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Coworking

CoworkingCoworking bedeutet übersetzt „Zusammenarbeiten“ oder auch „kollaborativ Arbeiten“ und ist ein Anglizismus für Geschäftskonzepte, die in größeren Räumlichkeiten (sog. Coworking Spaces) Arbeitsplätze mit einer umfassenden Infrastruktur (u.a. Internetanschluss, WLAN, Telefon Drucker, Scanner, Beamer, Besprechungsräume, Küche, WC) zeitlich befristet und entgeltlich (z.B. Tages-, Wochen- oder Monatspauschalen) zur Verfügung stellen. Damit bietet das Coworking Büroräume für eine zeitlich flexible Nutzung an. Genutzt werden die Coworking-Spaces überwiegend von Freiberuflern, Start-ups, digitalen Nomaden bzw. mobil arbeitenden Personen, die kein eigenes Büro haben oder haben möchten. Aber auch Unternehmen können kurzfristig benötigte zusätzliche Bürokapazitäten über die Anmietung von Coworking-Arbeitsplätzen realisieren. In den Coworking SpacesCoworking Spaces können die Nutzer individuell arbeiten, oder sich auch mit anderen Coworkern austauschen und ggf. auch gemeinsame Projekte iniziieren; auch für eine innovative Zusammenarbeit, die Entwicklung von Open Innovation oder gemeinsamen Projekten eigenen sich Coworking Spaces (vgl. u.a. Budras 2017; Brandes-Visbeck/Thielecke 2018). Gerade die Möglichkeit zum Austausch zwischen den Coworkern, die meist lockere Arbeitsatmosphäre, die gute Ausstattung mit Arbeitsmitteln und -technik, die mögliche gegenseitige Inspiration und gemeinsame Ressourcennutzung sowie die flexiblen Nutzungsmöglichkeiten machen die Coworking Spaces für viele Freelancer und digitale Nomaden sehr attraktiv. Einige Coworking Spaces bieten sogar eine Kinderbetreung an (vgl. Coworkingmag 2021: Coworking Spaces mit Kinderbetreung. In: www.coworking.jetzt/coworking/coworking-spaces-mit-kinderbetreuung/#:~:text=%20Coworking-Spaces%20mit%20Kinderbetreuung%20%201%20Immer%20mehr,bisher%20in%20Deutschland%20etablierten%20Coworking-Spaces%20mit…%20More. Abruf: 17.02.2021).

Das Coworking zeichnet sich durch die folgenden fünf Grundwerte aus (Coworkingguide.de 2021):

1 Offenheit: Jede(r) ist in im Coworking Space willkommen und kann sich einbringen.

2 Zugänglichkeit: Der Coworking Space ist zeitlich flexibel verfügbar und verkehrstechnisch gut erreichbar.

3 Kollaboration: Sofern gewünscht können die Coworker auch gemeinsame Projekte entwickeln und daran arbeiten, sich austauschen und Synergien nutzen.

4 Nachhaltigkeit: In den Coworking Spaces können viele Ressourcen (Arbeitsplätze, Besprechungsräume, Büromöbel, technische und digitale Ausstattung, Versorgungseinrichtungen) gemeinsam genutzt werden, was insgesamt einen geringeren Ressourcenverbrauch bewirkt.

5 Gemeinschaft: Das Coworking erzeugt auch ein Gemeinschaftsgefühl, das auch auf ähnlichen Arbeitswerten basieren kann und auch über eine berufliche Zusammenarbeit hinausgehen kann.

Gab es weltweit im Jahr 2007 erst 14 Coworking Spaces, so ist ihre Zahl Anfang des Jahres 2021 auf knapp 28.000 Coworking-Spaces rasant angewachsen (vgl. Coworkingguide.de 2021). Genutzt werden Coworking Spaces weltweit von aktuell rund 450.000 Coworkern, Tendenz steigend (vgl. Coworkingguide.de 2021).

Coworking ermöglicht es Freiberuflern, digitalen Nomaden und Startups, zeitlich flexibel Bürokapazitäten und Arbeitsplätze zu nutzen. Dadurch kann die Vereinbarkeit der individuellen Lebenswelten optimiert werden, insbesondere, wenn die Coworking Spaces auch Kinderbetreuungsangebote beinhalten. Allerdings besteht auch beim Coworking die Tendenz der Entgrenzung zwischen den Lebenswelten und bedarf eines guten Selbstmanagements der freiberuflich Tätigen.

Wesentliche Aspekte dieser gerade vorgestellten neuen Arbeitsformen der „New Work“ sind sowohl die örtliche als auch die zeitliche Flexibilität der Arbeit, die die Gestaltungsspielräume für die Vereinbarkeit der verschiedenen Lebenswelten deutlich erhöht, gleichzeitig jedoch auch zu einer steigenden Entgrenzung zwischen den Lebenswelten sowie der Arbeitszeit und der Privatzeit führen kann. Zusätzlich sind gerade die freiberuflichen neuen Arbeitsmodelle kaum geeignet, um den eigenen Lebensunterhalt vollständig zu sichern. Auch liegt hier die Verantwortung der sozialen Absicherung bei den freiberuflich Tätigen selbst. Insofern eignen sich die vorgestellten freiberuflichen neuen Arbeitsmodelle eher als Nebenbeschäftigung.

Insgesamt wünschen sich jedoch immer mehr Beschäftigte flexible Arbeitsmodelle. Auch bedingt durch die steigenden Fachkräfteengpässe sind hier die Unternehmen gefordert, sich mit den Wünschen ihrer Mitarbeitenden nach diesen örtlich und zeitlich flexiblen Arbeitsmodellen stärker auseinander zu setzen und diese im Unternehmen einzuführen, sofern dies arbeitsorganisatorisch möglich ist. Damit verbunden sind umfangreiche Veränderungsprozesse im Unternehmen, die es zu bewältigen gilt. (vgl. z.B. Bartscher/Nissen 2019, S. 31 ff.; Bruch/Block/Färber 2016).

2.4.3 Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse

Seit den 1990er Jahren haben sich die Formen der Beschäftigungsverhältnisse erheblich verändert. Das klassische Normalarbeitsverhältnis im Sinne eines Vollzeitarbeitsverhältnisses ist zwar immer noch weit verbreitet, daneben wächst jedoch die Anzahl atypischer Beschäftigungsverhältnisse, wie z.B. Zeitarbeit oder Minijobs sowie der Anteil prekärer Beschäftigungen.

2.4.3.1 Normalarbeitsverhältnis

Ein NormalarbeitsverhältnisNormalarbeitsverhältnis ist dadurch gekennzeichnet, dass eine dauerhafte, zeitlich unbefristete und sozial abgesicherte abhängige (d.h. Weisungsgebundenheit des Arbeitnehmenden an den Arbeitgeber) Vollzeitbeschäftigung (38h bis 40h / Woche) besteht, die eine existenzsichernde Vergütung ermöglicht, dabei aber auch einen arbeits- und sozialrechtlichen Schutz der Beschäftigten gewährleistet, einen Anspruch auf Mitbestimmung beinhaltet und die Arbeit i.d.R. außerhalb des eigenen Haushalts geleistet wird (vgl. Preißing 2010, S. 204 f.). Zu Normalarbeitsverhältnissen werden neben Vollzeitbeschäftigungen auch solche Beschäftigungen gezählt, die hinsichtlich ihres Arbeitszeitumfangs (z.B. Teilzeitarbeit mit mehr als 20 Stunden pro Woche) oder ihrer Arbeitszeiten (z.B. variable Arbeitszeiten, Schichtarbeit) in einem gewissen Umfang flexibilisiert sind (vgl. Preißing 2010, S. 205). Die Arbeitnehmerüberlassung bzw. Zeitarbeit gehört nicht zu den Normalarbeitsverhältnissen. Mit einem Normalarbeitsverhältnis können i.d.R. der eigene Lebensunterhalt und der Lebensunterhalt der eigenen Familie gesichert werden. Die wesentlichen Merkmale eines Normalarbeitsverhältnisses sind in der Abbildung 27 zusammengefasst.

Abbildung 27:

Merkmale eines Normalarbeitsverhältnisses. Quelle: Eigene Abbildung, in Anlehnung an Preißing 2010, S. 205

2.4.3.2 Atypische Beschäftigung

Atypische Beschäftigungenatypische Beschäftigungen umfassen grundsätzlich Dienst-, Werk- oder Zeitarbeitsverträge, die nur eine Teilzeitbeschäftigung bzw. geringfügige Beschäftigung mit bis zu 20 Arbeitsstunden pro Woche begründen und zeitlich befristet sind (vgl. Statistisches Bundesamt 2020). Das statistische Bundesamt erfasst als atypische Beschäftigungen befristete Beschäftigungsverhältnisse, Teilzeitbeschäftigungen, geringfügige Beschäftigungsverhältnisse sowie die Arbeitnehmerüberlassung (umgangssprachlich Zeitarbeit) (vgl. Destatis Atypische Beschäftigung). Nicht dazu gehören Menschen, die eine Ausbildung absolvieren, einen Ferienjob ausüben oder in einem Dienst (wie z.B. einem Freiwilligendienst oder Wehrdienst) arbeiten. Atypische Beschäftigungsverhältnisse erfüllen mindestens eins oder auch mehrere Kriterien des Normalarbeitsverhältnisses nicht. Aufgrund des geringen Einkommens können atypische Beschäftigungsverhältnisse den eigenen Lebensunterhalt und den Lebensunterhalt von Familienangehörigen meist nicht sichern.

In der Wirtschaft sind vor allem folgende Formen atypischer Beschäftigungsverhältnisseatypischer BeschäftigungsverhältnisseFormen verbreitet (vgl. Preißing 2010, S. 207):

 Teilzeitarbeit mit zwanzig oder weniger Arbeitsstunden/Woche

 befristete Beschäftigung

 Niedriglohn-Beschäftigung (Midi-Job, 400,- € bis 800,- € pro Monat)

 geringfügige Beschäftigung (Mini-Job, bis 400,- € pro Monat)

 Zeitarbeit bzw. Arbeitnehmerüberlassung

Atypische Beschäftigungen können aufgrund persönlicher Interessen oder Lebenssituationen auch freiwillig gewählt sein. So ist die Aufnahme einer Teilzeitbeschäftigung vor allem bei Frauen weit verbreitet, um Beruf und Familie besser vereinbaren zu können. Genauso kann sie auch dazu dienen, mehr Freizeit zu haben. Möchten Erwerbstätige Berufserfahrungen in unterschiedlichen Unternehmen oder Branchen sammeln, so können sich hierfür auch befristete Beschäftigungsverhältnisse eignen. Insgesamt spiegeln atypische Beschäftigungsverhältnisse die Flexibilisierungstendenzen am Arbeitsmarkt wider. So eröffnen atypische Beschäftigungsverhältnisse vor allem Arbeitgebern die Möglichkeit, ihre Belegschaften schnell an sich verändernde Markterfordernisse anzupassen. Andererseits ermöglichen atypische Beschäftigungsverhältnisse auch den Arbeitnehmenden flexiblere Beschäftigungsmöglichkeiten und die bessere Vereinbarung verschiedener Lebensbereiche, sind jedoch oft mit erheblichen Unsicherheiten und einem geringen Einkommen verbunden. Atypische Beschäftigungsverhältnisse sind aber nicht mit prekären Beschäftigungen gleichzusetzen.

2.4.3.3 Entwicklung der atypischen Beschäftigung im Zeitablauf

Im Zeitraum von 1991 bis 2019 hat sich der Anteil atypisch Beschäftigter von knapp 13% auf knapp 20% insgesamt deutlich erhöht1 (vgl. Statistisches Bundesamt 2020, Mikrozensus, Abbildung 28). Der Anteil der Beschäftigten in Normalarbeitsverhältnisse ist vom Jahr 1991 (90%) bis zum Jahr 2005 (66,8%) erheblich zurückgegangen, stieg jedoch seitdem bis zum Jahr 2019 wieder auf rund 90% an. Der Anteil der Selbstständigen ist mit gut 8% im Jahr 1991 bzw. rund 9% im Jahr 2019 insgesamt recht stabil geblieben, wie die Abbildung 28 zeigt.

Abbildung 28:

Entwicklung der Kernerwerbstätigen in unterschiedlichen Erwerbsformen. Eigene Darstellung. Datenquelle: Statistisches Bundesamt 2020, Kernerwerbstätige in unterschiedlichen Erwerbsformen).

Zurückzuführen ist der Anstieg der atypischen Beschäftigungsverhältnisseatypischen Beschäftigungsverhältnisse auf die Reformen zur Förderung der geringfügigen Beschäftigung, der Zeitarbeit sowie des Befristungsrechts seit den 1990er Jahren in Deutschland (vgl. Mückenberger, 2010, Sperber/Walwei 2015, S. 588; Haller/Jahn 2014, S. 2; Hohendanner 2010, S. 2). Seit einigen Jahren sind jedoch Bestrebungen zu erkennen, um atypische Beschäftigungsverhältnisse wieder zurückzudrängen. Dazu gehören u.a. Neuregulierungen zur Höchstüberlassungsdauer und Bezahlung bei der Arbeitnehmerüberlassung (vgl. Bundesagentur für Arbeit 2019, S. 5) und Initiativen zur Einschränkung der Befristung von Arbeitsverträgen (vgl. CDU/CSU/SPD 2018, S. 52). Der jüngere Beschäftigungsaufschwung zeigt auch einen Anstieg der Normalarbeitsverhältnisse (vgl. Sperber/Walwei 2017) sowie einen Rückgang der atypischen Beschäftigungen (vgl. Größmann/Günter 2018, S. 159). (vgl. hierzu auch detaillierte Ausführungen von Seils/Baumann 2019).

2.4.3.4 Aktuelle Situation atypischer Beschäftigungen

Im Jahr 2019 waren rund 37,6 Millionen Menschen in unterschiedlichen Erwerbsformen beschäftigt. Davon waren 34,16 Mio. Menschen abhängig beschäftigt. In Normalarbeitsverhältnissen arbeiteten 26,8 Millionen Menschen, 3,4 Millionen Menschen waren selbständig und 7,3 Millionen Menschen in atypischen Beschäftigungsverhältnissen erwerbstätig, wie die Abbildung 29 zeigt.

Abbildung 29:

Kernerwerbstätige in unterschiedlichen Erwerbsformen im Jahr 2019. Quelle: Statistisches Bundesamt 2020. Hinweis: die Angaben zu den Arten atypischer Beschäftigung überscheiden sich teilweise und lassen sich daher nicht aufsummieren.1 Eigene Abbildung.

Den höchsten Anteil (4,64 Millionen Menschen bzw. knapp 62%) an den atypischen Beschäftigungen hatten im Jahr 2019 Teilzeitbeschäftigte mit einem Arbeitsumfang bis 20 Stunden pro Woche. Wie die Abbildung 29 zeigt, arbeiten mit knapp 54% überwiegend Frauen in diesen Teilzeitbeschäftigungsverhältnissen (3,95 Millionen), wohingegen nur ca. 9% bzw. 0,69 Millionen Männer teilzeitbeschäftigt sind. Ebenfalls weit verbreitet waren im Jahr 2019 befristete Beschäftigungsverhältnisse, in ihnen arbeiten 2,34 Millionen Menschen bzw. ca. 32%, wobei ungefähr gleich viele Frauen und Männer befristet beschäftigt waren. Geringfügig beschäftigt waren im Jahr 2019 rund 27,5% bzw. 2,02 Millionen Menschen, auch hier dominiert der Frauenanteil mit rund 20% bzw. 1,51 Millionen Frauen. In Zeitarbeitsverhältnissen waren im Jahr 2019 850.000 Menschen beschäftigt, wobei in der Zeitarbeit fast doppelt so viele Männer als Frauen arbeiten. (vgl. Statistisches Bundesamt 2020: Kernerwerbstätige).

Wie viele Frauen und Männer in unterschiedlichen Altersgruppen im Jahr 2017 atypisch beschäftigt waren, zeigt die Abbildung 30. Deutlich sichtbar ist hier, dass Frauen in allen Altersgruppen häufiger atypische Beschäftigungen ausübten als Männer. In den Altersgruppen ab 25 Jahren bis 64 Jahren dominierte der Frauenanteil erheblich.

Abbildung 30:

Atypische Beschäftigung nach Alter und Geschlecht in Prozent im Jahr 2017. Quelle: Daten aus: Seils/Baumann 2019, S. 4. Abbildung: Eigene Abbildung.

Mit rund 36% arbeiteten im Jahr 2017 am häufigsten Personen ohne anerkannte Berufsausbildung in atypischen Beschäftigungen, wie die Abbildung 31 zeigt. Demgegenüber waren 2017 nur rund 21% der Personen mit einer Lehrausbildung oder einem Berufsfachschulabschluss atypisch beschäftigt. Mit nur 3% war der Anteil der Fachhochschul- bzw. Hochschulabsolventen an atypisch Beschäftigten am geringsten.

Abbildung 31:

Atypische Beschäftigung nach beruflicher Bildung und Geschlecht in Prozent der jeweiligen Gruppen. Quelle: Daten aus Seils/Baumann, 2019, S. 6. Eigene Abbildung.

Interessant ist die regionale Verteilung atypischer Beschäftigungen. Wie aus Abbildung 32 deutlich wird, sind atypische Beschäftigungen in Westdeutschland deutlich häufiger verbreitet als in Ostdeutschland. Anfang der 1990er Jahre war der Anteil der atypischen Beschäftigung in Westdeutschland (mit 13,4%) und in Ostdeutschland (mit 13,3%) fast gleich hoch (vgl. Seils/Baumann 2019, S. 7). In den folgenden zwei Jahrzehnten stieg der Anteil der atypischen Beschäftigung in Westdeutschland jedoch deutlich stärker an als in Ostdeutschland. Im Jahr 2017 lagen die Anteile der atypischen Beschäftigung in den westdeutschen Bundesländern zwischen 19,6% in Bayern und 26,2% in der Hansestadt Bremen. Demgegenüber belaufen sich die Anteile atypischer Beschäftigung in den ostdeutschen Bundesländern zwischen 14,0% in Brandenburg und 17,6% in Mecklenburg-Vorpommern. (vgl. Seils/Baumann 2019, S. 7). Der deutlich höhere Anteil der atypischen Beschäftigung in den westdeutschen Bundesländern ist wesentlich auf die Zunahme der Erwerbstätigkeit der Frauen in Westdeutschland zurückzuführen, die häufiger atypisch beschäftigt sind (vgl. Seils/Baumann 2019, S. 7).

Abbildung 32:

Anteil atypischer Beschäftigung in den Bundesländern Deutschlands in den Jahren 1991 und 2017. Datenquelle: Seils/Baumann 2019, Appendix, S. 12. Eigene Abbildung.

Ein wichtiger Grund für den starken Anstieg atypischer Beschäftigungsformen ist insbesondere die steigende Dynamik globaler Märkte, die schnellere Reaktionszeiten auf sich verändernde Marktanforderungen bedingt. Um als Unternehmen wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen die Produktionsprozesse, aber auch die Beschäftigten schneller an sich verändernde Anforderungen angepasst werden können, d.h., der Flexibilisierungsbedarf der Unternehmen steigt (vgl. Raeder/Grote 2001, S. 8). Atypische Beschäftigungsverhältnisse sind für Unternehmen häufig auch kostengünstiger, nicht nur aufgrund der geringeren Vergütung, sondern auch aufgrund der geringeren Schutzrechte wie z.B. Kündigungsschutzrechte. Dadurch können sich Unternehmen in konjunkturell schlechteren Zeiten schneller von ihren Mitarbeitern trennen, als dies bei unbefristeten Normalarbeitsverhältnissen mit umfassenden arbeits- und sozialrechtlichen Schutzrechten möglich wäre. Unternehmen nutzen insbesondere die Arbeitnehmerüberlassung (ZeitarbeitZeitarbeit) und die befristete Beschäftigung als Instrumente, um flexibel auf Marktentwicklungen reagieren zu können (vgl. Statistisches Bundesamt 2012). Mit Hilfe atypischer Beschäftigungsverhältnisse soll aber auch eine Flexibilisierung und Deregulierung des ArbeitsmarktesFlexibilisierung und Deregulierung des Arbeitsmarktes erreicht werden, um schneller mehr Arbeitssuchende wieder in Beschäftigungen zu bringen (vgl. Preißing 2010, S. 197).

Die Zunahme atypischer Beschäftigungsverhältnisse mag für die Unternehmen und die Wirtschaft auf den ersten Blick positiv sein. Allerdings kann sich dadurch auch eine Segmentierung des ArbeitsmarktesSegmentierung des Arbeitsmarktes entwickeln, hin zu einer Trennung zwischen dauerhaft Beschäftigten in Normalarbeitsverhältnissen und unregelmäßig Beschäftigten in atypischen Beschäftigungsformen (vgl. Preißing 2010, S. 198). Für die von atypischen Beschäftigungsverhältnissenatypische Beschäftigungsverhältnisse Betroffenen können sich daraus viele negative berufliche und private Auswirkungen ergeben, wie z.B. unsichere, zeitlich begrenzte Arbeitsverhältnisse mit geringem Entgelt, unzureichender soziale Absicherung und sozialer Stigmatisierung.

2.4.3.5 Prekäre Beschäftigung

Von der atypischen Beschäftigung muss die prekäre Beschäftigungprekäre Beschäftigung abgegrenzt werden. Der Begriff „prekär“ kommt aus dem Französischen und bedeutet unsicher, heikel oder bedenklich. In der Arbeitswelt wird der Begriff „prekäre Beschäftigungsverhältnisse“ für diejenigen Beschäftigungen verwendet, die sozialrechtlich und arbeitsrechtlich nur unzureichend abgesichert sind, meist nur ein geringes, nicht existenzsicherndes Einkommen ermöglichen und daher ein hohes Armutsrisiko aufweisen. Dabei sinkt das Schutz-, Einkommens- und soziale Integrationsniveau der prekär Beschäftigten unter ein Niveau, das in der gegenwärtigen Gesellschaft als Normalstandard angesehen wird (vgl. Dörre 2005, S. 252)

Weitere Merkmale prekärer Beschäftigungen können unregelmäßige oder nicht deutlich begrenzte Arbeitszeiten, kaum oder gar keine Durchführung im Unternehmen des Arbeitgebers, keine Weisungsgebundenheit an den Arbeitgeber sowie eine unzureichende Einbindung in die sozialen Sicherungssysteme (Kranken-, Sozial-, und Pflegeversicherung) als auch nur begrenzte soziale Schutzrechte (z.B. Kündigungsschutz) sein. (vgl. Destatis Atypische Beschäftigung 2020). Prekäre Beschäftigungen können auch mit Sinnverlusten, hoher Planungsunsicherheit und gesellschaftlichen Anerkennungsdefiziten verbunden sein. Grundsätzlich werden alle Beschäftigungen als prekär bezeichnet, die eins oder mehrere der oben genannten und auch in der Abbildung 33 zusammengestellten Merkmale einer prekären Beschäftigung aufweisen. Dabei steigt der Grad der Prekarisierung eines Beschäftigungsverhältnisses mit der Anzahl der als prekär eingestuften Kriterien (vgl. Preißing 2010, S. 200).

Wesentliche Merkmale und mögliche Auswirkungen prekärer Beschäftigungprekärer Beschäftigung sind in der Abbildung 33 zusammengefasst.

Abbildung 33:

Merkmale eines atypischen Arbeitsverhältnisses. Quelle: Eigene Abbildung, in Anlehnung an Preißing 2010, S. 207

Neben objektiven Merkmalen einer prekären Beschäftigung sind auch subjektive Aspekte bzw. Erlebensqualitäten sowie gesellschaftliche Konsequenzen aus den Beschäftigungsverhältnissen für den Grad einer prekären Beschäftigung zu berücksichtigen. Sie beeinflussen entscheidend die persönliche Bewertung der eigenen Arbeits- und Lebenssituation. Brinkmann et al. (2006) haben basierend auf eigenen Forschungsergebnissen fünf Dimensionen identifiziert, die eine prekäre Beschäftigung kennzeichnen (vgl. Tabelle 7).


Dimension Prekariat
1. reproduktiv-materiell Haupterwerbstätigkeit bietet kein existenzsicherndes Einkommen und / oder damit keine Teilnahme am kulturellen Leben
2. sozial-kommunikativ Keine gleichberechtigte Integration in soziale Netzwerke am Arbeitsplatz und darüber hinaus; soziale Kreise bleiben aufgrund der ausgeübten Tätigkeit verschlossen; soziale Netze der Familie / Verwandtschaft müssen die Belastungen und Restriktionen der Tätigkeit ausgleichen
3. rechtlich-institutionell Tendenzieller Ausschluss des Beschäftigten von institutionell verankerten sozialen Rechten und Partizipationschancen wie Tarifrechte, Mitbestimmung, Betriebsvereinbarungen oder gesetzliche Schutzrechte
4. Status und Anerkennung Tätigkeit verhindert gesellschaftliche Anerkennung und /oder ist schlimmstenfalls mit sozialer Missachtung verbunden.
5. Arbeitsinhalt Tätigkeit ist mit dauerhaftem Sinnverlust verbunden oder mit krankhafter Arbeitswut, die zum Verlust des Privatlebens führen kann.

Tabelle 7:

Dimensionen prekärer Beschäftigung. Quelle: vgl. Brinkmann et al 2006, S. 18, zitiert nach Preißing 2010, S. 200

Die beruflichen und privaten Auswirkungen prekärer Beschäftigungsverhältnisse können sehr vielfältig sein. Zu möglichen beruflichen Auswirkungen zählen eine geringe Entlohnung, unzureichende Arbeits- und Sozialschutzmechanismen, keine oder nur geringe Mitbestimmungsrechte, eine soziale Stigmatisierung im Kollegenkreis, unzureichende berufliche Weiterbildungs- und Entwicklungsmöglichkeiten sowie die Unsicherheit hinsichtlich der weiteren Beschäftigung bzw. die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren. Auch auf das Privatleben wirken sich prekäre Beschäftigungsverhältnisse häufig negativ aus. Aufgrund der hohen Beschäftigungsunsicherheit und des geringen Einkommens ist für viele prekär Beschäftigte eine individuelle längerfristige Planbarkeit der eigenen nächsten Lebensphasen kaum möglich. „Die Unsicherheit des eigenen Erwerbsverlaufs, verbunden mit geringem Einkommen und auch der Möglichkeit von Arbeitslosigkeit, führt zu einer fehlenden Planbarkeit der Familiengründung, des Wohnungsbaus oder einer persönlichen Qualifikationsphase. Die Gefahr der Altersarmut aufgrund sinkender, individueller Versorgungsansprüche, wie der Rente, ist groß.“ (Preißing, 2010, s. 198.) Insgesamt weisen prekäre Beschäftigungsverhältnisse ein hohes berufliches, gesellschaftliches und privates DesintegrationspotenzialDesintegrationspotenzial auf (Dörre 2005a, S. 6), das im schlimmsten Fall zu einer gesellschaftlichen und beruflichen Ausgrenzung der Betroffenen führen kann (vgl. Castel 2000; Vogel 2003, S. 54).

Das Desintegrationspotenzial prekärer Beschäftigungsverhältnisse verdeutlicht auch das Zonenmodell von CastelZonenmodell von Castel (vgl. Castel 2000), das von Vogel (vgl. Vogel 2003) weiterentwickelt wurde. Vogel unterscheidet drei Zonen beruflicher Integration bzw. Ausgliederung (vgl. Vogel 2003, S. 54).

 die Zone der Integration

 die Zone der beruflich-sozialen Gefährdung

 die Zone der Ausgliederung

Abbildung 34:

Zonenmodell der Desintegration. Quelle: eigene Abbildung in Anlehnung an Preißing 2010, S. 202.

Die beiden Außenbereiche des Zonenmodells werden durch normale Arbeitsverhältnisse in der Zone der Integration und die Arbeitslosen in der Zone der Ausgliederung bzw. Ausgrenzung abgebildet. Dazwischen befindet sich die Zone der Gefährdung, die unterschiedliche unsichere Beschäftigungsverhältnisse mit prekärem Potenzial umfasst. Empirische Untersuchungen belegen, dass die Zone der Integration in den letzten Jahren deutlich geschrumpft ist, wohingegen die Anzahl und Arten unsicherer und prekärer Beschäftigungsverhältnisse erheblich angestiegen sind. Damit verbunden ist die Angst vieler unsicher Beschäftigter, in die Zone der Ausgliederung zu rutschen (vgl. Dörre et al. 2005; Fuchs 2006).

Häufig finden sich prekäre Beschäftigungen im Niedriglohnsektor, der als Instrument zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und als möglicher Übergang der Beschäftigten in den ersten Arbeitsmarkt auch politisch gefördert wird, was häufig jedoch nicht gelingt. (vgl. Prekäres Beschäftigungsverhältnis).


Praxisbeispiel: „Niedriglöhner sterben früher“ Unter dieser Überschrift veröffentlichte die IG Metall am 06.01.2012 einen Artikel, der auf die geringere Lebenserwartung von Geringverdienern aufmerksam macht. So hat die Deutsche Rentenversicherung errechnet, dass sich die Lebenserwartung von Geringverdienern im Vergleich zu vor zehn Jahren im Durchschnitt um zwei Jahre verkürzt hat. Betrug im Jahr 2001 die Lebenserwartung von Männern im Durchschnitt noch 77,5 Jahre, sank sie im Jahr 2011 auf 75,5 Jahre. In den neuen Bundesländern sank die Lebenserwartung bei Männern sogar um 2,6 Jahre im Vergleich zu 2001. Bedenklich ist diese Entwicklung umso mehr, weil unbefristete Normalarbeitsverhältnisse immer seltener werden. Im Gegenzug steigt der Anteil an befristeten Beschäftigungsverhältnissen mit nur geringem Einkommen sowie an prekären Beschäftigungsverhältnissen. Im Jahr 2011 arbeiteten in Deutschland beinahe sieben Millionen Menschen in Minijobs. Die steigende Anzahl an Geringverdienern führt dazu, dass immer mehr Menschen nicht mehr (gut) von ihrem Einkommen leben können, was sich u.a. in geringeren Ausgaben für Vorsorgeleistungen, Gesundheitsleistungen oder auch im eigenen Konsumverhalten äußert. So steigt auch die Anzahl der Erwerbstätigen, die in zwei oder mehr Minijobs arbeiten, um ihre Existenz zu sichern. Andererseits steigt die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes und einer anschließenden Arbeitslosigkeit bzw. einer kaum existenzsichernden, vielleicht auch befristeten Beschäftigung. Auch diese Angst wirkt sich oft gesundheitlich negativ aus.

Praxisbeispiel 1:

Niedriglohnsektor drückt die Lebenserwartung. Quelle: IG Metall 2012. Eigene Darstellung.

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