Das Menschenbild für die Heilpädagogik

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Solange die Ziele nicht festgelegt sind, ist der Begriff «Vermenschlichung» formal und unbrauchbar. Wenn aber die Ziele festgelegt sind, handelt es sich um einen wertenden Begriff. Dadurch unterscheidet er sich vom Begriff «Entwicklung», beziehungsweise er ist eine Abkürzung der Wendung «Entwicklung zu den und den Zielen».

Da es in diesem Buch um die Beantwortung von normativen Fragen geht, komme ich nicht darum herum, Wertentscheidungen zu treffen. Für eine heilpädagogische Anthropologie halte ich die Entscheidung für den Wert des gleichen Anspruchs aller Menschen auf Vermenschlichung für absolut notwendig. Diese Wertentscheidung bedeutet: Jeder Mensch soll das gleiche Recht auf Hilfe zur gleichen Vermenschlichung haben. Die Wertentscheidung bedeutet, dass jedes Menschenbild unbrauchbar und verwerflich ist, welches zweigeteilt ist: Einerseits ein Menschenbild für die Nicht-Behinderten, die «Normalen», und andererseits ein Menschenbild für die Behinderten, die «Anormalen». Allgemeiner formuliert bedeutet unsere Wertentscheidung: Es darf keine gruppen- oder klassenspezifische Vermenschlichung geben. Ziele der Vermenschlichung, welche einer Elite reserviert bleiben, sind als fragwürdige Ziele aus unserem Menschenbild auszuscheiden.

Es geht im Folgenden in erster Linie um meine persönliche Suche nach einer Bestimmung des menschlichen Seins und Sollens, die im gleichen Masse für mich selbst und für andere Gültigkeit haben kann. Gleichzeitig hege ich die Hoffnung, dass die Niederschrift dieser zunächst persönlichen Angelegenheit auch als Anregung für andere Heilpädagogen dienen wird. Wir können mit unseren Nöten nicht einfach Philosophen und Theologen als Spezialisten befragen, sondern die Befragung geht zuallererst an uns selbst.

Ich gehe ganz unwissenschaftlich von der Frage an mich selbst aus: Wann habe ich selbst das Gefühl, auf dem Wege der Vermenschlichung zu sein und erfülltes Menschsein zu erleben? Und wann habe ich den Eindruck, dass andere Menschen ein ähnliches Gefühl haben? Einen ersten Antwortversuch habe ich bereits im vorherigen Kapitel angedeutet: Ich habe den Eindruck, jeweils dann einem erfüllten Menschsein näher zu kommen, wenn ich der Überzeugung sein kann, dass ich mir selbst treu bleibe. Oder anders ausgedrückt: Ich glaube, dass man dem Ziel der Vermenschlichung dann näher kommt, wenn es einem gelingt, das eigene Leben als etwas in sich Zusammenhängendes zu empfinden, gedanklich zu erfassen und zu gestalten. Dieses Erlebnis der Einheitlichkeit der eigenen Person nenne ich das Erlebnis eigener Identität. Als Ziel der Vermenschlichung können wir somit das überdauernde Erleben von Identität bezeichnen.

Damit habe ich allerdings nur neue Wörter eingeführt. Und wir werden uns mit Fragen von der folgenden Art zu beschäftigen haben: Was ist die Identität des Menschen? Wie kann ein Mensch seine Identität finden? Bevor ich auf einzelne Identitätstheorien eingehen werde, möchte ich in einem ersten Vorgriff zeigen, auf welche grundlegende Problematik wir bei unserer Auseinandersetzung mit der Frage nach menschlicher Identität stossen werden.

2.4 Sozialbestimmte gegen personbestimmte Identität

Das Gefühl, sich selbst treu zu sein, kann man sich als das Ergebnis von zwei gegensätzlichen Prozessen vorstellen: Einerseits kann man sich die Identität des Menschen vorstellen als das Ergebnis eines harmonischen Hineinwachsens in die Gewohnheiten und Rituale einer Gesellschaft. Der sich so entwickelnde Mensch fühlt sich als Einheit, weil er die gesellschaftlichen Gewohnheiten und Rituale verinnerlicht und sein Denken, Fühlen und Handeln dadurch leiten lässt. Andererseits kann man sich die Identität des Menschen auch vorstellen als das Ergebnis einer Entwicklung zur selbständigen Bestimmung des eigenen Denkens, Fühlens und Tuns. Dabei nimmt man ein Selbst an, welches unabhängig von gesellschaftlichen Gewohnheiten ist. So gesehen würde Identität dadurch entstehen, dass ein Mensch im Denken, Fühlen und Handeln einer selbstbestimmenden Linie folgt und keinen gesellschaftlichen Zwängen unterliegt. Es ist das wichtigste Ziel dieses Buches, das Verhältnis zwischen diesen beiden gegensätzlichen Ansichten zu klären. Vorausblickend sei verraten, dass ich mich bemühen werde, das «Entweder-Oder» in ein «Sowohl-Als-Auch» überzuführen.

Die gegensätzlichen Vorstellungen von Identität sind im Verlaufe der Geschichte immer wieder zu konkurrenzierenden Erziehungszielen erhoben worden. Zu welcher Erziehungsrealität die verabsolutierte These vom Hineinwachsen in und Anpassen an die gesellschaftlichen Erfordernisse und Gewohnheiten führen kann, zeigt beispielsweise die Erziehungsgeschichte des klassischen Altertums: Sparta verstand sich als ein Staatswesen, an welches die Jugend mit allen Mitteln angepasst werden musste. Dem Ziel der Anpassung an die Anforderungen des Staates entsprach die organisierte Erziehung der Kinder und Jugendlichen: Die männliche Jugend musste mit 7 Jahren in erzieherische Formationen nach militärischem Muster eintreten. Sie wurden bis zum 20. Lebensjahr von Jugendführern mit harter Zucht gedrillt. Die Jugendlichen wurden mit unmenschlich anmutenden Mitteln abgehärtet, z.B. durch Geisselungen, Nahrungsentzug, harte Bestrafung bei kleinsten Delikten. Solche Abhärtungserlebnisse sollten die Solidarität in den Jugendgemeinschaften fördern (vgl. Reble, 1964, 18).

Zu welcher Erziehungsrealität die verabsolutierte These von der Selbstbestimmung des Menschen führen kann, finden wir vorwiegend in Erziehungsutopien, welche zwar die pädagogische Diskussion befruchtet haben, aber in ihrer Einseitigkeit Literatur geblieben sind. In erster Linie ist hierzu als Beispiel Rousseau zu nennen, der seinen Emile als einen «homme abstrait», also einen abstrakten, theoretisch konstruierten Menschen bezeichnet hatte; dadurch ist der utopische Charakter des Erziehungsbuches dokumentiert. In Rousseaus Erziehungsutopie wird das Kind den gesellschaftlichen Einflüssen entzogen, und es soll sich ausserhalb dieser Einflüsse nach seinen inneren Gesetzen zum selbständigen Menschen entwickeln. Erziehung hat hier in erster Linie Schutzfunktion: Sie soll das Kind vor den gesellschaftlichen Einflüssen schützen, welche den inneren Entwicklungsgesetzen zuwiderlaufen.

Die Vorstellung von Identität als Ergebnis des Hineinwachsens in die Gesellschaft nenne ich «sozialbestimmte Identität». Die Vorstellung von Identität als Ergebnis einer Entwicklung des individuellen Selbst nenne ich «personbestimmte Identität». Stehen wir damit vor einer Entscheidung für das eine oder das andere? Beide Möglichkeiten der Entscheidung könnten sich als unbefriedigend herausstellen: Die Entscheidung für die sozialbestimmte Identität könnte im Widerspruch zu unserer Grundentscheidung für die allgemeine Menschenwürde und die Allgemeinheit des Menschenbildes stehen; Gesellschaften sind in der Regel durch Ungleichheiten gekennzeichnet, so dass Anpassung in der Regel Anpassung an die Ungleichheiten heisst. Die Entscheidung für die personbestimmte Identität könnte uns zu realitätsblinden Utopisten machen; denn wir würden übersehen, dass Gesellschaften eigengesetzliche Organismen sind, deren Zellen aber die einzelnen Menschen bilden. Eine einzelne aus dem Organismus herausgetrennte Zelle ist kein selbständiges Lebewesen. Es ist meine Absicht, den Leser in meine Bemühungen um eine Verbindung zwischen sozialbestimmter und personbestimmter Identität einzuführen. Darauf zielen alle weiteren Überlegungen ab; Umwege im Argumentieren werden dabei unvermeidlich sein.

3. Konkretisierung der Problematik

3.1 Ein Fallbeispiel

Auf welche absonderlichen Wege Kinder und Jugendliche in ihrer Identitätssuche geraten können, möchte ich an einem Beispiel darstellen (Beispiel entnommen Hanke, Huber, Mandl 1976, 151–155). Das Beispiel handelt von einem sogenannten erziehungsschwierigen Jugendlichen. Die Merkmale, welche den Lehrern diesen Jugendlichen als erziehungsschwierig erscheinen lassen, können folgenden drei Kategorien von auffälligen Verhaltensweisen zugeordnet werden.

– Schulische Leistungsschwäche und fehlende Beteiligung am Unterricht

– Aggressives Verhalten und Missachtung der Schulordnung

– Fehlende Kontakte zu Mitschülern

Im Einzelnen wird über den Jungen folgendes berichtet: Der 14jährige Herbert ist von grosser, hagerer Gestalt und wirkt älter. Er zeigt in allen Schulfächern ungenügende Leistungen. Er beteiligt sich nicht am Unterricht, trägt nichts in seine Schulhefte ein und gibt bei Prüfungsarbeiten meistens ein leeres Blatt ab. Häufig erscheint er überhaupt nicht im Unterricht. Während der Pause ist er nicht dazu zu bewegen, das Klassenzimmer zu verlassen. Trotz des Verbots durch die Klassenlehrerin bleibt er während der Pause allein im Klassenzimmer und unterhält sich mit lauter Beatmusik aus dem mitgebrachten Kassettenrecorder. Die Klassenlehrerin bezeichnet diese Musik «grässlich».

Herberts Verhältnis zur Klassenlehrerin ist äusserst gespannt. Ihre Bemühungen, Herbert in das Unterrichtsgeschehen einzubeziehen, stossen auf passiven und aktiven Widerstand. Im Allgemeinen sitzt er während der Unterrichtsstunde teilnahmslos und geistesabwesend an seinem Platz. Wenn ihn die Lehrerin anspricht, reagiert er in der Regel mit aggressiven Äusserungen wie: «Lass mich in Ruhe, du Schwein!», «Der Mist interessiert mich nicht!», «Kümmere Dich um Deinen eigenen Dreck, alte Schlampe!» und Schlimmeres. Die Lehrerin weiss sich in diesen Situationen nicht anders zu helfen, als Herbert ebenfalls zu beschimpfen mit Ausdrücken wie: «Du fauler Strick!», «Du ungehobelter Lümmel» u.ä. und mit Mitteilung an den Rektor und an die Eltern zu drohen. In solchen Situationen ist die Klassenlehrerin von Herbert schon mehrmals tätlich angegriffen worden.

 

Herbert hat kaum Kontakt zu den Mitschülern. Diese gehen ihm nach Möglichkeit aus dem Wege. Er stösst allgemein auf Ablehnung, niemand will neben ihm sitzen. Herbert selbst scheint weder an freundschaftlichen noch an aggressiven Kontakten zu den Mitschülern interessiert zu sein. Er scheint es zu schätzen, wenn sie ihn in Ruhe lassen.

Über Herberts schulische Karriere geben Noten und Bemerkungen in den Zeugnissen einige Hinweise. Während seine Noten während der Grundschulzeit noch durchschnittlich waren, verschlechterten sie sich in der Hauptschule zunehmend. Auch die Bemerkungen über Fleiss und Aufmerksamkeit wendeten sich im Verlaufe der Schuljahre zunehmend von positiven zu negativen Urteilen. Während im Jahreszeugnis zum 2. Schuljahr noch stand: «Durch zähen Fleiss und gleichmässige Aufmerksamkeit konnte der ruhige, höfliche Schüler seine Leistungen verbessern», lautete die Eintragung vier Jahre später im Jahreszeugnis zur 6. Klasse: «Der Schüler ist in keiner Weise an der Schularbeit interessiert. Beim Unterrichtsgespräch bleibt er unbeteiligt und der häusliche Fleiss ist sehr gering». Besonders auffällig ist die Entwicklung der Zeugniskommentare zu Herberts Betragen. Während der vier Grundschuljahre lauteten die Kommentare dazu: «Sein Betragen verdient besonderes Lob» (1. Klasse), «Sein Betragen verdient Lob» (2. Klasse), «Das Betragen ist im allgemeinen sehr gut» (3. Klasse), «Der Fleiss war gut, das Betragen sehr gut» (4. Klasse). In der Hauptschulzeit wendeten sich dann die Kommentare zum Betragen zunehmend ins Negative: von «im allgemeinen sehr gut» (5. Klasse) über «meist gut» (6. Klasse) und «stellt zufrieden» (7. Klasse) bis zu «stellt nicht zufrieden» (im 1. Halbjahr der 8. Klasse). Der Kommentar im zuletzt vorliegenden Zeugnis (1. Halbjahr der 8. Klasse) liest sich wie eine Liquidation des Schülers Herbert: «Der Schüler war im 1. Halbjahr weder erzieherisch noch schulisch ansprechbar. Die Benotung des Kern- und Fachunterrichts zeigt, dass keine Mitarbeit erfolgte, und dass sein Aufsteigen in die 9. Klasse nicht möglich sein wird. Auch sein Betragen stellte nicht zufrieden.»

In Kenntnis dieser Beurteilung kann es nicht überraschen, dass anhand eines Unterrichtsbesuches über das Verhalten der Klassenlehrerin folgendes berichtet wird: Sie wird darauf aufmerksam gemacht, dass sie einige Schüler – darunter auch Herbert – ganz besonders im Auge habe. Kleinere Unterrichtsstörungen, wie Schwätzen und Unaufmerksamkeit, die sie bei anderen Schülern gar nicht bemerke oder ignoriere, fielen ihr bei diesen Schülern sofort auf und würden gerügt. – Hier wird sichtbar, wie Alltagstheorien ihre Auswirkungen auf unser pädagogisches Verhalten haben können; Zeugniskommentare können wir durchaus als Indizien für Alltagstheorien auffassen. Und an diesem Beispiel können wir vielleicht schon deutlicher als in den vorherigen Kapiteln erkennen, wie wichtig es für ein Kind sein kann, dass wir uns als Pädagoge unsere Alltagstheorie über dieses Kind bewusst machen. Das Urteil «erzieherisch und pädagogisch nicht ansprechbar» ist gewiss eine folgenreiche Alltagstheorie!

Über Herberts Familienverhältnisse liegen ebenfalls einige Informationen vor: Er lebt mit dem um vier Jahre jüngeren Bruder bei den Eltern. Die Familie wohnt in einem Einfamilienhaus, das vom Vater in Ferien- und Wochenendarbeit zu einem erheblichen Teil selbst gebaut worden ist. Seine Mutter ist nicht mehr berufstätig. Der Vater wird als gross und kräftig geschildert; er sehe sehr abgearbeitet aus und wirke schwerfällig und wenig gewandt. Die Mutter sei von zierlicher Gestalt und sehe sehr jung aus. Sie mache einen gehemmten, unselbständigen und ängstlichen Eindruck.

Die Eltern waren zweimal in die Schule zu Gesprächen über Herbert eingeladen worden. Vor dem Rektor und den Lehrern hatten sie Herbert sehr in Schutz genommen. Es war von ihnen kaum etwas über die Hintergründe seiner Probleme zu erfahren. Aus diesem Grunde bemühte sich die Klassenlehrerin um ein Gespräch mit Herberts Grossmutter, zu welcher er ein gewisses Vertrauensverhältnis zu haben scheint. Von der Grossmutter erhält die Lehrerin folgende Darstellung der Problematik: Herberts Eltern hatten im Alter von 22 und 18 Jahren geheiratet, weil die Frau schwanger war. In den ersten drei Jahren hatte die vorerst dreiköpfige Familie in einer Dreizimmerwohnung zusammen mit den Grosseltern gelebt. Während dieser Zeit war Herbert fast ausschliesslich von der Grossmutter betreut worden, da beide Elternteile tagsüber arbeiteten. Da den Eltern nur ein kleines Zimmer zur Verfügung stand, hatte er auch im Zimmer der Grosseltern geschlafen. Nach der Meinung der Grossmutter war Herberts Entwicklung während der ersten drei Lebensjahre völlig normal verlaufen. Als Folge von sich verstärkenden Spannungen zwischen Eltern und Grosseltern und Streitereien zwischen den Eltern hatten die Grosseltern nach drei Jahren darauf bestanden, dass Herberts Eltern eine eigene Wohnung zu mieten hatten. Da auch nach dem Wohnungswechsel die Mutter weiter arbeiten wollte, kam Herbert mit drei Jahren bereits in einen Kindergarten.

Nach Meinung der Grossmutter muss Herbert die Trennung von ihr sehr belastet haben. Er habe beim ersten Besuch der Grossmutter nicht mehr bei den Eltern bleiben, sondern zur Grossmutter «nach Hause» zurückkehren wollen. Aus diesem Grunde sei der Grossmutter für einige Zeit ein Hausverbot gegeben worden. Als sie das Kind nach etwa drei Monaten wieder gesehen habe, sei es völlig verändert gewesen. Es sei still und ernst geworden und habe überhaupt nicht mehr mit seinen Spielsachen gespielt, sondern stattdessen sei es ruhig auf ihrem Schoss gesessen und habe ihre Hand gehalten. Auch im Kindergarten sei er ein stilles und zurückhaltendes Kind geworden.

In die Schule sei er von Anfang an nicht gerade mit Begeisterung gegangen. Er sei dort zunächst höchstens dadurch aufgefallen, dass er zu still war. Richtige Freunde habe er eigentlich nie gehabt; er habe draussen meist allein gespielt. Dem Vater habe er stets aufs Wort gehorcht, weil er Schläge fürchtete. Seine Mutter habe sich dagegen immer häufiger über seinen Ungehorsam und seine Eigenbrötlerei beklagt. Zum jüngeren Bruder habe er weder eine auffällig positive noch negative Beziehung gezeigt. Mit Eintritt in die Pubertät sei er immer schwieriger geworden. Der Mutter gehorche er nun überhaupt nicht mehr und beschimpfe sie mit den unflätigsten Ausdrücken. Deshalb sei die Mutter froh, wenn er nicht zu Hause ist. Momentan halte er sich häufig in Spielsalons auf; über allfällige Freunde sei nichts bekannt. Den Vater fürchte er auch heute noch, da sich dieser weiterhin mit Schlägen durchsetze. Wenn Herbert zu Hause sei, schliesse er sich stundenlang in sein Zimmer ein und sei nicht dazu zu bewegen, die Tür zu öffnen.

Anhand dieser unsystematisch gewonnenen und aus der subjektiven Sicht von direkt Beteiligten stammenden Informationen können wir Herberts Biographie mit folgenden fünf Merkmalen zusammenfassen:

1. Seine engste Bezugsperson in der frühen Kindheit war die Grossmutter. Von dieser war er im Alter von drei Jahren infolge der Spannungen zwischen Eltern und Grosseltern getrennt worden.

2. Nach dieser Trennung hatte er keine Bezugsperson mehr, bei der er sich hätte vergleichbar geborgen fühlen können wie bei der Grossmutter. Zu Mutter und Vater entwickelte sich keine tiefgreifende emotionale Beziehung.

3. Der Vater wird als dominante Figur erlebt, welcher Gehorsam mit äusserem Zwang durchsetzt. Die Mutter erscheint demgegenüber als schwache Figur, der man nicht zu gehorchen braucht und an der man ungestraft Aggressionen ausleben kann.

4. Während der Grundschulzeit hatte er sich durch Fleiss und anerkannte Arbeitshaltung ausgezeichnet. Nach dem Übertritt in die Hauptschule werden ihm von der Lehrerin ein zunehmendes Desinteresse an der Schule und eine zunehmend aktive Ablehnung von schulischen Anforderungen attestiert. Das Desinteresse an der Schule äussert sich in gehäuftem Schuleschwänzen.

5. Zum Zeitpunkt der Berichterstattung lebt Herbert in sich zurückgezogen, ohne bemerkbaren positiven emotionalen Bezug zu anderen Personen. Das verkommene Bedürfnis nach emotionalem Bezug äussert sich gegenüber Mutter und Lehrerin in Form von Aggressionen, gegenüber dem Vater in Form von ohnmächtigem Gehorsam, gegenüber den Mitschülern in Form von gezieltem Rückzug (z.B. zum Kassettenrecorder).

3.2 Verhalten als Ausdruck von Identitätssuche

Ich gehe davon aus, dass sich das Verhalten eines Mitmenschen aus seiner Suche nach Identität verstehen lässt. Somit müsste es möglich sein, auch Herberts auffälliges Verhalten als Ausdruck seiner Identitätssuche zu interpretieren. Identitätssuche habe ich als Suche nach dem Erlebnis des eigenen Zusammenhangs bezeichnet. Wie es zu diesem Erlebnis kommen kann, habe ich bisher nicht geklärt. Ich habe lediglich erwähnt, dass es zwei gegensätzliche Denkmöglichkeiten für das Zustandekommen von Identitätserlebnissen gibt: Einerseits habe ich die Möglichkeit der sozialbestimmten Identität, andererseits die Möglichkeit der personbestimmten Identität erwähnt.

Wie können wir das Verhalten von Herbert verstehen, wenn wir annehmen, dass Identität sozialbestimmt sei? Unter dieser Annahme hätte Herbert dadurch zum Identitätserlebnis gelangen müssen, dass er die Erwartungen der Aussenwelt als seine Erwartungen an sich selbst übernommen hätte. Wenn wir in groben Zügen seine Biographie überblicken, gab es durchaus Lebensphasen, die wir als beginnenden Aufbau eines sozialbestimmten Identitätserlebnisses interpretieren könnten. In der Biographie von Herbert finden wir hierzu positive und negative Elemente:

– In seiner frühen Kindheit war seine engste Bezugsperson die Grossmutter. Zu dieser hatte er offenbar positive emotionale Bindungen. Die Grossmutter hätte vielleicht für ihn ein Repräsentant der Gesellschaft werden können, vor dem er gesellschaftliche Erwartungen als Erwartungen an sich selbst übernommen hätte. Im Alter von drei Jahren war er aber von dieser ersten wichtigen Bezugsperson getrennt worden.

– Während der Grundschulzeit deutete vieles darauf hin, dass er die Lehrer als Repräsentanten der Gesellschaft akzeptieren würde. Er war auf dem Wege zu einem Identitätserlebnis als williger und fleissiger Schüler, der sich aufgrund von positiven Schulerfahrungen als zusammenhängendes Ganzes (als der «fleissige Schüler») fühlen kann. Mit abnehmenden Schulleistungen musste er die Diskrepanz zwischen den sozialen Erwartungen und dem effektiven Verhalten immer intensiver erleben. Damit war auch nicht mehr die Möglichkeit gegeben, aufgrund des Erlebnisses von Übereinstimmung zwischen sozialen Erwartungen und «eigenen» Erwartungen an das Verhalten zum Identitätserlebnis zu kommen. Mit dem Übertritt in die Hauptschule schien die Möglichkeit dieses Identitätserlebnisses völlig entschwunden.

– Neben den Lehrern erscheint Herberts Vater als gewichtiger Repräsentant der Gesellschaft. Neben den Misserfolgen mit der Identitätsbildung in der Schule erlebt er im Vater eine Person als Repräsentanten der Gesellschaft, welche soziale Erwartungen mit teilweise brutalem Zwang durchzusetzen versucht. Zu dieser Person kann er keine emotionale Bindung aufbauen; dies wiederum verunmöglicht ihm, die Erwartungen des Vaters als die «eigenen» Erwartungen an sein Verhalten zu übernehmen. Wegen der fehlenden emotionalen Bindung und als Folge der Brutalität des Vaters bleibt Herbert bei seiner Identitätssuche gar kein anderer Weg als der Weg in die Opposition und der Rückzug in die Einsamkeit. Äusserer Gehorsam gegenüber dem Vater wäre nur möglich geworden, wenn dieser durch eine emotionale Bindung gestützt worden wäre.

– Heute zieht sich Herbert in sein Zimmer, in Spielsalons und zu seinem Kassettenrecorder zurück. Er weicht den Menschen aus oder sucht Beziehungen durch aggressives Verhalten.

Bedeutet der Rückzug und das aggressive Verhalten, dass Herbert seine personbestimmte Identität gefunden hat? Sind die Verhaltensauffälligkeiten Belege dafür, dass mit der Möglichkeit der personbestimmten Identität zu rechnen ist? – Fast müssen wir annehmen, dass auch der Rückzug von Kontakten und das aggressive Verhalten von aussen aufgezwungen sind. Wir vergegenwärtigen uns nochmals einige Elemente aus der Biographie von Herbert:

Wir stossen wieder auf die seit der 5. Klasse fehlende Beteiligung am Unterricht. Dies interpretieren wir als Reaktion auf Misserfolge gegenüber den sozialen Erwartungen, dass man mit guten Leistungen zu gefallen habe. Als Reaktion auf nichterfüllte soziale Erwartungen ist Herberts Verhalten lediglich negatives sozialerwartetes Verhalten; als solches ist es nicht durch eine personale Entscheidung gewählt, sondern es ist ein nicht frei gewählter Fluchtweg bei der Suche nach Identität. Auch das aggressive Verhalten gegenüber Lehrerin und Mutter können wir nicht als Verhalten interpretieren, zu welchem sich Herbert frei entschieden hat. Wenn es ein Zeichen von freier Entscheidung wäre, könnte er sich auch zur Aggression gegen den Vater entscheiden. Diesem aber unterwirft er sich und benützt andere Personen als Stellvertreter für seine Aggressionen, die er gegen den Vater nicht freimachen kann.

 

Wir interpretieren Herberts Verhaltensauffälligkeiten als ein dumpfes, nicht bewusst überlegtes Reagieren auf nicht erfüllbare soziale Erwartungen und auf Konstellationen in der sozialen Umwelt. Als solches ist sein Verhalten als etwas von aussen Aufgezwungenes zu interpretieren. Wir sehen keine Möglichkeit, in Herbert ein frei entscheidendes Wesen zu sehen. Er wird auf seiner Identitätssuche viel mehr auf Fluchtwege gedrängt, als dass er seine Wege zur Identität selbst bestimmt.

Das Fallbeispiel lehrt uns, dass sich mit der Annahme sozialbestimmter Identität menschliches Verhalten plausibel interpretieren lässt. Bedeutet dies, dass wir uns bei der Suche nach einem heilpädagogischen Menschenbild für eine positive sozialbestimmte Identität als Zielvorstellung entscheiden sollen? Müssen wir, wenn sich die Annahme personbestimmter Identität weniger gut zur Interpretation von menschlichem Verhalten eignet, auf die Idee einer personbestimmten Identität als Zielvorstellung verzichten? – Ich möchte diese Schlussfolgerung nicht ziehen; ich bin geradezu von meiner Wertentscheidung her gezwungen, die Idee der personbestimmten Identität in ein heilpädagogisch wirksames Menschenbild mit einzubeziehen. – Auch Herbert können wir nicht ganz verstehen, wenn wir ihm nicht einen personalen Kern zuschreiben. Irgendetwas Personales scheint Herbert doch gegen die soziale Umwelt zu verteidigen. Zwar hat sich Herbert für sein auffälliges Verhalten nicht bewusst entschieden, aber in seinem Verhalten vermuten wir dennoch: die nicht-bewusste, verzweifelte Verteidigung eines eigenen Selbst. Anders können wir uns kaum erklären, woher Herbert die Kraft zum passiven und aktiven Widerstand bezieht. So gesehen benötigen wir doch noch etwas anderes als die positiven und negativen sozialen Erwartungen, um die heftigen Aggressionen und das auffällige Rückzugsverhalten erklären zu können. Dieses andere Element können wir als Selbst, als personalen Kern o. ä. bezeichnen. Die Namengebung ändert nichts daran, dass es sich um etwas Unfassbares, Unbekanntes handeln muss.

Zusammenfassend hat uns die Diskussion des Fallbeispiels folgendes gezeigt: Wir können die Identitätssuche eines Menschen weder einseitig mit der Annahme von Personbestimmtheit noch einseitig mit der Annahme von Sozialbestimmtheit verstehen. Ein wichtiger Schlüssel zum Verstehen auffälligen Verhaltens scheint der Verlust von emotionaler Bindung zu sein. In der Biographie eines Menschen kann es Ereignisse, wie etwa den Verlust emotionaler Bindungen, geben, welche die weiteren Wege zur Identität entscheidend vorausbestimmen. Einerseits ist ein Mensch durch zufällige soziale Ereignisse vorprogrammiert, andererseits wird die Biographie, die auf ein entscheidendes Ereignis folgt, trotzdem durch die Tendenz beeinflusst, einen personalen Kern zu behaupten.

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