieren wollte, hätte er hier ein typisches Exemplar, dachte Heinz Eggebrecht.

«Guten Tag, Herr Kommissar! Meine Herren! Adalbert von Lötzen. Prokurist beim Großhandel Preßburg. Ermitteln Sie neuerdings in Zivil?» Der Mann musterte kurz Katzmann und schaute dann zu Eggebrecht - mit einem Blick, als täte ihm die schlechte Bezahlung junger Beamter, die zu derart schäbigen Jacketts führte, von ganzem Herzen leid.

«Nein», sagte der Kommissar, «die Herren sind von der Arbeiter-Presse.»

«Ach. Und die begleiten die Ermittlungen?» Von Lötzen klang so entsetzt, als habe er soeben von einem zweiten Mord erfahren.

«Aber nein, Herr von Lötzen. Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie sich Zeit für die Polizei nehmen.» Bölke sprach milde und wies, ohne seinen Blick von dem Prokuristen zu wenden, auf Eggebrecht und Katzmann. «Die Herren wollten gerade gehen.»

Katzmann deutete eine Verbeugung in Richtung Kommissar Bölke an, eine weitere zu von Lötzen. «In der Tat. Wir müssen wieder in die Redaktion. Sie haben sicher nichts dagegen, wenn wir morgen nach dem Mittag zu Ihnen ins Bureau kommen. Vielen Dank, einen schönen Sonntag noch!»

Die Abendsonne schien durch die Fenster des Straßenbahnwagens. Auch gut eine halbe Stunde nach dem Ende des Films kam Liesbeth Weymann das Tageslicht immer noch sehr hell vor, die rote Sonne blendete sie.

Im Kino hatte die Dunkelheit sie gefangengenommen und restlos ausgeblendet, dass hier draußen lichter Nachmittag war. Die Bilder und Mauds Geschichte hielten sie noch in ihrem Bann. Diese verzweifelte Suche nach Vergeltung, für die Maud all die Männer um sie herum in Anspruch nahm. Und dann der Bösewicht, Baron Murphy - dass der ein schlimmes Ende finden würde, war lange klar. Maud hatte ihn ruiniert und obendrein in einem eisigen Schneesturm in den Kältetod getrieben. Schon wieder ein Toter zum Schluss des achten und letzten Teils der Herrin der Welt … Zum Glück brachte das Gepolter der Straßenbahn sie zurück in die Gegenwart. Dann hörte sie wieder das Gezwitscher von Frieda neben sich.

«Sie ist so toll! Wie sie aussieht. Die Frisur. Die Kleider …» Zwitscher zwitscher …

Natürlich, Mia May glich auf der Leinwand beinahe einer Göttin - sie besaß zwar menschliche Züge, und doch wirkte sie unnahbar, schien in andere Sphären entrückt zu sein. Sie war viel erhabener als die jungen Frauen, die mit den gleichen schulterlangen Locken aus dem Kino kamen. All die Friedas. Vielleicht sollte sie ihre glatten blonden Haare doch so lassen, wie sie waren, dachte Liesbeth Weymann.

Die Bahn donnerte über die Karl-Heine-Straße Richtung Plagwitz, vorbei an den Villen der Fabrikbesitzer. Liesbeth Weymann wandte den Kopf zum Fahrgastraum: Der da vorn, das schiefe Gesicht kannte sie doch - woher nur? Ach, Herr Cramer, der Pförtner. Was machte der denn hier?

Der Schiefe saß auf einem Doppelsitz neben einem Mann, einem jüngeren, einem … hübscheren. Der Hut saß über fein gezeichneten Augenbrauen, der Mund zeigte ein Lächeln, das eine Einladung auszusprechen schien.

Die beiden redeten nicht, es sah allerdings wie ein vertrautes Schweigen aus, so als sei genug gesagt, als hätten die beiden schon oft miteinander geschwiegen.

Sie saßen mit dem Rücken in Fahrtrichtung, der Jüngere schaute aus dem Fenster, der Schiefe guckte ins Nichts. Er drehte den Kopf hin und her, als gelte es, die Beweglichkeit der Halswirbel zu überprüfen. Die Augen trafen auf Liesbeth Weymanns Blick. Der Schiefe schien wach zu werden, zuckte und riss die Augen auf, als hätte er einen Feind erblickt. Dann schien er sich zu besinnen, hob den Kopf, das steinerne Lächeln am linken Mundwinkel tauchte auf, genau wie vorgestern.

Da waren wieder die Bilder. Der Schiefe auf der Treppe. Frau Lindner und das Klappern der Schreibmaschine. Das Blut. Preßburgs Leiche …

«Sag mal, wo hast du dich denn hingeträumt? Hallo!», rief Frieda. «Ach, jetzt ist sie wieder wach. Na ein Glück! Wir müssen gleich aussteigen. Ich dachte schon, du fährst noch ein paar Runden.»

Liesbeth Weymann schaute zu Frieda, die schien nicht mehr nur zu zwitschern, sondern bewegte Hände und Arme in einer Geschwindigkeit, die an das Flattern eines Sperlings erinnerte. Die Bahn blieb stehen. Hinter dem Vögelchen erblickte sie das Fenster, dahinter eine Villa, das war noch nicht der Felsenkeller.

«Aber wir sind doch noch gar nicht da!»

«Ich versuche ja nur, mit meiner Freundin zu reden. Entschuldige bitte.»

«Ach, Frieda. Es ist doch nur … Ich bin doch … Es tut mir leid.» Die Bahn ruckelte los. Das tiefe Dröhnen des Elektromotors ließ Liesbeth Weymann etwas lauter sprechen. «Es ist nur … Der Mann da vorn …» Liesbeth Weymann deutete mit dem Kopf in Richtung des Schiefen, in der Hoffnung, auch Frieda würde unauffällig hinschauen.

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