Read the book: «SELBST-geführte Psychotherapie»

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Uta Sonneborn

Ruthild Haage-Rapp, Christa Middendorf & Ana Cristina Pires

SELBST-geführte
Psychotherapie
Neue Wege der Integrativen
Psychotherapie Innerer Systeme und
der professionellen Selbstfürsorge


Impressum

© 2021 Arbor Verlag GmbH, Freiburg

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2021

Lektorat: Usha Swamy

Titelfoto: ©alessio soggetti/unsplash.com

Umschlaggestaltung und Satz: mediengenossen


www.arbor-verlag.de

ISBN E-Book: 978-3-86781-374-7

Inhalt

Einleitung

Teil 1

Grundlagen der Integrativen Systemischen Therapie mit der Inneren Familie

Die Achtsame Wahrnehmungsschulung

Körperpsychotherapien

Traumatherapie

Teil 2

IIFS – Die Integrative Systemische Therapie mit der Inneren Familie

Eine kompakte Zusammenfassung

Das Konzept des Selbst – eine Annäherung von Ruthild Haage-Rapp

SELBST-Qualitäten und Persönlichkeits­anteile in der IIFS erfahren und erleben

SELBST und Persönlichkeitsanteile voneinander unterscheiden

Die Arbeit mit Teilen in der Psychotherapie

Weitere Charakteristika der IIFS

Teil 3

Vertiefende Aspekte und Anwendungsbereiche in der Therapie mit IIFS

Schamgebiete von Ana Cristina Pires

Psychoonkologie mit IIFS von Christa Middendorf

IIFS und Trauma

Teil 4

Professionelle Selbstfürsorge mit IIFS

Was ist Professionelle Selbstfürsorge?

SELBST-Qualitäten und Therapeut*innen-Teile im Beruf entdecken

Balintgruppen

Supervision

Literaturliste

Die Autorinnen

Danksagung

Kontaktadressen

Einleitung (bitte unbedingt als Erstes lesen. Danke!)

Liebe Leserinnen, liebe Leser!

Mit diesem Buch wenden wir uns vorwiegend an psychotherapeutisch oder ärztlich tätige Menschen, mit und ohne Vorkenntnis in IFS/IIFS, und an diejenigen unter Ihnen, die sich in ihrem Berufsleben neues Lebenselixier, Freude und Überraschung wünschen.

Der Titel »SELBST-geführte Psychotherapien« könnte zu allerlei Fantasien anregen. Natürlich führen wir Psychotherapien selbst durch – diese Selbstverständlichkeit möchte der Titel nicht hervorheben. Auch müssen sich die Klient*innen natürlich nicht alleine therapieren. Jedoch tragen auch ihre eigenen SELBST-Qualitäten beträchtlich zum Therapieerfolg bei. Die Therapeut*innen sind selbstverständlich »noch« notwendig, um eine Therapiestunde zu begleiten, wenngleich die IIFS-Therapeut*innen SELBST in einer etwas anderen Weise zum Einsatz kommen, als wir das aus bisher bekannten Psychotherapien kennen. Wir arbeiten leichter und intensiv, wenn wir aus uns SELBST heraus arbeiten und nicht unsere Therapeut*innen- Teile arbeiten lassen. Die Selbstreflexions- und Supervisionsmöglichkeiten in das eigene innere System und das der Klient*innen können sich mit dieser Methode deutlich erweitern. Und ihre Lust und Freude auf Therapie vergrößern sich.

Eines der wenigen anvisierten Ziele dieser Arbeit ist es, sowohl Therapeut*innen als auch Klient*innen in die Lage zu versetzen, zu ­unterscheiden, ob sie aus sich SELBST heraus leben und handeln oder eher ihren Persönlichkeitsanteilen folgen, auf dass ein jeder das eigene System SELBST führen und die Teile mit ihrer Person SELBST verbunden sein möge(n). Ausgegangen wird von einer natürlichen Vielfältigkeit der Persönlichkeit, von einer erlebbaren inneren Instanz, dem Menschen SELBST, und von den inneren Persönlichkeitsanteilen.

Es stellt sich jetzt die Frage: Wer oder was ist dieses SELBST? Und was genau sind die Persönlichkeitsanteile? Es ist schon spannend, darüber nachzusinnen, wer in uns als Therapeut*in die Therapie eigentlich durchführt – und mit wem in unseren Klient*innen wir denn da arbeiten? Und wie können wir das auseinanderhalten? Und wozu? Und auf welcher Zeitachse arbeiten wir eigentlich? Führen wir die Therapien in SELBST-Qualität oder in Persönlichkeitsanteilen mit therapeutischen Rollen durch, die aus der eigenen Biografie, der erlernten Psychotherapieschule, der Arztrolle und/oder in Resonanz oder Gegenübertragung auf die Anteile der Klient*innen stammen? Mit welchen Persönlichkeitsanteilen kommen die Klient*innen zu uns? Und mit welchen Therapeut*innen-Teilen reagieren wir auf sie? Wer in uns kann uns und ihnen helfen, sich SELBST aufzuspüren und die Persönlichkeitsanteile mit uns SELBST und ihnen SELBST in Kontakt zu bringen? Wie kann das geschehen? Und wie können wir gar eine Beziehung zwischen uns SELBST und unseren Teilen und dem Klienten-SELBST und seinen Persönlichkeitsanteilen ermöglichen?

Die SELBST-geführte Psychotherapie in der »Integrativen Systemischen Therapie mit der Inneren Familie, IIFS« basiert auf den Grundlagen humanistischer Psychotherapien, achtsamer Wahrnehmungsschulung, der integrativen Gestaltpsychotherapie, der Hakomi-Therapie und weiteren Körperpsychotherapien, der psychodynamisch imaginativen Trauma­therapie von Luise Reddemann, der systemischen Therapie, der Bindungstheorie, neurophysiologischen Erkenntnissen und natürlich der IFS nach Richard Schwartz mit ihren entsprechenden Grundannahmen. Der SELBST-Begriff hat in diesem inneren System eine ganz spezielle Bedeutung, die wir Ihnen in der Einleitung kurz und in einzelnen Kapiteln gerne ausführlicher nahebringen möchten.

Zu dem inneren System gehören neben dem SELBST – dem Wesenskern eines Menschen – noch die unterschiedlichen Persönlichkeitsanteile (im Weiteren auch oft kurz als Teile bezeichnet). Das SELBST ist kein Teil. Die Formulierung »das Selbst eines Menschen« könnte zu dieser Annahme verleiten. Wenn möglich verwenden wir daher die Formulierung »ich SELBST«, der Mensch SELBST oder sprechen von SELBST-Qualitäten. SELBST und Teile sind körperlich und mental erlebbar. Der Körper reagiert als Erster auf Emotionen und Reize, noch bevor das Bewusstsein die Reaktion wahrnehmen kann. Wenn das körperliche Erleben mit dem Gefühlten kongruent ist, erfährt der Mensch Vertrauen in sich, eine Stabilisierung seiner selbst. Wenn solch ein mental und physisch ganzheitliches Erleben stattgefunden hat, beginnen sich neuronale Netzwerke umzustrukturieren. Die Geschichte eines Menschen ist in leiblichen Szenarien gespeichert und erfahrbar. Sie zeigt sich in seinem beseelten Körper mit all seinen Gefühlen, seinem Denken, seinem Verhalten und seiner Geschichte. Daher beziehen wir das körperliche Erleben in jeden Therapieprozess mit ein.

Aus dem achtsamen, körperlichen und mentalen Erleben der SELBST-Qualitäten, wie Wohlwollen, Mitgefühl, Zentriertheit, Nichtbewertung u.a.m., können die verschiedenen Persönlichkeitsanteile mit einem kleinen Abstand wahrgenommen werden. Indem die Geschichte ihrer Entstehungsgrundlagen angenommen und akzeptiert wird und die Teile in den ihnen aufgebürdeten Rollen mit den jeweiligen Auswirkungen im heutigen Leben erfahren werden, fühlen sich die Teile heute vom Klienten SELBST und von uns SELBST gesehen. Sie erleben Zugehörigkeit zu ihrer jeweiligen Person SELBST und doppelten Trost. Das hat eine tief verbindende, heilsame und nachhaltige Wirkung auf die Teile. Wir lernen so die eigene Geschichte, die unserer Klienten und diese ihre neu kennen, besser verstehen, und finden Möglichkeiten der Wertschätzung und Entlastung. Das beinhaltet die Chance einer Neuintegration der Persönlichkeitsanteile, die mit ihrem Menschen SELBST in warmherziger Verbindung stehen können. Der nicht mit seinen Teilen verwobene Mensch SELBST ist in der Lage, die eigenen ­Persönlichkeitsanteile zu erkennen, sie zu sehen, in Beziehung mit ihnen zu treten und sie zu führen. In dieser SELBST-geführten Beziehung können die Teile ein vertrauensvolles Verhältnis zu ihrem Menschen SELBST entwickeln und kooperieren gerne mit ihm. Es entsteht intrapsychisch eine erlebbare SELBST-Du- und Du-SELBST-Beziehung. Dieses intrapsychische, gegenseitige sowie mental als auch physisch erlebbare in Beziehung-Treten von SELBST und Teilen prägt ein innovatives Moment. Unsere Persönlichkeitsanteile erfahren dann uns SELBST, fühlen sich gesehen und verbunden und agieren nicht mehr allein oder wie in einem alten Film. Eine echte Veränderung und eine Entlastung des Systems werden möglich. Wie eine Kollegin nach einem Kurs staunend sagte: »Jetzt habe ich mich seit 25 Jahren mit meinem Inneren Kind beschäftigt und heute hat es zum ersten Mal mich SELBST erlebt!« Vielleicht der Beginn einer wundervollen Freundschaft.

Die Integrative Psychotherapie Innerer Systeme – IIFS – ist sowohl Methode als auch Haltung, körperlich und sinnlich für alle Menschen, Therapeut*innen und Klient*innen erfahrbar und anwendbar. Sie verbindet in ihrer Ausübung das Wissen um Achtsamkeit, Wahrnehmungsschule, Körperpsychotherapie und IFS. Ihre Anwendung eröffnet uns neue Wege und Möglichkeiten in der Psychotherapie, der Selbsterfahrung, der Supervision und auch in der Professionellen SELBST-Fürsorge – intrapersonell im System eines Menschen und interpersonell, wenn sie die Inneren Systeme von Klient*innen, Therapeut*innen und Supervisor*innen unter IIFS-Aspekten miteinander in Beziehung treten lässt – auch hier mit neuen Ideen. Sie schärft unsere Wahrnehmung, lässt uns neugierig und lebendig mit einem Anfänger-Geist in jede neue Begegnung gehen und kann auch dadurch neuronale Strukturen verändern.

In Psychotherapien und Supervisionen sollte sie nur von erfahrenen Therapeut*innen durchgeführt werden, da man mit dieser kleinen Methode sehr schnell ans »Eingemachte« gelangen kann.

Die IIFS wirft auch ein neues Licht auf das innere System bei schwerwiegenden psychischen und psychosomatischen Erkrankungen, wenn diese unter dem Aspekt polarisierter Teile gesehen werden. ­Komorbiditäten (wie Ängste, Panik, Süchte, Dissoziationen etc.) als beschützende Persönlichkeitsanteile zu sehen, eröffnet ebenso neue Behandlungsmöglichkeiten.

Für die (Professionelle) SELBST-Fürsorge kann sie in unterschiedlichem Ausmaß im täglichen Leben wie bei der Arbeit angewendet werden. Das könnte das persönliche, das professionelle und das Gemeinwohl mehren. Dem SELBST den Raum zu öffnen und mit seinen eigenen Anteilen in SELBST-Verantwortung zu leben, verändert schon viel.

Arbeiten in spürbarer Präsenz, also in SELBST-Qualität, fühlt sich nicht anstrengend an, aus Therapeuten-Teilen hingegen oftmals schon. Mit Professioneller SELBST-Fürsorge und IIFS können Psychotherapeut*innen und Ärzt*innen einen spannenden Zugang zu ihren berufstätigen Teilen gewinnen und sie ggf. entlasten. Auf diese Weise ist es möglich, ein Leben lang Freude und Überraschung in diesen manchmal so schweren und gleichzeitig so wunderbaren Berufen zu erleben und zu erhalten. Sie macht uns wieder neugierig und offen für uns selbst und die anderen, geht mit einer gewissen Leichtigkeit einher und ist gleichzeitig doch tiefgründig.

Was erwartet Sie nun beim Lesen dieses Buches?

Sie erhalten einen Einblick in das Fundament der Integrativen Systemischen Psychotherapie mit inneren Anteilen, in die Grundhaltungen und Gedanken humanistischer und ressourcenorientierter Psychotherapien, in die Systemische Therapie mit der Inneren Familie, in die achtsame Wahrnehmungsschulung mit Elementen aus der integrativen körperbezogenen Gestalttherapie und in die körpertherapeutische Ausrichtung der IIFS.

Der Selbst-Begriff wird Ihnen aus psychologischer, anthropologischer und philosophischer Perspektive nähergebracht und sein Platz in der IFS und der IIFS begründet.

Durch die detaillierte Beschreibung des Verhältnisses von SELBST und Persönlichkeitsanteilen gewinnen Sie theoretisch und praktisch einen profunden Einblick in die SELBST-Haltung und in das Wesen und die Dynamik der Interaktionen von SELBST und Teilen.

Mit vielen Anregungen zur Professionellen SELBST-Fürsorge, selbstständigen Übungen und Reflexionen sowie in Beispielen aus der Praxis können Sie vieles von dem Gelesenen an sich selbst, Ihren Persönlichkeitsanteilen und an sich SELBST erleben und erfahren. Wenn Sie mögen, können Sie mit dem Reichtum Ihrer Innenwelt und mehr und mehr mit den Unterschieden von SELBST-geführter und Teile-geleiteter Haltung im Leben und bei der Arbeit vertraut werden und in der Professionellen SELBST-Fürsorge schließlich von dem Gelernten profitieren.

Durch vertiefende Einblicke in die Arbeit mit IIFS in der Welt der Scham, der Psychoonkologie, der Traumatherapie und der Supervision bekommen Sie von allen Autorinnen einen Einblick, wie die Integrative Systemische Therapie mit Inneren Anteilen in speziellen Kontexten eingesetzt werden kann.

Wir wünschen Ihnen beim Lesen viele inspirierende Anregungen, spannende Momente und Lust mehr zu erfahren über diese neuen Wege in der Psychotherapie, der SELBST-Erfahrung, der Supervision und der Professionellen SELBST-Fürsorge.

Erläuterungen

Zur Schreibweise: SELBST und selbst. Vielleicht mag es Sie irritieren, dass wir manchmal »selbst« klein und ein anderes Mal SELBST in großen Buchstaben schreiben. Zur Klärung: Wenn wir SELBST im Sinne von IIFS meinen, dann schreiben wir es in großen Lettern, lesen Sie es klein, dann benutzen wir das Wort »selbst« wie es in der herkömmlichen Alltagssprache verwendet wird. An dieser Stelle sei auch bemerkt, dass der Ausdruck »das SELBST« oder »mein SELBST« die falsche Vermutung aufkommen lassen kann, dass »mein« SELBST (Possessivpronomen) ein Teil sein könnte. Das SELBST ist kein Teil – dieser Satz kommt noch öfter in diesem Buch vor. Daher sprechen wir lieber in der Folge von der Person SELBST oder dem Menschen SELBST oder ich SELBST und schreiben SELBST dann immer in Großbuchstaben, wenn es sich um das IIFS-SELBST handelt. In seltenen Fällen, wenn es sich ­sprachlich ­einfach komisch anhören würde, sprechen wir auch mal von dem SELBST. Und da SELBST auch letztendlich etwas Größeres ist, als wir Menschen es glauben fassen zu können, versuchen wir hier auch nur eine Annäherung an ein irdisches SELBST anzustreben. SELBST im IIFS, wie wir es in diesem Buch so häufig verwenden, meint den Wesenskern eines jeden Menschen, der in SELBST-Qualitäten eben mehr oder weniger spürbar, erfahrbar und damit wirksam wird. Was wir Menschen tun können, ist dem SELBST mehr Raum zu bieten und seine Eigenschaften bewusst zu erkennen, wenn es denn da ist. SELBST kann man nicht machen, SELBST ist.

Die Schreibweisen der Geschlechter: Um allen Geschlechtern gerecht zu werden, verwenden wir bunte Schreibweisen, mal weiblich, mal männlich, mal divers, je nachdem, wie es sich im Verlauf flüssig liest. Wir möchten alle ein- und niemanden ausschließen. Es mögen sich immer alle gemeint fühlen. Wenn der Anfang eines Abschnitts das Gender-Sternchen trägt, gilt es für das Folgende, auch wenn das * nicht jedes Mal eingesetzt wurde.

Selbstverantwortung: Die Übungen und Anregungen, speziell mit der Einbeziehung von Körperwahrnehmung und Gefühlen, führen im Allgemeinen zu mehr Selbsterfahrung. Sie obliegen Ihrer eigenen Verantwortung und ersetzen keine Therapie. Wenn Sie damit den therapeutischen Erfahrungsraum betreten sollten, bitten wir Sie um Ihrer selbst Willen die Grenzen zu respektieren, die das Mit-sich-selbst-Arbeiten hat, und sich gegebenenfalls um therapeutische Unterstützung zu bemühen. Falls Sie das gerne mit IIFS tun möchten oder einfach mehr Erfahrungen mit IIFS unter Anleitung machen wollen, finden Sie im Anhang Kontakt­adressen der IIFS-Institute.

Wegweiser durch das Buch: Jedes Kapitel ist in sich abgeschlossen. In jedem Kapitel werden Sie Grundhaltungen und Methoden der IIFS wiederfinden, was der konkreten Vertiefung der Haltung und Methode und der jeweiligen Veranschaulichung dienlich ist. Alle Texte, bis auf die anderweitig gekennzeichneten, sind von Uta Sonneborn. Etwaige Wiederholungen sind nicht unbeabsichtigt.

Teil 1
Grundlagen der Integrativen Systemischen Therapie mit der Inneren Familie


1

Die Humanistischen Psychotherapien
Grundhaltungen und Ideen

Die Humanistische Psychotherapie wurde von Viktor Frankls Konzept der Logotherapie und der Existenzanalyse begründet, in Abgrenzung zu der Psychoanalyse von Siegmund Freud und Alfred Adler. Da dem Menschen Körper, Seele und Geist innewohnen, erlaubt ihm die geistige Dimension, sich mit seiner Psyche, seinem Körper und seiner Existenz auseinanderzusetzen. Frankl geht von einer Veränderungsmöglichkeit des Menschen aus. Wir sind nicht auf ein »So-Sein-Müssen« festgeschrieben, sondern haben die Möglichkeit, uns verändern zu können. Der menschliche Geist erlaubt dem Menschen Selbstwahrnehmung und Selbstreflexion. Diese Distanz zu sich verschafft ihm die Möglichkeit und Fähigkeit zur Selbstverantwortung, zur Willens- und Entscheidungsfreiheit, ja letztlich zu seiner Selbstbestimmung und Würde.

In dieser Haltung entwickelten sich seit den 30er-Jahren eine Fülle von Therapieansätzen, die sich, aus unterschiedlichen Richtungen kommend, gegenseitig inspirierten und zu eigenständigen Verfahren herausbildeten. Dazu zählen die wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie nach Carl Rogers, die Jungianische Psychoanalyse nach Carl Gustav Jung und die Ausführungen von Verena Kast, die Transaktionsanalyse nach Eric Berne, die Gestaltpsychotherapie nach Fritz Perls, die Integrative Gestaltpsychotherapie nach Hildegund Heinl und Hilarion Petzold, die Bioenergetik nach Alexander Lowen, die Al Pesso Therapie, die Focusing-Therapie nach Eugen Gendlin, das Psychodrama nach Jacob Levy Moreno, die Psychosynthese nach Roberto Assagioli, die Hakomi-­Therapie nach Ron Kurtz, die Psychodynamisch-Imaginative Traumatherapie nach Luise ­Reddemann, die Ego-States-Therapie nach John und Helen ­Watkins, die Systemischen Therapien der letzten 40 Jahre und die Systemische Therapie mit der Inneren Familie nach Richard Schwartz u.a.m.

Durch Carl Gustav Jung zog östliches Gedankengut, insbesondere taoistische und buddhistische Prinzipien, in die Psychotherapie ein; auch die Meditation, auf Achtsamkeit basierend, eine ganzheitliche Betrachtungsweise und die Imagination wurden psychotherapeutisch salonfähig und fanden hier ihre weitläufige Einbeziehung und Entwicklung. Die Idee, Träume subjekthaft und objekthaft deuten zu können, erweiterte die Möglichkeit der Betrachtungsweise innerer Zustände und deren Vielfalt beträchtlich. Durch das Wechseln der Position des Beobachters wurde eine neue Dimension der Betrachtung von Erlebnisinhalten geschaffen, nämlich einmal alle Elemente des Traumes zu sein und/oder die Elemente des Traumes oder den Traum als Objekt mit etwas Abstand zu betrachten. Diese Art der Traumdeutung erweiterte die Introspektionsmöglichkeiten des Träumenden und des Therapeuten und bedeutete eine Abkehr von der Deutungshoheit des Therapeuten. Die Wahrnehmung fein auf den Körper zu richten sollte helfen, ihn von Blockaden und Panzerungen zu befreien und ihn zu seinem natürlichen Ausdruck zu führen. Wilhelm Reich gebührt das Verdienst, als Erster den Körper und seine Ausdrucksmöglichkeiten in seine Charakteranalyse mit einbezogen zu haben. Er war der Ansicht, dass unterdrückte Emotionen sich in Körperpanzerungen äußern.

In den 60er-Jahren mit dem Selbstbestimmungsrecht der Frauen erkundeten Gynäkologinnen und Feministinnen in aller Ausführlichkeit und mit Neugier ihre Körper, »our bodies – our selves«. Mit der Enttabuisierung der Sexualität in den 70er-Jahren war die Entdeckung des Körpers verbunden und erlaubt, was zu Zeiten von Wilhelm Reich noch eine Außenseiterposition dargestellt hatte. Die modernere Körperpsychotherapie ist teilweise noch von seinen Ideen, teils von der experimentellen Gestalttherapie von Fritz und Laura Perls inspiriert, die von einer Einheit von Körper, Seele und Geist ausgingen. Sie bauten schon auf die Fülle und die Ressourcen des menschlichen Daseins auf, wie die ­integrative ­Gestalttherapie nach Hilarion Petzold und Hildegund Heinl, die auch von einer ganzheitlichen Sichtweise ausgehen. In ihr ist die Rede vom Leib, womit der beseelte Körper gemeint ist. Ihm wird ein implizites und ein explizites Gedächtnis zugeschrieben. Im Körpergedächtnis können Erinnerungen aller Art gespeichert sein, wunderbare, alltägliche und schreckliche, die dem Bewusstsein und der Erinnerung nur partiell zugänglich sind. Alles, was der Mensch jemals erlebt hat, ist in seinem Leib wie auf einer Gravur-Tafel eingeschrieben, und wurde szenisch abspeichert. Da die körperorientierten Psychotherapieverfahren zunehmend in der Lage waren, die dem Menschen innewohnenden Potenziale aufzudecken, und damit begannen, die Innenwelt eines Individuums zu beleuchten, entwickelten sich durch sie wesentlich differenziertere Wahrnehmungsmöglichkeiten von Seins-Zuständen, von den Objekten innerer Vielfalt und ihres Ausdrucks in den Gefühlen, dem Körper, den Gedanken und dem Verhalten.

Körperpsychotherapeutische Methoden vereint mit achtsamer Wahrnehmung des Körpers unterstützen die Erinnerungskraft stark. Während in den 70er-Jahren in den Therapien oftmals noch heftig »gepushed« wurde, sodass Klienten z.T. von szenisch gespeicherten traumatischen Erinnerungen katastrophal überflutet wurden, geht heute die körperorientierte Traumatherapie ausgesprochen achtsam und eher den Prozess verlangsamend vor, dem Tempo der Klient*innen folgend, um so der Weisheit und den Botschaften des Körpers besser lauschen zu können. Durch die behutsame, einfühlende psychotherapeutische Begleitung können die Klienten das Erlebte mitsamt ihren szenischen Erinnerungen und Gefühlen im Damals durcharbeiten. Sie können durch Externalisierungstechniken diese Prozesse auch emotional dimmen. Die Klient*innen bekommen eine Beobachterposition im Hier und Jetzt, wodurch die Selbstwahrnehmung und Selbstregulierung gefördert werden. Sie helfen, den Dreiklang der Traumatherapie – Stabilisierung, Konfrontierung und Integration – zu befördern.

Die introspektive Wahrnehmung in der Gestaltpsychotherapie übt innere »awareness«, also intensive Selbstwahrnehmung in einem Zustand von geistiger Wachheit und Bewusstheit im Moment, ein Zustand ­ähnlich der Achtsamkeit. Sie ist in der Lage, die Ebenen ihrer Wahrnehmung zu wechseln. So kann sie die feine Wahrnehmung zuerst nach innen auf sich selbst, auf das Erleben des jeweiligen Augenblicks im Hier und Jetzt und auf den Kontext und die Umgebung richten. (John O. Stevens)

Mit der achtsamkeitsbasierten Wahrnehmungsschulung wie sie Thich Nhat Hanh lehrt oder die mittlerweile weltweit verbreitete MBSR-­Methode – Mindfulness-Based-Stress-Reduction – nach Jon Kabat Zinn wurden Strukturen feiner Selbstwahrnehmungsmöglichkeiten geschaffen. Das Erlernen eines achtsamkeitsbasierten Selbstmitgefühls schult die Empathie-Fähigkeit für sich selbst und für andere – eine Voraussetzung für emotionale Intelligenz und emotionale und psychosoziale Kompetenz.

Achtsamkeit meint reine Wahrnehmung ohne Bewertung. Durch Achtsamkeitstraining können neuronale Aktivitäten angeregt werden, die andauernde positive Veränderungen im Gehirn verursachen, wie neuropsychologische Forschungsergebnisse zeigen. Dass der Körper bei allem, was wir erleben, mitreagiert, haben Körpertherapeuten schon immer intuitiv vorausgesetzt. Bewiesen ist es durch Antonio Damasio, der unter anderem erforscht hat, dass jedes Erleben mit Körperreaktionen verbunden ist. Diese sind bereits eine halbe Sekunde vorausgegangen, bevor das Ereignis überhaupt in unser Bewusstsein vordringen konnte. Unser Körper ist also in allem einen Tick schneller als unser Bewusstsein. Jeder Gedanke, jedes Gefühl, jedes Erlebnis geht mit körperlichen Reaktionen einher.

So erscheinen mir die auf diesen Prinzipien aufgebauten achtsamkeitsgeleiteten humanistischen Psychotherapien natürlich und heilsam. Den Körper nicht in eine Therapie mit einzubeziehen erschiene mir genauso fremd, wie seinen Verstand nicht zu benutzen. Es bedarf Körper, Seele, Geist und Verstand von Klient*in und Therapeut*in, um sich der Komplexität eines menschlichen Wesens halbwegs anzunähern. Das tiefere Wissen eines Menschen um sich selbst sollte mit in die Therapie einbezogen werden. Die Psychotherapeut*innen können mit den Theorien und der Haltung der humanistisch-psychotherapeutischen Therapien unter der Einbeziehung des Körpers dazu beizutragen, auf all die Verletzungen, Narben, Konflikte und Erkrankungen von Klient*innen, Patient*innen und sich selbst heilsam zu wirken sowie die Ressourcen zu fördern.