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1.3.4 Work-Life-Separation

Im Gegensatz zu den gerade vorgestellten Konzepten des Work-Life-Blending und der Work-Life-Integration vertritt das Konzept der Work-Life-SeparationWork-Life-Separation eine eindeutige Trennung und Abgrenzung zwischen dem Arbeitsleben und dem Privatleben. Gefordert werden klare Strukturen und eine eindeutige Abgrenzung von Arbeitszeit und Arbeitsort zum Privatleben und Wochenende (vgl. Existenzgründer Lexikon o.J.: Work-Life-Separation). Gerade die junge Generation ZGeneration Z, die zwischen 1995 und 2009 geboren wurden, legt viel Wert auf eine Trennung zwischen ihrer Arbeitswelt und ihrer privaten Lebenswelt. Für einen geregelten Feierabend und ein arbeitsfreies Wochenende ohne permanente Ansprechbarkeit verzichtet sie auch auf die Flexibilität von Arbeitszeit und Arbeitsort (vgl. Scholz 2018). Geprägt wurde die Einstellung der Generation Z auch durch die sichtbaren Auswirkungen des Work-Life-Blending und der Work-Life-Integration, die für viele Beschäftigte zu deutlich längeren Arbeitszeiten, einer permanenten beruflichen Ansprechbarkeit, Einschränkungen des Privatlebens sowie auch zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen führten (vgl. Scholz 2018). Wie konsequent sich diese klare Trennung zwischen der Arbeitswelt und dem Privatleben auf Dauer in unserer sehr dynamischen und komplexen Arbeitswelt umsetzen lässt, bleibt abzuwarten. Allerdings begünstigen die aktuelle Arbeitsmarktsituation sowie die zunehmenden Fach- und Führungskraftengpässe die Durchsetzung der Forderung nach einer klaren Work-Life-Separation der begehrten Beschäftigten.

1.3.5 Aktualität des Konzepts der Work-Life-Balance

Das Konzept der Work-Life-BalanceWork-Life-BalanceKonzept ist weder veraltet noch unzeitgemäß! Es fordert auch nicht die klare Trennung zwischen dem Arbeits –und Privatleben, sondern bietet ebenfalls vielfältige örtliche und zeitliche Flexibilisierungsmöglichkeiten. So ist es das Ziel der Work-Life-Balance, die verschiedenen Lebensbereiche unter Berücksichtigung der individuellen Lebenssituationen so gut aufeinander abzustimmen, dass die Beschäftigten mit ihrem Beruf und Arbeitsleben zufrieden sind, als auch ein erfülltes und den individuellen Anforderungen und Wünschen entsprechendes Privatleben leben und genießen können. Mit welchen Strategien und Maßnahmen eine Work-Life-Balance auf Seiten der Arbeitgeber sowie der Arbeitnehmenden erreicht werden kann, muss jeweils unternehmens- bzw. organisationsbezogen mit Beteiligung der Mitarbeitenden gestaltet werden. Vielfältige Anregungen und Gestaltungsperspektiven für die Umsetzung einer Work-Life-Balance werden in diesem Buch vorgestellt.

Abbildung 5:

Work-Life-Balance als Verbindungskonzept. Eigene Darstellung

Insofern ist das Konzept der Work-Life-Balance in keinster Weise veraltet. Im Gegenteil: Es bietet ein hohes Maß an Flexibilität, um die betrieblichen und die individuellen Mitarbeiterwünsche zu berücksichtigen, sei es nach flexiblen Arbeitszeiten und Arbeitsorten oder auch nach klaren Grenzen zwischen der Arbeitswelt und der privaten Welt. Dadurch können in dem Konzept der Work-Life-Balance sowohl Aspekte des Work-Life-Blending, als auch Aspekte der Work-Life-Separation je nach individuellen Wünschen, miteinander verbunden werden. Damit bildet die Work-Life-Balance quasi ein Verbindungskonzept zwischen den Ideen des Work-Life-Blending bzw. der Work-Life-Integration und der Work-Life-Separation mit vielen eigene zielgruppenbezogenen Gestaltungsmöglichkeiten.

2 Aktuelle gesellschaftliche, technologische und wirtschaftliche Herausforderungen

Die ArbeitsweltArbeitswelt hat sich in den letzten zwanzig Jahren in mehrfacher Hinsicht stark verändert. Zurück zu führen sind diese Veränderungen auf gesellschaftliche, marktwirtschaftliche, technologische und nachhaltige Entwicklungen, die sowohl unsere Gesellschaft als Ganzes aber auch die Arbeitswelt vor neue Herausforderungen und veränderte Anforderung stellt (vgl. Abbildung 6). Zu den wichtigsten gesellschaftlichen Entwicklungen gehören beispielsweise der demografische Wandel, veränderte Familienstrukturen und geschlechtsbezogene Rollenbilder, die Entwicklung zur Wissensgesellschaft aber auch der Wertewandel. Wesentliche technologische Entwicklungen bestehen in der deutlich steigenden Digitalisierung, der vielfältigen Veränderungen der Informations- und Kommunikationstechnologien und der Entwicklung einer Arbeitswelt 4.0. Gravierende marktwirtschaftliche Entwicklungen bestehen in der zunehmenden Internationalisierung und den globalen Wertschöpfungsketten, der steigenden Dynamik und Komplexität unserer Wirtschaft und Gesellschaft, aber auch in den alternden Belegschaften und steigenden Fach- und Führungskräfteengpässen, mit denen die Unternehmen schon jetzt umgehen müssen. Auch der Wandel der arbeitsbezogenen Werte, die Entwicklungen im Bereich der „New Work Ansätze“, aber auch die sich deutlich verändernde Rolle der Frauen in der Arbeitswelt stellen die Unternehmen vor weitere Veränderungen. Die größte gesellschaftliche und wirtschaftliche Herausforderung für dieses Jahrhundert ist jedoch die Entwicklung hin zum nachhaltigen Wirtschaften und zu einer Corporate Social Responisbility. Auch sie spiegelt sich u.a. im Wertewandel der Menschen und den schon heute deutlich spürbaren Veränderungen durch den Klimawandel, die Ressourcenerschöpfung und die Umweltverschmutzung wider.

Abbildung 6:

Aktuelle gesellschaftliche, marktwirtschaftliche, technologische und nachhaltige Entwicklungen in Deutschland. Quelle. Eigene überarbeitete Darstellung.

Die Vielfalt der Veränderungen führen zu vielen neuen Herausforderungen der Arbeitswelt, die sich auch auf die Möglichkeiten des Ausgleichs zwischen dem Arbeits- und Privatleben auswirken. Hierauf ist auch die intensivere Auseinandersetzung mit dem Thema „Work-Life-Balance“ in den letzten beiden Jahrzehnten zurückzuführen. Im Folgenden werden ausgewählte wichtige Veränderungen aus den verschiedenen Entwicklungsbereichen ausführlicher vorgestellt.

2.1 Gesellschaftliche HerausforderungenGesellschaftliche Herausforderungen
2.1.1 Demografischer Wandel

Der demografische Wandeldemografische Wandel beschreibt die Veränderungen der Bevölkerungszusammensetzung einer Gesellschaft bzw. eines Landes hinsichtlich ihrer Gesamtzahl und ihrer Bevölkerungsstruktur. Als Veränderungen der BevölkerungsstrukturBevölkerungsstruktur werden die Anteile verschiedener Altersgruppen, die Geschlechterverteilung, die Anteile von Inländern und Ausländern und von Zuzügen und Fortzügen sowie der Anzahl der Geburten- und Sterbefälle erfasst und dokumentiert (vgl. BIB 2004, S. 7). Beeinflusst wird die Entwicklung der Bevölkerung vor allem durch die Geburtenhäufigkeit (Fertilität), die Sterblichkeit (Mortalität) und durch die Wanderungsbewegungen (Zuzüge in und Fortzüge aus einem Land, Migration) (vgl. BIB 2004, S. 7 f.).

In Deutschland wird in langfristigen Modellrechnungen des Bundes und der Länder die Bevölkerungsentwicklung unter bestimmten Annahmen der Entwicklung der Geburten, der Lebenserwartung und der Wanderungen kontinuierlich fortgeschrieben und so verschiedene Szenarien für die Entwicklung der deutschen Bevölkerungsanzahl und -struktur vorausberechnet. Aktuell dokumentiert das Statistische Bundesamt die Entwicklung der deutschen Bevölkerung bis zum Jahr 2060 in der 14. Koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung14. Koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung, die auf dem Bevölkerungsbestand von 2018 basiert (vgl. Statistisches Bundesamt 2019). Dabei werden insgesamt 30 Varianten mit unterschiedlichen Annahmen zur Geburtenhäufigkeit, der Lebenserwartung und den Wanderungsbewegungen berechnet, um die Bandbreite möglicher Entwicklungen abzuschätzen (vgl. Statistisches Bundesamt 2019, S. 13). Die Varianten 1, 2 und 3 berechnen die Bevölkerungsentwicklung unter den Annahmen einer relativ geringen Veränderung der Geburtenhäufigkeit (von 1,55 Kindern pro Frau auf 1,6 Kinder pro Frau in 2060) und der Lebenserwartung bei Geburt (für Jungen auf 84,4 Jahre, für Mädchen auf 88,1 Jahre) bis zum Jahr 2060. Dabei wird eine sich unterschiedlich stark entwickelnde Nettozuwanderung berücksichtigt (vgl. Statistisches Bundesamt 2019, S. 13).

2.1.1.1 Aktueller Stand der deutschen Bevölkerungsstruktur

Zum Jahresende 2019 lebten in Deutschland 83,2 Millionen Menschen, davon waren 42,1 Millionen Frauen und 41,0 Millionen Männer (0,1 Millionen fehlen berechnungsbedingt). (vgl. Destatis 2020 Pressemitteilung: www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2020/06/PD20_223_12411.html). Durchschnittlich hat jede Frau im Jahr 2019 1,54 Kinder geboren; diese Geburtenziffer lag im Jahr 2018 noch bei 1,57, d.h., dass im Jahr 2019 9.400 Kinder weniger geboren wurden. Das Durchschnittsalter der Frauen bei ihrem ersten Kind lag im Jahr 2019 bei 30,1 Jahren. (vgl. Destatis Geburten 2020). Die Kinderlosenquote, d.h. der Anteil der kinderlosen Frauen an allen Frauen zwischen 45 und 49 Jahren betrug 21% (vgl. Destatis Pressemitteilung 2019).

Der demografische Wandel ist in Deutschland schon deutlich sichtbar. Heute ist jede zweite Person (also 50%!) in Deutschland älter als 45 Jahre und jede fünfte Person (also 20%) ist älter als 66 Jahre (vgl. Destatis Demografischer Wandel 2020). Dabei ist die Zuwanderung insbesondere jüngerer Menschen in den letzten Jahren deutlich gestiegen, auch die Geburtenzahlen steigen seit dem Jahr 2012 wieder an. (vgl. ebenda).

2.1.1.2 Veränderungen der Bevölkerungsstruktur und des Altersaufbaus von 1910 bis 2060

Der Altersaufbau der BevölkerungAltersaufbau der Bevölkerung hat sich von 1910 bis 2018 deutlich verändert, wie die Abbildung 7 zeigt. Im Jahr 1910 hatte die Bevölkerungsstruktur in Deutschland die Form einer Pyramide. Bei diesem früher typischen pyramidenförmigen Altersaufbau sind die jüngsten Geburtenjahrgänge auch die zahlenmäßig stärksten Geburtenjahrgänge. Mit zunehmendem Alter werden die Jahrgänge aufgrund der hohen Sterblichkeit der Menschen kleiner. Dieser Altersaufbau veränderte sich mit der Entwicklung der industriellen Gesellschaft seit dem Ende des 19. Jahrhunderts und im 20. Jahrhundert durch das Sinken der Sterblichkeit und dem daraus folgenden Rückgang der Geburtenhäufigkeit. Zusätzliche Veränderungen der Altersstruktur im Jahr 1950 verursachten die beiden Weltkriege, die Spanische Grippe sowie die Weltwirtschaftskrise in den 1920er Jahren. (vgl. Statistisches Bundesamt 2019, S. 19). Der Altersaufbau im Jahr 2018 ist geprägt von der zahlenmäßig größten Generation der Babyboomer (geboren zwischen ca. 1955 bis 1965), die aktuell zwischen Ende 40 und Mitte 60 Jahre alt sind und in den nächsten Jahren in den Ruhestand gehen werden. Die nachfolgenden Geburtenjahrgänge sind zahlenmäßig deutlich kleiner, so dass der Sockel des Altersaufbaus bis zum Jahr 2060 immer schmaler werden wird, sich der Alterungsprozess in Deutschland beschleunigt und sich auch die Anteile der verschiedenen Altersgruppen deutlich verändern werden (vgl. Statistisches Bundesamt 2019, S. 19). Durch den Rückgang potenzieller Mütter könnte diese Entwicklung, selbst bei einer steigenden Geburtenrate, wenn überhaupt nur langfristig aufgehalten werden. Insgesamt hat sich der Altersaufbau in den letzten 150 Jahren von einer Pyramidenform zu einer Urnenform entwickelt.

Abbildung 7:

Veränderung der Altersstruktur der Bevölkerung in Deutschland von 1910 bis 2060. Quelle: Statistisches Bundesamt 2019, S. 20.

Abbildung 8:

Altersaufbau der Bevölkerung in Deutschland nach demografischen Ereignissen. Quelle: BIB 2020: www.bib.bund.de/Permalink.html?id=10193678. Abruf: 04.08.2020

Abbildung 8 zeigt den Einfluss wichtiger demografischer Ereignisse der letzten einhundert Jahre auf den Altersaufbau der BevölkerungBevölkerungAltersaufbau in Deutschland mit dem Datenstand des Jahres 2018. Gut erkennbar ist das Geburtentief während der Weltwirtschaftskrise um 1932 sowie das Geburtentief zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Sichtbar sind auch die überproportionalen Rückgänge der Jahrgänge der Männer aufgrund der Kriegstoten durch die beiden Weltkriege. Die Generation der Babyboomer wurde Mitte der 1950er bis Mitte der 1960er Jahre geboren und bildet aktuell die zahlenmäßig stärkste Generation in der deutschen Bevölkerung. Die hohe Geburtenrate ist auf das „goldene Zeitalter von Ehe und Familie“ in den 1960er Jahren in Deutschland zurückzuführen (vgl. BIB 2016, S. 11). Ab 1965 gehen die Geburtenzahlen wieder deutlich zurück, so dass die nächste „Generation X“ (Jahrgänge ca. 1966 – 1975) sehr viel kleiner ausfällt. Ein weiterer deutlicher Geburtenrückgang ist nach der Wiedervereinigung Deutschlands aus der Abbildung 8 abzulesen. Dieser Trend hält bislang an und verstärkt sich teilweise noch in weiteren Geburtenrückgängen. Der Männerüberschuss im jüngeren Lebensalter ergibt sich daraus, dass mehr Jungen als Mädchen geboren werden. Da die Frauen jedoch eine höhere Lebenserwartung als die Männer haben, zeichnet sich insbesondere im hohen Alter ein deutlicher Frauenüberschuss ab. (vgl. BIB, 2016, S. 11.)

2.1.1.3 Bevölkerungsentwicklung zwischen 1950 und 2060

Die Bevölkerung in Deutschland ist von knapp 70 Millionen Menschen im Jahr 1950 auf gut 83 Millionen Menschen im Jahr 2018 stetig gewachsen. Damit ist Deutschland eines der bevölkerungsreichsten Länder in Europa (vgl. Sozialpolitik aktuell o.J.). Wie die Abbildung 9 zeigt, gab es vor allem in den 1950er, 1960er und 1990er Jahren und seit 2011 größere Bevölkerungszuwächse.

Zurückzuführen ist diese positive BevölkerungsentwicklungBevölkerungsentwicklung auf die hohen GeburtenratenGeburtenraten bis Mitte der 1960er Jahre, auf die steigende Lebenserwartung aufgrund einer guten medizinischen Versorgung und einer gesünderen Lebensweise sowie auf die hohe Zuwanderung (vgl. Sozialpolitik aktuell o. J.).

Abbildung 9:

Bevölkerungsentwicklung in Deutschland zwischen 1950 und 2060. Quelle: : Sozialpolitik aktuell o.J.: www.sozialpolitik-aktuell.de/tl_files/sozialpolitik-aktuell/_Politikfelder/Bevoelkerung/Datensammlung/PDF-Dateien/abbVII100.pdf. Abruf: 02.08.2020

Doch auch die Entwicklung der Zuzüge und Fortzüge beeinflusste die Bevölkerungsentwicklung stark. Nach der deutschen Wiedervereinigung zogen vor allem Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion und den ehemaligen sozialistischen Staaten Europas nach Deutschland. Seit dem Jahr 2002 ging der positive WanderungssaldoWanderungssaldo wieder zurück und stieg erst wieder seit 2011 etwas stärker und zwischen 2014 bis 2017 sehr stark um 2,6 Millionen vorwiegend junger Menschen an, die nach Deutschland zogen und so auch zu der steigenden Bevölkerungsanzahl in Höhe von 82,9 Millionen Menschen im Jahr 2018 führten. (vgl. BIB 2016, S. 7 f.). Bei einem weiter positiven Wanderungssaldo von ca. 221.000 Menschen pro Jahr und moderaten Veränderungen der Geburtenhäufigkeit und der Lebenserwartung wird mit einem Anstieg der Bevölkerungszahl auf 83,7 Millionen Menschen bis zum Jahr 2024 und einem anschließenden Rückgang der Bevölkerung bis 2060 um ca. 9 Millionen Menschen auf 74,4 Millionen Menschen in Deutschland gerechnet (vgl. Statistisches Bundesamt 2019; BIB 2016, S. 7). Damit wäre fast wieder der Bevölkerungsstand vom Jahr 1960 erreicht.

Abbildung 10:

Natürliche Bevölkerungsentwicklung 1950 bis 2018. Quelle: Demografie-Portal: In: https://www.demografie-portal.de/DE/Fakten/natuerliche-bevoelkerungsentwicklung.html?nn=676848. Abruf: 31.03.2021

Abbildung 11:

Wanderungen zwischen Deutschland und dem Ausland, 1950 bis 2050. Quelle: Demografie-Portal: https://www.demografie-portal.de/DE/Fakten/Bilder/gross/wanderungen-ausland.png?__blob=publicationFile&v=3. Abruf: 31.03.2021

Ohne einen positiven Wanderungssaldo und damit einer Nettozuwanderung würde die deutsche Bevölkerung schon seit den 1970er Jahren schrumpfen (vgl. Abbildung 11). So weist Deutschland seit 1972 mehr Sterbefälle als Geburten auf, was zu einer negativen natürlichen Bevölkerungsbilanz führt. Der dadurch entstehende Bevölkerungsrückgang konnte bislang durch die positive Nettozuwanderung ausgeglichen werden.

Wie stark die Bevölkerung tatsächlich schrumpfen wird, hängt also ganz wesentlich von dem Ausmaß der künftigen ZuwanderungZuwanderung ab, wie die drei Varianten in der Abbildung 12 zeigen.

Abbildung 12:

Bevölkerungsentwicklung in Deutschland 1950 bis 2060. Quelle: BIB 2019a: www.demografie-portal.de/SharedDocs/Informieren/DE/ZahlenFakten/Bevoelkerungszahl.html. Abruf: 02.08.2020. www.demografie-portal.de/DE/Fakten/Bilder/gross/bevoelkerungszahl.png?__blob=publicationFile&v=3. Abruf: 25.01.2021.

Wird auch zukünftig ein hoher Wanderungssaldo bei den Berechnungen angenommen (unter sonst gleichen Annahmen), wird die Bevölkerung bis zum Jahr 2060 auf ca. 83 Millionen Menschen ansteigen. Wird zukünftig ein niedriger Wanderungssaldo angenommen (unter sonst gleichen Annahmen), so wird die Bevölkerung im Jahr 2060 nur 74,4 Millionen Menschen betragen, das sind 8,6 Millionen Menschen weniger (vgl. BIB 2019 demografie-portal.de: Bevölkerungszahl; Statistisches Bundesamt 2019). Aus diesen Prognosen wird der starke Einfluss des Wanderungssaldos auf die Entwicklung der Bevölkerung in Deutschland deutlich. Ohne einen positiven Wanderungssaldo und damit eine Nettozuwanderung würde die deutsche Bevölkerung schon seit den 1970er Jahren schrumpfen (vgl. Abbildung 12).

In den folgenden Jahrzehnten werden vermutlich vor allem zwei Entwicklungen einen deutlichen Bevölkerungsrückgang bewirken:

 Erstens bewirkt die schon seit den 1960er Jahren geringe Geburtenrate der Frauen eine stetig sinkende Elterngeneration, so dass in jeder weiteren Generation weniger Kinder geboren werden. Aktuell liegt die GeburtenrateGeburtenrate pro Frau bei 1,54 Kindern, wobei die Frauen im Durchschnitt bei der Geburt ihres ersten Kindes 30 Jahre alt sind (vgl. Destatis Geburten 2020).

 Zweitens erreicht die Generation der Babyboomer in den nächsten Jahrzehnten ein Lebensalter, in dem die Sterbewahrscheinlichkeit deutlich ansteigt. Dadurch könnte der Anteil der SterbefälleSterbefälle von aktuell 170.000 Personal auf mehr als 400.000 Personen ansteigen, was wiederum zu einer Verringerung der Bevölkerung führen wird und auch durch eine positive Nettozuwanderung schwer ausgeglichen werden kann. (vgl. demografie-portal.de: Bevölkerungszahl).

2.1.1.4 Zusammengefasste Geburtenziffer

Im Folgenden betrachten wir die Entwicklung der Geburten in Deutschland etwas genauer.

Die Entwicklung der Geburten im Zeitverlauf wird mit der Kennzahl der „Zusammengefassten GeburtenzifferZusammengefassten Geburtenziffer“ berechnet. Die zusammengefasste Geburtenziffer beschreibt, „wie viele Kinder eine Frau im Laufe ihres Lebens bekäme, wenn ihr Geburtenverhalten so wäre wie das aller Frauen zwischen 15 und 49 Jahren im betrachteten Jahr“ (destatis 2020). Seit Beginn der 1980er Jahre stagniert die zusammengefasste Geburtenziffer in Deutschland bei ungefähr 1,4 Kindern je Frau. Seit ca. 2010 ist die zusammengefasste Geburtenziffer wieder leicht angestiegen: Im Jahr 2015 lag sie bei 1,50 Kindern je Frau und im Jahr 2019 betrug sie 1,54 Kinder je Frau (vgl. destatis 2020). Um den Bevölkerungsbestand konstant zu halten, wäre jedoch eine zusammengefasste Geburtenziffer von 2,1 Kindern je Frau erforderlich.

Abbildung 13:

Zusammengefasste Geburtenziffer 1950 bis 2015. Quelle: BIB 2017: Zusammengefasste Geburtenziffer. In: www.demografie-portal.de/SharedDocs/Downloads/DE/ZahlenFakten/pdf/Zusammengefasste_Geburtenziffer.pdf?__blob=publicationFile&v=3. Abruf: 08.08.2020. www.demografie-portal.de/DE/Fakten/Bilder/gross/zusammengefasste-geburtenziffer.png?__blob=publicationFile&;v=4. Abruf: 25.01.2021.

In Westdeutschland und Ostdeutschland haben sich die Geburten seit 1950 teilweise unterschiedlich entwickelt, was auf verschiedene Ursachen zurückzuführen ist.

In Westdeutschland stiegen die Geburten seit der Nachkriegszeit bis Mitte der 1960er Jahre auf bis zu 2,5 Geburten je Frau an. Seit Mitte der 1960er Jahre ist die Geburtenziffer auf ca. 1,5 Kinder je Frau gesunken und verharrt bis heute auf diesem Niveau. Wesentliche Einflussfaktoren dieser Entwicklung bestehen in der Verbreitung und Nutzung von Verhütungsmitteln sowie in einem tiefgreifenden Wandel der gesellschaftlichen Werte seit Mitte der 1960er Jahre. Bis Mitte der 1960er Jahre waren Familienstrukturen in Westdeutschland durch eine klare Rollenverteilung innerhalb der Familie geprägt, bei der der Mann i.d.R. das Familieneinkommen erwirtschaftete und die Frau sich um den Haushalt und die Erziehung der Kinder kümmerte. Ab Mitte der 1960er Jahre setzte ein gesellschaftlicher Wandel ein, der diese traditionelle Familienstruktur und Rollenverteilung hinterfragte, aufbrach und zur Entwicklung neuer Familien- und Lebensformen führte. Auch Gesellschaftsformen veränderten sich: Neben der dominierenden Familie als Gesellschaftsform entwickelten und verbreiteten sich langsam auch andere Formen des Zusammenlebens (z.B. Wohngemeinschaften, Alleinerziehende, Patchworkfamilien). Dieser Wandel wurde auch durch die steigende Berufstätigkeit der Frauen sowie die in den 1970er Jahren gesetzlich verankerte Möglichkeit der alleinigen Entscheidungsfreiheit über die eigene Berufstätigkeit der Frauen begünstigt. Dies hatte zur Folge, dass seit den 1970er Jahren die Anzahl der Eheschließungen sowie die Kinderzahl pro Frau zurückgingen. Demgegenüber stieg der Anteil der Scheidungen an und viele Frauen bekamen ihr erstes Kind erst in höherem Alter. Ebenso nahm der Anteil der kinderlosen Frauen zu. Heute weist Westdeutschland weltweit den höchsten Anteil an kinderlosen Frauen auf (vgl. demografie-portal.de. Zusammengefasste Geburtenziffer). Vor allem hochqualifizierte Frauen haben sich immer öfter gegen Kinder und Familie und stattdessen für ihren Beruf und ihre Karriere entschieden, was wesentlich auf die unzureichende Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie die fehlenden Kinderbetreuungsmöglichkeiten zurückzuführen ist (vgl. Demografie-portal.de. Zusammengefasste Geburtenziffer).

Auch in Ostdeutschland gingen die Geburten zwischen 1965 und 1975 aufgrund der Verbreitung von Verhütungsmitteln und ab 1972 erlaubten Schwangerschaftsabbrüche deutlich zurück. Aufgrund familienpolitischer Initiativen der DDR, wie z.B. Ehekrediten und Geburtenbeihilfen stiegen die Geburtenzahlen in den folgenden Jahren wieder an. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands sank die Geburtenziffer ab Mitte der 1990er Jahre in Ostdeutschland erheblich, was auch auf die vielfältigen Veränderungen und Unsicherheiten sowie die wirtschaftlichen Einschnitte in Ostdeutschland zurückzuführen ist. Seit der Jahrtausendwende steigen die Geburten in Ostdeutschland wieder an und lagen im Jahr 2015 mit 1,52 Geburten je Frau etwas höher als in Westdeutschland mit 1,50 Geburten je Frau. (vgl. Demografie-portal.de. Zusammengefasste Geburtenziffer).

Insgesamt sind die dauerhaft niedrigen Geburtenziffern eine wesentliche Ursache für die zunehmende Alterung und die langfristige Schrumpfung der deutschen Bevölkerung. So führen die niedrigen Geburtenziffern zu einem erheblichen Rückgang junger Menschen in Deutschland und einer deutlichen Verschiebung der Altersstrukturen hin zu älteren und hochaltrigen Menschen in Deutschland. Unterstützt wird diese Entwicklung durch das gute Gesundheitssystem, eine gesündere Lebensweise und eine insgesamt steigende Lebenserwartung der deutschen Bevölkerung. Vor allem der steigende Anteil älterer Menschen stellt die Sozialpolitik in den nächsten Jahrzehnten vor große Herausforderungen, da die zahlenmäßig stärkste Baby-Boomer-Generation in den nächsten Jahren in den Ruhestand gehen wird (vgl. Sozialpolitik aktuell o.J.).