Read the book: «Bergmütter, Quellfrauen, Spinnerinnen», page 3

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Die Menschen der frühen, vorgeschichtlichen Zeit erfuhren gewisse Erhebungen und Berge als Orte der Urmutter, gar als eine Landschaftsahnin: eine irdische und himmlische Macht und zugleich Gebieterin der Unterwelt. So gilt wie viele andere Berge auch der Mount Everest als Berggöttin. Die Himalaya-Völker nennen sie Chomolungma, was «Mutter des Universums» bedeutet; sie verehren sie als «Weisse Himmelsgöttin», als «Weisse Gletscherherrin».15 In ihrem Buch «Berggöttinnen der Alpen» erschliesst uns Heide Göttner-Abendroth diese Sicht für das Matterhorn.16 Die manifestierte Gestalt der Bergmutter Matterhorn kann man am besten vom Gornergrat aus wahrnehmen. Sie ähnelt den stilisierten Göttinnenfiguren aus der Steinzeit, wie sie zu Tausenden in Alteuropa gefunden wurden: dreieckiger Kopf, verkürzte Arme, breite Hüften, mit oder ohne Beine.

Archäologische Funde belegen, dass sich in dieser Bergregion seit Jahrtausenden Menschen aufgehalten haben: als Wildbeutergruppen, als Hirten, als Reisende.17 Sie kamen von Norditalien her, wo in der Jungsteinzeit sesshafte matriarchale Kulturen blühten. Nach und nach wurde die Route in die Zermatter Bergregion zu einem festen Weg weiterentwickelt. Dieser ging von der Poebene über das Aostatal durchs Valtournenche zum Theodulpass hinauf und führte am Fusse des Matterhorns vorbei über den Col d’Hérens ins Val d’Hérens und dann ins Rhonetal. Hier gab es schon im 6. Jahrtausend v. Chr. bäuerliche Siedlungen. In der Mittelsteinzeit, also etwa 3000 Jahre vor unserer Zeitrechnung, entwickelte sich bei der heutigen Stadt Sitten eine der bedeutendsten Grab- und Sakralstätte Alteuropas.18

Sagen berichten von einem goldenen Zeitalter: Wiesen, Fruchtbäume und Wälder wuchsen bis weit oberhalb der heutigen Waldgrenze, und ganze Herden von Gämsen, Steinböcken, Hirschen bevölkerten die hochalpinen Gebiete. Die Passübergänge waren eisfrei, und die Route vom Aostatal über Zermatt bis ins Rhonetal soll an saftigen Weiden, an Dörfern und Städten vorbeigeführt haben.19 Das goldene Zeitalter, das zeitlich nicht genau verortet werden kann, ging jäh zu Ende, als sich erneut eine Kältephase einstellte, Alpen vereisten, die Gletscher zu wachsen anfingen und Dörfer bedrohten. Belegt ist eine solche Periode relativ kühlen Klimas, die sogenannte Kleine Eiszeit, von Anfang des 15. Jahrhunderts bis in das 19. Jahrhundert hinein. Sie führte zu schlechten Ernten, Hungersnöten, Seuchen und sozialen Spannungen. Es gibt im ganzen Alpenraum eine Fülle von Sagen, die sich auf diese Klimaveränderungen beziehen.

Bei Zermatt, oberhalb des Weilers Zmutt, sind noch heute zwei grosse Steinplatten mit vielen Schalen und Ritzungen zu sehen, die zum Teil aus uralter Zeit stammen und wohl auch auf eine kultische Verwendung schliessen lassen.20 An den vermutlich vorgeschichtlichen Kultstätten von Blatten, Furi, Findeln und Schwarzsee stehen heute Marienkapellen, die durch ihre Atmosphäre und besondere Mariendarstellung immer noch auf die Berggöttin hinweisen.21

Die Hohbachspinnerin

Goms

Noch im letzten Jahrhundert berichteten die alten Leute im Goms oft von der Hohbachspinnerin. Sie soll auf der Hohbachalp südlich von Reckingen gewohnt haben und war ein gar seltsames Wesen, selbst die Alpknechte fürchteten sich vor ihr; niemand wollte mehr mit den Tieren dort hinaufgehen.

Wie man erzählte, soll die Hohbachspinnerin ein furchtbarer Anblick gewesen sein: ein grimmiges, altes Weib, nur noch Haut über Knochen, mit langen Zähnen, und auf ihrer Schulter sass eine schwarze Katze mit feurigen Augen. Ganz unerwartet sei die Frau plötzlich vor einem aus dem Boden gewachsen – vor allem dann, wenn man lieber versteckt hielt, was man gerade vorhatte.

Immer, wenn man die Alte traf, war sie an der Arbeit mit einer Handspindel. In ihrem Zuhause soll sie ein weiteres, ganz besonderes Spinnrad besessen haben. Die Fäden, die sie damit spann, schienen einen erheblichen Einfluss auf das Schicksal der Menschen im Tal zu haben. So jedenfalls erzählten es die Alten. Doch wie sehr man die Spinnerin auch fürchtete, die Hohbacherin tat eigentlich niemandem etwas zuleide. Sie strafte auch die ungehorsamen Kinder nicht, denen man oft mit ihr drohte. Gern erschreckte sie jedoch faule Spinnerinnen oder solche, die über dem Dorfklatsch das Arbeiten vergassen. Oder sie tadelte mitunter Frauen, welche die Spinnzeiten nicht einhielten und noch nachts und während der Festzeiten nicht aufhören konnten, die Wirtel zu drehen oder das Rad zu treten. Manchmal kam es vor, dass ein Mädchen für einige Zeit aus dem Dorf verschwand und es sich später herausstellte, dass es bei der Hohbacherin gewesen war und dort spinnen und andere wichtige Dinge gelernt hatte.

Die Katze der Hohbachspinnerin aber war ein teuflisches Tier. Kaum trat eine Kuh in ihre Nähe, sprang sie diese an und biss sie in den Hals. Und meist war das betreffende Tier nach zwei Tagen tot. Es gab Sommer, da mussten einige Kühe auf diese Weise dran glauben. Kein Wunder also, dass niemand mehr mit den Tieren auf die Hohbachalp hochsteigen wollte.

Die feindliche Katze war auch im Tal unten gefürchtet, und die Leute wussten sich nicht mehr zu helfen. In ihrer Not baten sie einen frommen Kapuzinerpater um Hilfe. Dieser riet ihnen, vier Holzkreuze zu zimmern, sie vom Pfarrer segnen zu lassen und schliesslich auf der Alp einzugraben, an jeder Ecke eines. Zudem sollten in der Stalenkapelle vier Messen gelesen werden.

Natürlich vollzogen die Gommer, was ihnen vom Kapuziner aufgetragen worden war. Und siehe da – die bösartige Katze verschwand. Doch mit ihr auch die Hohbachspinnerin. Niemand hat sie seither je wieder gesehen.

Nach Guntern 1979, Nr. 1598

1885 wurde diese Sage im Jahrbuch des Schweizer Alpen-Clubs (SAC) erwähnt. Sie schien eine der bekanntesten Erzählungen der Gegend zu sein, und die Walliserinnen sahen in der Hohbachspinnerin eine Arme Seele, die für ihre Sünden büssen musste. Der Autor des SAC-Beitrags entdeckte jedoch in der emsig spinnenden Frau mit ihrer Katze einen Anklang an den uralten Berchta-Hulda-Mythos.22

Tatsächlich spricht vieles dafür, dass die Hohbachspinnerin verwandt ist mit der Berchta-Hulda (auch Bertha/Percht/ Holda/Hollermutter) oder eben mit Frau Holle, die wir aus dem gleichnamigen Märchen kennen. Um diese Gestalt mit den vielen Namen ranken sich zahlreiche weitere Mythen und viel Brauchtum in den Bergen Mitteleuropas. Dabei zeigt Holle neben ihren langen Zähnen mal ihren lieblichen, mal ihren garstigen Charakter.

Nach Ansicht der Sagenforschung geht die Gestalt der Holla bis in die Steinzeit zurück und bezeichnet niemand anderen als die Grosse Ahnfrau. Spätere, historisch überlieferte Indizien sprechen für die Annahme, dass Frau Holle die regionale Verkörperung einer uralten weiblichen Erd- und Himmelsgöttin ist, wie man sie überall auf der Welt unter den verschiedensten Namen verehrt hat. Holle/Hold/Hel, ihr Name im deutschen Sprachraum, beinhaltet das Verhüllte, Verhohlene, aber auch das Helle. Ihr weiterer Name Bercht/Berta/Percht bedeutet glänzend, leuchtend – wie die Gletscher und Schneefelder. Sie ist wild wie die Berge selbst und regiert über die Elemente, das Wetter und die Jahreszeiten.

In Bayern, Schwaben und Franken sowie im Tirol und Elsass wurde sie als Hausgöttin verehrt, die den Pflanzen, Tieren und Menschen Schutz und Heilung gibt. Die Holle hat den Menschen ausserdem zahlreiche Kulturtechniken wie das Spinnen und Weben gebracht – so glaubten es unsere Vorfahrinnen bis tief ins Mittelalter hinein.

Frau Holle lebt nach altem Volksglauben sowohl auf ihrem Berg als auch im unterirdischen Lichtreich. Die Menschen verehrten in ihr die Güte von Mutter Erde und das strahlende Himmelslicht zugleich. Sonnenschein fliesst von ihrem Haar, wenn sie es kämmt, die Welt ist von Nebel umhüllt, wenn sie Feuer macht und kocht, Wolken sind ihre Schafe, Regen fällt, wenn sie ihr Waschwasser auskippt, Schnee, wenn sie ihre Federbetten ausschüttelt. Frau Holles Himmelswagen wird von Katzen und Kühen gezogen. Mit diesem rast sie im Sturm durch die Lüfte und zerstört, was keine Kraft mehr hat.

Wie alle Muttergöttinnen ist die Holle zuständig für Leben und Tod. So kann sie verschiedene Gestalten annehmen. Mal ist sie jung und schön, ein andermal alt und hässlich. Sie beschenkt die Menschen, stellt sie auch auf die Probe, warnt oder droht. Sie ist nicht unversöhnlich und zeigt denjenigen ihre Huld, die ihren natürlichen Gesetzen folgen.

Die Kirche versuchte, die Holle/Percht zu verbieten. Noch in den Hexenprozessen des 17. Jahrhunderts wurden die Angeschuldigten danach gefragt, ob sie Kontakt zu ihr hätten. Da die Ausrottung der alten Göttin nicht vollständig gelang, wurde sie zur heiligen Bertha umgetauft oder dämonisiert: Sie galt als Schreckgespenst, das die Unfolgsamen verfolgt; die Katze, ihr Begleittier, verwandelte sich in ein teuflisches Monster.

Bald wurde die Geschichte der Frau Holle, eines der ältesten Märchen überhaupt, nicht mehr im eigentlichen Sinn verstanden. Sie entwickelte sich zur erzieherischen Droherzählung und sollte wilde Mädchen zu braven und tüchtigen Hausfrauen machen. Erst in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entdeckten Frauen die Holle wieder als Grosse Ahnfrau.

Die singende Tanne

Goms

In der Zeit, als es in der Schweiz noch besonders kunstreiche Holzschnitzer gab, lebte auch im Walliser Dorf Reckingen ein solcher, der sehr filigrane Sachen fertigen konnte.

Eines Tages, als er wieder in seiner Werkstätte sass und die Glocke von Reckingen das Ave durchs Tal läutete, hob er lauschend den Kopf, denn er glaubte, hoch oben, im Hohbachwald, ein wundersames Singen zu hören. Als das Läuten vorbei war, vernahm er jedoch nichts mehr. Er erzählte den Leuten im Dorf vom seltsamen Erlebnis. Als am nächsten Tag die Glocken wieder erklangen, lauschte er mit noch vielen anderen zum Bergwalde empor. Alle hörten nun das wundervolle Singen. Von da an vernahmen die Reckinger die geheimnisvollen Melodien jeden Tag beim Ave-Läuten.

Der Holzschnitzer aber wollte wissen, woher das Singen komme, und so stieg er immer wieder zum Hohbachwald hinauf, so lange, bis er endlich eine Riesentanne gefunden hatte, aus der die wunderbaren Klänge kamen. Er teilte es den Talgenossen mit, die ebenfalls die singende Tanne aufsuchten und bestaunten.

Doch der Holzschnitzer war damit nicht zufrieden. Die singende Tanne liess ihm keine Ruhe. Und eines Tages wurde sie auf sein Verlangen hin gefällt und zu Tal befördert.

Da wählte er das schönste astlose Stück des gewaltigen Baumes aus und wollte aus diesem Holz das Bild der Jungfrau Maria schnitzen. Nun arbeitete er Tag und Nacht an diesem Werk. Seine Aufmerksamkeit galt nur noch der immer deutlicher und schöner aus dem Holzstück herauswachsenden Gestalt. Und nach Jahr und Tag war ihm das Werk meisterlich gelungen. Wer immer das Bild in seiner Werkstatt sah, der sagte, dass seiner Jungfrau an himmlischer Anmut und seelischer Hoheit weit und breit kein Marienbildnis gleichkomme.

Jetzt war der Holzschnitzer zufrieden. Er schenkte das Bildnis der Kirche zu Reckingen. In feierlicher Prozession trug man die herrliche Holzstatue in die Kirche. Wie sie aber auf den Altar gestellt wurde, siehe, da öffnete mit einem Male das anmutsvolle Marienbild den Mund, und noch einmal hörten die Leute die wundersamen, lang vermissten Gesänge, die früher aus der Riesentanne vom Bergwald herabgekommen waren. Sie fielen auf die Knie nieder und priesen die Güte und Milde der Jungfrau Maria unter Freudentränen.

Nach Lienert 1915

In alten Zeiten liess sich die Ahnfrau einer Gegend bisweilen in einem mächtigen Baum nieder oder sie zeigte sich den Menschen in ihrer Baumgestalt.

Das Wissen um die Macht der Bäume ist fest in unserem Kulturgut verankert. In der germanischen Mythologie verkörpert die Esche Yggdrasil gar den gesamten Kosmos. Die alten Völker verehrten die Bäume, weil sie Nahrung, Wärme, Schutz und Material für Werkzeuge lieferten. Besondere, meist einzeln stehende Bäume waren so heilig, dass sie weder gefällt noch ihrer Zweige beraubt werden durften. Sie waren Wohnstätte von göttlichen Wesen oder von den Ahnen, die von hier aus Segen und Fruchtbarkeit übers Land brachten und den Menschen mit Rat zur Seite standen.

Bäume spendeten nicht nur Schatten, sondern auch Leben: Junge Frauen umarmten die Bäume und verhalfen so einer Ahnenseele, die sich im Baum niedergelassen hatte, wieder ins irdische Dasein. Ein Beispiel ist der auf Seite 39 erwähnte Kindlibaum (Kinderherkunftsbaum) bei Kippel im Lötschental. Rabiate Missionare des frühen Mittelalters liessen viele solcher heiligen Bäume fällen. Doch im Verborgenen wurde der uralte Baumkult noch lange weiter gepflegt, auch wenn in der Vorstellung der bekehrten Heiden die Grosse Ahnfrau oder die Ahnen, die im Baum wohnten, zu Armen Seelen wurden, die hier gefangen waren und für ihre Sünden büssen mussten.

Und manchmal wurde ein Ahnbaum mit einem Marienbild geschmückt. Maria sollte die Grosse Ahnfrau, die sich hier in ihrer Baumgestalt zeigte, ersetzen, und der Baum konnte weiter bestehen. Die singende Tanne von Reckingen jedoch wurde gefällt und aus ihrem Holz eine Marienstatue geschnitzt. Bildhafter kann man die Christianisierung des Ahninnenkults wohl nicht darstellen.

Das Tal der Gräfin Anna

Binntal

Vor vielen hundert Jahren wurde auch im oberen Rhonetal die Grosse Ahnfrau verehrt. Aus ihr kam alles Lebendige, sie nährte und beschützte es, und zu ihr kehrte es zurück. Das Volk erlebte sie an den Quellen, Bächen und Gletschern, in den Höhlen und Schluchten, in Felsbrocken, Hügeln und Bergen.

Im Goms wurde die Ahnfrau Gräfin Anna genannt. Ihr gehörten die schönsten Alpen von Ernen, Grengiols, dem Binn- und dem Lengtal. Diese sollen so fruchtbar gewesen sein, dass man die Kühe dreimal am Tag melken musste, und das Gras stand so hoch, dass ganze Büschel an den Spitzen zusammengeknüpft werden konnten, um auf den Wiesen Fussschlingen zu binden und einander zu necken. Ein tanzfreudiges Volk soll auf diesen Alpen gelebt haben – und keine Verordnung und keine Predigt konnte es von seinem lustvollen Tun abbringen. Auch Gräfin Anna liebte es, als Sennerin auf ihren Alpen zu verweilen, und wer ihr begegnete, kam verwandelt zurück.

So erging es auch Christine, einer Frau aus Schmidigehischere. Sie war eine der stärksten Käseträgerinnen im Binntal und fürchtete sich nicht davor, auch in den entlegensten Hütten Vergessenes zu holen oder schweren Ballast an den Ort zu schleppen, wo er benötigt wurde.

So war sie eines Tages spät im Herbst noch unterwegs im hinteren Binntal. An dem Ort, der Wyssbach heisst, dort, wo die junge Binna mit dem Turbewasser zusammenfliesst, setzte sich Christine auf eine Steinplatte, um ein wenig zu rasten. Sie beobachtete die Erdgeistlein in den weissen Sandhügeln und die lustigen Wasserwesen im milchig-weissen Bach, wie sie sich vor Freude über die Steine kugelten.

Da kam plötzlich eine Frau in alter Tracht daher und wies Christine an, ihr zu folgen. Sie stand auf und die beiden stiegen, ohne ein Wort zu wechseln, eilig die Kehren durch den weissen Sand hinauf, Richtung Albrunpass.

Auf einem Moränenhügel machte die geheimnisvolle Frau halt. Christine kannte den gewaltigen Felsbrocken, der hier vor langer Zeit zum Stillstand gekommen war. Eine Reihe von Bohrlöchern ziert seine Nordflanke, und auch der Stein, welcher den Felsbrocken stützt, weist kleine Schalen auf. Christine erinnerte sich an die Warnung des Pfarrers, sich von diesem Stein fernzuhalten.

Doch genau hierhin sollte sie sich setzen, so wies die seltsame Frau sie an und verschwand. Kaum hatte Christine sich in einer Ausbuchtung des Felsens niedergelassen, versank sie in einen wohligen Zustand völliger Leere. Die Nacht brach ein – Christine spürte weder die Kälte, noch machte sie sich Gedanken über ihr Fortbleiben von zu Hause. Sie fühlte sich behütet, und der mächtige Felsbrocken war wie ein Schiff, das sie sicher durch das Sternenmeer steuerte. Ein sanfter Sichelmond wachte über ihr.

Noch vor Sonnenaufgang stand Christine auf und blickte gegen Osten zum Ofenhorn. Es ragt wie mit zwei gewaltigen Brüsten zum Himmel. Weiss stürzen die Milchbäche von der Höhe herunter, sammeln sich in einem feuchten, sumpfigen Bauchkessel und schäumen dann zwischen gewaltigen Felsschenkeln hinunter ins Tal. Da lag sie: Gräfin Anna – die Bergmutter des Tals.

Eine wundersame Melodie schwoll an. Sie schien von weiter oben zu kommen, vom Ochsenfeld, einer baumlosen, verwilderten Trümmerwüste. Christine folgte dem Klang, und plötzlich waren da noch andere Frauen, alle in wunderschönen, alten Trachten. Sie tanzten zwischen den Felsblöcken und Steinen umher. Mit einem Bergkristall, den jede bei sich trug, klopften sie an das Gestein, weckten Töne und Melodien, die hier verborgen lagen. Und die Steine sangen ihre Lieder: von Sonne, Mond und Sternen, von Erde, Feuer, Wasser und Luft, von Entstehen und Vergehen, von Erstarrung und Verwandlung.

Inmitten dieses Klangteppichs erstrahlte der mächtige Felsbrocken auf dem Moränenhügel in einem ganz besonderen Glanz. In Farbkaskaden sichtbar, schien er die Kraft der Töne zu sammeln und sie gebündelt weit über Berge und Täler zu schicken. Die Alpen des Binntals erglühten, die Sonne ging auf. Und Christine war, als ob sie die Sprache der Steine, Kristalle und auch der Kräuter und Blumen verstünde.

Viel später, als die Sonne wieder am selben Ort unterging wie bei ihrer Ankunft, wusste Christine, dass ihre Zeit beim grossen Stein abgelaufen war. Am Morgen nahm sie freudig den Rückweg nach Schmidigehischere unter die Füsse. Doch als sie im Dorf ankam, sahen die Menschen sie erschrocken an. Ein ganzes Jahr war vergangen, seit Christine aufgebrochen war, und man hatte nicht mehr damit gerechnet, sie nochmals zu sehen. Christine versuchte zu erzählen, was sie erlebt hatte. Doch niemand wollte ihrer Geschichte Glauben schenken. Man fürchtete sich vor ihr, und die meisten Leute mieden sie. Sie war eine andere geworden und als Lastenträgerin nicht mehr zu gebrauchen.

Noch ein Jahr ging ins Tal und die Dorfbewohner konnten sich nicht länger der Tatsache verschliessen, dass die seltsame Christine den Menschen und Tieren mit Kräutern helfen konnte, auch mit Kristallen oder mit Tönen. Wer Rat bei ihr suchte, dem weitete sich der Blick, und das Vertrauen in die Hilfe unsichtbarer Kräfte wuchs.

Auch heute noch, wenn die Zeit günstig ist und wir bereit dazu sind, soll man im Binntal Wesen treffen, die uns teilhaben lassen am Schatz des alten Wissens um die Geheimnisse der Natur und des Lebens.

Nach Guntern 1979, Nr. 65, 66, 67, 2119

Der Dolomitmarmor ist das auffälligste Gestein des Binntals. Weiss und hellgrau leuchten seine Felsen. Und milchig-weiss rauschen die Bäche zu Tal. Für die Menschen der frühen Zeiten hatten solche Erscheinungsformen der Natur ihre Bedeutung. Weisses Land galt als heiliges Land, Beispiele sind die Kreidefelsen bei Dover in Südengland und auf der Insel Rügen oder die Kalkhänge des Juras.

Es war die Erd- und Mondgöttin selbst, die sich hier in den Formen und Farben der Landschaft zeigte, die sie mit ihrem Licht zum Strahlen brachte. Sie war die Grosse Ahnfrau, die für die Lebensgrundlagen sorgt – vor allem für Wasser. Anna, der Name der Ahnfrau, ist denn auch mit diesem Element in Verbindung zu bringen (siehe S. 32 und 39).

In christlicher Zeit sind die lebensfördernden und beschützenden Eigenschaften der Urahnin oft auf Heilige oder auf eine historische Person übertragen worden. Das wird auch mit Anna, der Ahnin im Goms, geschehen sein – sie wurde im Laufe der Zeit zur Gräfin. Doch auch diese ist historisch kaum fassbar, und die Geschichten um sie wurden immer wieder ein wenig anders erzählt. Einmal zeigt sich Anna als die wohltätige Tochter eines Junkers aus dem 14. Jahrhundert. Dann wieder erscheint sie als die untröstliche Verlobte eines Ritters, die sich aus lauter Gram über seinen Tod in die Berge zurückzieht. In einer anderen Variante ist sie eine der drei Töchter, die im Goms Land erben und es unter sich mittels Losentscheid aufteilen: Eine bekommt das Erner Feld, die andere den Feldboden und die dritte das Ochsenfeld, hoch oben am Albrunpass.

Das Motiv der Schwestern, die Land besitzen, kommt auch in anderen Sagen im Alpenraum vor. Es verweist womöglich auf mutterrechtliche Zeiten. Interessanterweise sind auf alten Landkarten im Binntal Flurnamen verzeichnet wie Damenschloss und solche, die direkt mit Anna in Verbindung gebracht werden. Auf der Alp Furgge trägt ein Hügel den Namen Annabiel, und die Bergkante am Nordrand des Hochplateaus, die sich vom Übergang der Furgge bis zum Breithorn hinzieht, heisst Annagrat.23

Eines erzählen alle diese Geschichten und Verortungen: Gräfin Anna ist gänzlich mit der Landschaft verbunden und mit ihrem Volk, das es gut hat mit ihr. Der Teufel selbst macht dem glücklichen Leben ein Ende, indem er das Vieh wegtreibt. So erzählt es eine weitere Sage. Selbst Gräfin Anna soll bei diesem Aufstand zu Tode gekommen sein – ein eindrückliches Bild des Untergangs einer alten Religion.

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