Ungehorsam versus Institutionalismus. Schriften 5

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Ungehorsam versus Institutionalismus. Schriften 5
Font:Smaller АаLarger Aa


Ulrich Sonnemann

Schriften in 10 Bänden

Herausgegeben von Paul Fiebig

(unter Mitarbeit von Elvira Seiwert)

Band 5

mit einem Geleitwort

von Ekkehart Krippendorff

zu Klampen

Ulrich Sonnemann

Ungehorsam versus Institutionalismus

Deutsche Reflexionen (2)

Erste Auflage 2016

© 2016 zu Klampen Verlag, Springe

Alle Rechte vorbehalten

Gestaltung und Satz: Friedrich Forssman

Umschlagphotographie: Isolde Ohlbaum

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

ISBN 978-3-866744-82-0

Die Schriften Ulrich Sonnemanns werden gefördert von der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur und der Ulrich Sonnemann-Gesellschaft.

Wie könnte eine Seelenwelt, die mechanisch bis zur Willenlosigkeit von einer Hypnotik des je Faktischen ganz beherrscht ist, des je Gegebenen und Instituierten, daher denn auch luftlos aus lauter seelischen Drücken besteht, Nachdrücken, Eindrücken und Albdrücken, dem aktiven und dem passiven Imponieren, der Unterdrückung seiner selbst und des die seine je erwartenden Mitmenschen, sich vor den Unterscheidungen des Urteils, den Entscheidungen des Gewissens, nicht – drücken? Offenbar hat die Zivilcourage bei solcher Unsicherheit der Substanz keine Chance.

Diese Gemütsanlage, da sie auf die platteste Ehrfurcht hinausläuft vor der Macht, dem jeweils nun einmal Tatsächlichen, das sein Tatsächlich-Sein schon rechtfertigt, so daß es fälschlich ihr für unabänderbar gilt, muß in der Konsequenz ihrer Knochenlosigkeit dann freilich auch noch die Macht mißbrauchen, die in ihrer urteilenden Spontaneität gerade das Gegenteil von alledem will: die Macht der Unter- und Entscheidung, der Redlichkeit und ihres Redestehens: das Wort also. Zu dessen Aufgabe wird in der Druck- und Stoß-Welt das Sprüchemachen, der magisch-formelhafte Spruch in den Wind. Daher kann das Wort in Deutschland, wenn es nicht selbst endlich entschieden wird, nichts entscheiden; solange es, den Verhältnissen gehorchend, statt sie in ihrer Abänderbarkeit nur beleuchten, nur hinter ihnen her- und mit ihren institutionsgläubigen Verklärungen jeweils mitläuft, reißt die Kette der Katastrophen neudeutscher Geschichte nicht ab.

Ulrich Sonnemann 1965 (vortragshalber)

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Zum Buch

Geleitwort

Erste Abteilung

Wie frei sind die Deutschen?

Die Einübung des Ungehorsams in Deutschland

Das Stereotype an deutschen Rückschlägen. Vorrede 1984

Der fünfzehnte Geburtstag oder Die Kulturkatastrophe

Die Diffamierung des Dagegenseins, unter Berücksichtigung ihrer Vorteile für den Knecht

Die Alimente der Alma Mater

Der Staat als Obdach und Smog-Himmel

Der Mief der Mephitis oder Der Rechtsstaat als Slogan und Slum

Schweigen ist Nagold. Von der Einübung und ihrer Alternative

Die schöne Gesellschaft und die unschöne Literatur

Exkurs über Zweckentfremdung, Umsturz und Erhöhung des Eintopfes

Sprachregelung und Zwangsneurose. Klinisches zum Verständnis von Bonn

Versuch über Verdruckstheit, das je nächste Jahr Null, und die Unschuld

Die Einübung des Ungehorsams. Positiver und praktischer Teil

Nachbedacht. Zur ›Einübung des Ungehorsams in Deutschland‹

Zur Sache

Antwortschreiben

Was ist deutsch? Versuch einer Definition

Einlassungen aus einer Rundfunkdiskussion zu Fragen der deutsch-deutschen Koexistenz und Anerkennung

Die verlorenen Paradiese der Deutschen. Zeitschriften-Beiträge

Zu diesem Heft

Das Reich

Geschichtsbewußtsein in Deutschland

Austreibung der Paradiese

Wahn und Warnung

Kurze Rede auf der Kundgebung ›Demokratie im Notstand‹

Anhang zur ersten Abteilung

Wie frei sind unsere Politiker?

Zur Einführung

Was davongekommen ist und was draufging oder Das Ende der Strecke

Nachwort

Apropos Franz Josef Strauß des weiteren

Das rhönradelnde Rechtskartell oder Justitia schielt immer noch oder STOPPT STRAUSS

Strauß-Schwarzbuch und kein Ende

Zweite Abteilung

Der schnelle Tod und die langsamen Kommilitonen

Israel. Rede an den Münchner SDS

Institutionalismus und studentische Opposition. Thesen zur Ausbreitung des Ungehorsams in Deutschland

Vorrede

Die Einübung des Ungehorsams in Deutschland

Zu den Auszügen

Die Ausbreitung des Ungehorsams in Deutschland. Rechenschaft und Kritik

Staatsverdrossenheit. Anmerkungen zur Lage der oppositionellen Studenten

Dutschke und Augstein

Argwöhnisches zu einer Mutation der Vernunft

Die Mammektomie der Alma Mater

Ungehorsam als Lernprozeß

Thesen

Revolution gegen den Staat?

Umzudenkender Umsturz

Antworten auf ›Sieben Fragen zum Thema‹

Paradoxer Beruf

Friedensforschung als institutionalisierte Verdrängung

Filbinger zitierte unvollständig

Das Ödipale an den Achtundsechzigern

Die Bewandtnis, die es mit dem Künftigen hatte, das in Rudi Dutschke war, eine Reminiszenz

Anhang zur zweiten Abteilung

Das Auseinanderfallende und sein Ausfälliges

 

Apropos Nation

Nation: Sinn und Widersinn oder Warum ein notorischer Doppelstern an den Himmeln der Seele, der schon beinahe für erloschen gegolten hatte, zum Jahrtausendschluß aufflammt

Das Nationale als Wurzelwahn und Monopol einer Selbstverstümmelungsfurie oder Warum die Wiedervereinigung eher ein Baugerüst ergeben hat als ein Haus

Nachsatz

Editorische Nachbemerkung

Glossar

Personenregister

Fußnoten

Geleitwort

Im November 1964, soeben von einem dreijährigen US-Aufenthalt als Fulbright Stipendiat nach Deutschland zurückgekehrt, rezensierte ich für ›Die Zeit‹ (20. November) unter dem Titel ›Die Tugend des Neinsagens‹ Ulrich Sonnemanns Rowohlt-Taschenbuch ›Die Einübung des Ungehorsams in Deutschland‹. Ich begann damit, den starken Eindruck zu schildern, den das lebendige politische Klima des öffentlichen Lebens in den USA auf mich, den soeben promovierten Studenten der Politikwissenschaft, gemacht hatte: »Das hohe Niveau der Publizistik, die Qualität und Schärfe journalistischer Kritik, vor allem aber die Beteiligung und das Engagement von Individuen und Gruppen am politischen Leben im allgemeinen und ihre spontane Aktivität bei Streitfragen im besonderen. […] Die Vereinigten Staaten wären nicht sie selbst ohne die spontan ›von unten‹ organisierten Sitzstreiks im Rassenkampf, ohne die es heute kein Bürgerrechtsgesetz gäbe. Das Wichtigste an diesen Erscheinungen ist, daß sie außerhalb, neben und unterhalb parteipolitischer Organisationen entstehen und daß sie sowohl von der Gesellschaft als Ganzem als auch von den Regierenden und Herrschenden toleriert, nicht aber als störender Sand im demokratischen Getriebe betrachtet werden.« Und ich kontrastierte diese persönliche und mich bis heute dauerhaft prägende Erfahrung mit dem damaligen Deutschland: »Als Berliner Studenten gegen die Wiederwahl Bundespräsident Lübkes zunächst spontan und ›unangemeldet‹ (man denke sich nur!) auf dem Kurfürstendamm demonstrierten, wurden sie sowohl von ihren Mitbürgern beschimpft (so etwas gehört sich nicht – noch dazu gegen den Bundespräsidenten!), als auch dann von der Obrigkeit arretiert zwecks Feststellung der Personalien … Ich möchte so weit gehen zu sagen, daß die ganze Crux demokratischen und intellektuellen Lebens im (heutigen) Deutschland darin besteht, daß spontane und organisierte Aktivitäten, politische Demonstrationen von Minderheiten und sogar eine kritische bis ›destruktive‹ Beurteilung des Bestehenden außerhalb der dafür ›zuständigen Instanzen‹ gesellschaftlich nicht akzeptiert sind. Kritik muß ›konstruktiv‹ sein, öffentliche Demonstrationen gehören sich nicht, und politische Aktivität soll sich gefälligst der dafür zuständigen Kanäle, nämlich der Parteien bedienen.« Das war 1964, im Erscheinungsjahr der ›Einübung‹.

Überall hatte Ulrich Sonnemann – 1955 nach vierzehn amerikanischen Jahren nach Deutschland zurückgekehrt – in dem sich konsolidierenden Nachkriegsdeutschland der Bonner Republik unter Konrad Adenauer eine Subalternität erfahren, die ihn erschreckte; ihre Erscheinungsform eine »einheitliche Banausokratie«1, ablesbar an der blinden Gesetzestreue, sichtbar am Straßenverkehrsverhalten vor einer roten Ampel an einer verkehrslosen Kreuzung – »Trägheit der Seelen«2 nannte er das, wo der Einzelne sein gesellschaftliches Verhalten nach den »öffentlichen Verhältnissen«3 ausrichtet und die autonome Vernunftentscheidung vermeidet. Nichts Geringeres als eine habituelle Fundamentalveränderung sei das Gebot der Stunde in diesen frühen Jahren der Bundesrepublik, eine Revolution, deren Radikalität sich nicht mit dem Umsturz der Institutionen zufrieden gibt, sondern die Politik selbst, das Politische als Quellgrund gemeinsamen Handelns neu bestimmt und lebt. Das aber kann nur glücken durch »eine Vermenschlichung des deutschen Normalverhaltens, eine erneute Menschwerdung des Durchschnittsdeutschen«4.

1964 durfte einem da schon der Atem stocken: eine solche Sprache und Begrifflichkeit lag jenseits der Terminologien der frühen 1960er Jahre. Sie ermutigten und entmutigten zugleich. Ersteres mit der geistesgeschichtlich begründeten und legitimierten Symbiose von historischer Aufklärung und deren in die Wirklichkeit der Gegenwart drängenden Aktualität (»Die Stunde schlägt jetzt«5) – entmutigend aber die nüchterne Wahrheit, daß »ein Umbau der deutschen Verhältnisse […] nur Schritt um Schritt von innen nach außen erfolgen [kann], durch Gedächtnis- und Gewissensstärkung, seelische Mobilisierung der Menschen«6 – also durch Arbeit am und im Geistigen, wo Resultate am schwersten zu messen sind … Und das unter den Bedingungen von Wirtschaftswunder und ökonomisch-sozialem Optimismus der Adenauer-Erhard-Jahre. Sonnemann: »Ein solcher Umbau wiederum beginnt aber gar nicht, solange mit den jetzigen Verhältnissen so viel Zufriedenheit herrscht, daß er gar nicht gewünscht wird.«7

Ulrich Sonnemann ist kein ›kritischer Kritiker‹ der Negation und der Krise der Moderne; das ist er auch, vor allem in bezug auf das Deutschland, das sich aus dem Trauma des Nazismus zu befreien suchte – und da setzte er systematisch und soziologisch so gut wie psychologisch auf Wege aus der Katastrophe. Die positive Besetzung des Begriffs vom Ungehorsam ist dafür bezeichnend und emblematisch. Allerdings macht er es seinen Lesern und Leserinnen nicht leicht – damals nicht und den heutigen nicht minder, ja diesen vielleicht sogar noch schwerer, seit die Frankfurter Schule (zu der er nicht gehörte, wohl aber zu deren weiterem Umkreis) aus der intellektuellen Mode gekommen ist. Eine Maxime wie die beispielhaft folgende muß man sorgfältig und mehrfach lesen, um hinter ihren tieferen Sinn zu kommen: Für die Vorbilder neuer Verhaltensmodelle in Deutschland müsse als Handlungsmaxime gelten »die Entgötzung aller Ordnungen, die eine Unordnung verbergen, also ihren Grund vor der Autorität des Gewissens und des Geistes nicht zu benennen vermögen«8. Wenige Sozialphilosophen (wenn wir Sonnemann so nennen dürfen) waren in jenen Jahren der intellektuellen Rekonstruktion deutscher Identität nach dem Alptraum des Faschismus so sprachbewußt wie er. Vom »veränderten Gebrauch der Sprache«9 als unerläßlicher Voraussetzung für die geistige Hygiene eines demokratischen Deutschland ist wiederholt die Rede – nicht nur die Rede, sondern auch deren Gebrauch in den eigenen Texten (bei Sonnemann habe ich erstmals, 1968, die heute weitgehend durchgesetzte Gender-Sprachregelung von »Studenten und Studentinnen«10 gefunden). Das macht auch und nicht zuletzt die Schwierigkeit seiner Texte aus. Zusätzlich erschwert wird die heutige Lektüre durch die selten ausgeführten aber reichlich eingearbeiteten Bezugnahmen auf damals aktuelle tagespolitische Ereignisse, Konflikte und Diskussionen: Sonnemanns Essays sind trotz ihres hohen Abstraktionsgrades durchweg empirisch gesättigt.

Dieses im Umfang bescheidene Buch ist, wie der vom Verlag vorgeschlagene Titel deutlich macht, ein konstruktiver Diskussionsbeitrag: Ungehorsam als demokratische Tugend. Das war damals, in den sechziger Jahren, nicht so sehr eine Provokation als vielmehr eine inkommensurable Forderung, die quer lag zu allem, was als traditionelle deutsche Tugenden galt – gehorsam dem Gesetz, gehorsam der Autorität. Wie sieht es damit heute, also mit Sonnemanns Aktualität, aus? Wurde sein bei aller Komplexität seiner Sprache leidenschaftliches Plädoyer für die Unbotmäßigkeit, die »Fronde«11, wie er ausführt, für Widerstand und Aufklärung im Kantschen Sinne des eigenen Vernunftgebrauchs, seitdem gehört und gelebt? Hat sein Vernunft-Appell die »verdrängte Menschlichkeit des Deutschen«12 aus ihrer Verkrustung befreit? Sind wir Deutschen – ein halbes Jahrhundert nach Sonnemann – demokratischer, ungehorsamer geworden? Es wird sich empirisch nicht belegen lassen, daß oder ob Sonnemanns viel zu wenig rezipiertes Werk dazu oder wenigstens in den Köpfen und Herzen einiger weniger einen Beitrag geleistet hat – aber die Wege des Geistes gehen immer ihren eigenen Gang und folgen ihrem eigenen verborgenen Kompaß. Tatsache ist – oder jedenfalls scheint es im Jahr 2012 dem späten Wiederleser des Buches von 1964 so zu sein –, daß die Deutschen des einundzwanzigsten Jahrhunderts in der Tat sich in die Tugend des Ungehorsams eingeübt zu haben scheinen. Einen die Öffentlichkeit »nachhaltig beunruhigenden Studentenstreik«, den Sonnemann in Deutschland – im Unterschied zu Frankreich – mit Bedauern am Ende seines Buches vermißt, er wurde schon kurze Zeit später Wirklichkeit und ist es bis heute in der deutschen politischen Landschaft geblieben; so versteinert wie er damals das deutsche Parteiengefüge sah – zum Beispiel, daß neue Parteigründungen chancenlos geworden seien –, ist diese Gesellschaft dann doch wohl nicht, wenn eine ökologische Partei wie die ›Grünen‹– einzigartig in Europa! – zur Regierungspartei werden konnte und möglicherweise nun auch eine Anti-Partei wie die ›Piraten‹ in die Parlamente einzieht; und wenn ein amerikanischer Präsident, George W. Bush, auf die Pressekonferenz-Frage nach dem Beitrag Deutschlands zum Irakkrieg abschätzig antwortet, auf die Deutschen sei kein Verlaß, »they are pacifists«, dann kommen wir der zarten Utopie Sonnemanns, an die er selbst damals wohl kaum geglaubt hat, nahe mit seiner sehr langfristig angelegten Hoffnung auf Deutschland als »geschichtsfähig, endlich frei, was doch ein Novum wäre, ja nicht mehr und nicht weniger als eine späte europäische Sensation«13.

Und dann war da 2011 ›Stuttgart 21‹, der wohl dramatischste und emblematischste Demokratie-Konflikt seiner Art, von dem alle Beteiligten und Beobachter der Meinung sind, daß hier eine historische Epoche ihren Anfang – oder ihr Ende – gefunden hat: das Ende der gehorsamen Hinnahme politisch-administrativer Entscheidungen der politisch-ökonomischen Klasse und den Anfang eines neuen, selbstbewußten politischen Bürgertums. Den inzwischen gebräuchlichen Begriff vom »Wutbürger« würde Sonnemann vermutlich nicht übernommen haben, wohl aber hätte er, so steht zu vermuten, enthusiastisch Stéphane Hessels Appell »Empört Euch« aufgenommen und programmatisch verarbeitet. Von einer schleichenden »Diffamierung des Dagegenseins«14 als einer historischen Konstante der deutschen Identität wird man heute nicht mehr sprechen können: Die »an die Wurzel des Menschseins, des humanen Verhaltens« gehende »Verfemung des Opponierens«15 wurde spätestens ein knappes Halbjahrhundert nach Sonnemanns philosophischem Wachruf historisch überwunden. »1968« hat er noch die Anfänge der Studentenbewegung mit Sympathie und konstruktiver Kritik begleitet und Wege aufgezeigt, für die die ›Einübung‹ ebenso zu zeitig gekommen war, wie es seinen Reflexionen ein halbes Jahrzehnt später ergehen sollte. Im Unterschied zur marxistischen Perspektive der subjektiv revolutionären Bewegung – nach wie vor spannend und lesenswert seine auf hohem Niveau geführte Auseinandersetzung mit Rudi Dutschke (›Dutschke und Augstein‹, 196816) – insistierte Sonnemann jetzt auf der Rekonstruktion des theoretischen und gewaltfreien praktischen Anarchismus, und er gibt sich und eben diese Sache nicht für geschlagen: Die politisierten Studenten, die »ein gewaltloses Deutschland wollen«17, hätten eine taktische Schlappe erlitten, aber »besiegt«, sagt er, »sind sie nicht«18. Wer aber von Gewaltfreiheit spricht, der darf vom Staat nicht schweigen: »Seit Auschwitz ist Problem: der Staat schlechthin.«19 Die praktischen Vorschläge, die Sonnemann der sich formierenden Protestbewegung für ihren Weg öffentlicher Manifestation gibt (»Ausbreitung des Ungehorsams in Deutschland«, 196820) sind geradezu wunderbar konkret: »Gewalt ist nur in Notfällen zu rechtfertigen und auch dann meist prekär. Zur Vorbereitung gegen deren Eintritt ist ihre systematische Diskreditierung, Lächerlichmachung, bis heute in Deutschland noch von keiner Gruppe der Gesellschaft versucht worden. Der Versuch sollte daher gemacht werden.«21

 

Dieser »Versuch« aber wird seitdem nicht nur in Deutschland, sondern weltweit gemacht. Seit den 1990er Jahren (es wäre pedantisch und unhistorisch, sich da auf einen Zeitpunkt festlegen zu wollen) hat sich das Phänomen aktiven bürgerlichen Engagements bisher passiver Bevölkerungen weit über Deutschland und Europa hinaus wie ein Buschfeuer ausgebreitet: Von den Massenprotesten gegen den iranischen Wahlbetrug über den »arabischen Frühling« 2011 und die weltweite Occupy-Bewegung bis hin nach Rußland, China und Indien, von scheinbaren Nebenschauplätzen wie Israel oder Myanmar ganz zu schweigen: Diese basisdemokratischen Bewegungen haben überall faszinierend kreative Formen der Subversion staatlicher Autorität hervorgebracht. Keine globale Konferenz ohne lautstarke, spaßvolle, ironisch-entlarvende Kommentierung durch weltweit vernetzte Initiativen vor Ort und damit gegebene Medien-Öffentlichkeit. Für Optimisten ist die Perspektive selbstbewußter Autonomie (Anarchie = Selbstregierung = Demokratie ohne Regierung; siehe David Graeber, ›Fragments of An Anarchist Anthropology‹, Chicago 2004) eine realistische und ernsthafte Hoffnung für das einundzwanzigste Jahrhundert, weil sie auch die Chance enthält, mit jenen gewaltigen Problemen fertigzuwerden, an denen die etablierten politischen Klassen derzeit so schmählich versagen: Klimaschutz, Umwelt, Hunger, Waffenhandel, Ressourcen- und Energie-Verschleuderung bei dramatisch wachsender Weltbevölkerung. Sie können sich dabei – wenn sie es wollen – auf den zu unrecht vergessenen Vordenker Ulrich Sonnemann berufen.

Ekkehart Krippendorff Berlin, im Januar 2012

Erste Abteilung

Wie frei sind die Deutschen?

Gespräch zwischen Ulrich Sonnemann und Dieter Hasselblatt (1964)

Dieter Hasselblatt: Herr Dr. Sonnemann, Sie leben in München; würden Sie gern woanders leben?

Ulrich Sonnemann: Es gibt manche Orte auf Erden, an denen ich von Zeit zu Zeit gern leben würde. So fahre ich etwa – meistens jetzt nur alle paar Jahre – immer wieder mal nach Amerika. Aber im ganzen hat es mich Zeit meines Lebens nach Deutschland gezogen und nach München. Also nehme ich an, daß es seine Gründe hat, auch seine existentiellen Gründe, von denen ich selbst ja gar nicht allzuviel zu wissen brauche, daß ich hier lebe.

Dieter Hasselblatt: Ja, Sie leben aber dann in einem Land, das Sie selber heftig attackiert haben – in Deutschland. Ungefähr gleichzeitig mit dieser ›Spiegel‹-Affäre, die uns alle beschäftigt hat, erschien Ihr Buch ›Das Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten‹1. Dieses Land ist Deutschland. Diesem Land kann man, so sagen Sie, unbegrenzt viel zumuten. Für Sie, Herr Dr. Sonnemann, ist Deutschland also ein Land ohne »Rückgrat«2. Und trotzdem haben Sie sich dazu entschlossen, hier zu leben. Ist das kein Widerspruch?

Ulrich Sonnemann: Das ist wahrscheinlich ein Widerspruch, aber, wie ich hoffe, doch einer, den ich ziemlich leicht auflösen kann. Denn für meine Begriffe gehört es eben zu der Loyalität gegenüber einem Volk, einer Gesellschaft, der man entstammt, daß man Zustände, die etwas Intolerables in sich haben und von denen gezeigt werden kann, daß sie dies haben, daß man diese Zustände attackiert und nach seinen Kräften sich bemüht, für ihre Besserung zu sorgen.

Dieter Hasselblatt: Der ›Spiegel‹ nannte Sie im April 1963 Deutschlands »Nationalpsychologen«3. – Sie sind 1912 in Berlin geboren, studierten in Deutschland, in der Schweiz, promovierten 1934 in Basel. Durch das Hitler-Regime wurden Sie gezwungen, Deutschland, und dann durch die Kriegsereignisse auch Europa zu verlassen. In den USA waren Sie als klinischer Psychologe und Professor für Psychologie in New York tätig. Sie machen hier bei uns keinen Gebrauch von Ihrem Professoren-Titel?

Ulrich Sonnemann: Ich weiß nicht, ob ich jemals wieder in eine Situation komme, in welcher ich von diesem Professoren-Titel Gebrauch machen, auf eine praktische Weise Gebrauch machen kann, insofern ich in einer solchen Situation meine Lehrtätigkeit eben wieder ausüben würde. Aber gerade das Fach, in dem ich sie in Amerika ausübte, ist gegenwärtig von geringerem Interesse für mich. Psychologie war ursprünglich in der Kombination meiner Studienfächer auch durchaus Nebenfach. Es waren wieder mehr Gründe in meiner Existenz-Situation in den frühen Vierzigerjahren, die mich bewogen, drüben die Karriere eines klinischen Psychologen zu ergreifen, der ich allerdings manches verdanke; unter anderem auch eben Einblicke in die Grenzen der klinischen Psychologie und der Psychologie überhaupt.

Dieter Hasselblatt: Sie haben, glaube ich, einige Bücher in diesem Arbeitsbereich, aus diesem Erfahrungsbereich veröffentlicht drüben?

Ulrich Sonnemann: Ja, das letzte war ›Existence and Therapy‹4. Das hat auch in Europa am meisten gewirkt, so um die Mitte der Fünfzigerjahre.

Dieter Hasselblatt: Dann waren Sie aber schon zu uns hier nach Deutschland wieder herüber gekommen?

Ulrich Sonnemann: Das war etwas bevor ich nach Deutschland zurückkam. Ich kam nach Deutschland zurück – nachdem ich vorher schon einmal besuchsweise hier gewesen war, 1950 – im Jahre 1955, und das Buch war 1954 erschienen.

Dieter Hasselblatt: Ja, würden Sie sagen, daß also dieses Wort des ›Spiegels‹– Sie sind Deutschlands »Nationalpsychologe« – boshaft gemeint ist? Oder stimmt das irgendwo?

Ulrich Sonnemann: Ich weiß nicht, ob es boshaft ist. Ich bin nicht einmal sicher, daß es boshaft gemeint ist, und noch nicht einmal, daß es nicht stimmt, aber ebensowenig, daß es stimmt. Es ist eigentlich eine Frage, die ich lieber meinen Biographen überlassen würde, sollte es solche jemals geben. Mich selbst interessiert sie eigentlich wenig.

Dieter Hasselblatt: Der ›Spiegel‹ prophezeite damals, daß Ihr Verlag »Schwierigkeiten« mit dem Absatz dieses Buches haben würde5. Und beim Lesen Ihres Buches gibt es ja gewisse Schwierigkeiten, weil Sie einen nicht sehr gefälligen und nicht sehr journalistischen Stil schreiben. Sie schreiben einen Stil, der gewisse Schwierigkeiten bringt. Und trotzdem hat sich die Prognose nicht bewahrheitet: Ihr Buch ›Das Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten‹ hat sich eine ganz lange Zeit auf den Bestseller-Listen gehalten. Wie erklären Sie sich das?

Ulrich Sonnemann: Ja, nicht ich bedarf ja in diesem Fall der Erklärung, da ich an jener Prognose gar nicht teilgenommen hatte. Der ›Spiegel‹ war da in der Gesellschaft mancher anderer, die auf die gleiche Weise und im gleichen Sinn geirrt haben. Es ist wahrscheinlich richtig, daß das Buch sehr wenig journalistisch geschrieben ist. Ich weiß bereits nicht, ob es nicht gefällig geschrieben ist; das bedeutet ja, daß es nicht gefällt, aber anscheinend hat es doch gefallen.

Dieter Hasselblatt: Sie sagen in diesem Buch, die Bundesdeutschen »verdienen« ihren demokratischen Staat nicht. Sie sollten »wahrnehmbar Freie« sein, und Sie nehmen diese Freiheit nicht wahr.6

Ulrich Sonnemann: Ich nehme diese Freiheit als spontane Eigenschaft der Menschen selber allzu wenig wahr in Deutschland. Die Freiheit scheint mir auch und gerade in der Bundesrepublik, in diesem Sinn sogar nur in der Bundesrepublik, Institution zu sein, eine von westlichen Demokratien übernommene Einrichtung. Die Freiheit als Eigenschaft der Menschen selber finde ich allzu wenig.

Dieter Hasselblatt: Und Sie wohnen trotzdem in diesem Land hier, in dem es so wenig Freiheit, verwirklichte Freiheit gibt?

Ulrich Sonnemann: Nun, die Freiheit als Institution besteht ja, und was diese andere betrifft, so kann man ganz gewiß als Schriftsteller, als Publizist für sie kämpfen. Man kann zunächst selbst, soweit man sie hat, von ihr Gebrauch machen, insofern unter Umständen sogar eine Art Modell setzen.

Dieter Hasselblatt: Sie betrachten sich also selbst als einen jener Literaten, von denen Sie in Ihrem Buch sagen, die Literaten seien heute die »Gewissensträger der Öffentlichkeit«7?

Ulrich Sonnemann: Nicht nur heute, das scheint mir jedenfalls in der ganzen neueren europäischen Geschichte, aber auch bereits im alten Griechenland – jedenfalls in späteren Zeiten – doch mindestens eine sehr bestimmende Seite an der Existenz der Literaten überhaupt zu sein. Es gilt ganz gewiß für Frankreich, das in diesem Punkt vorbildhaft ist.

Dieter Hasselblatt: Und Sie sagen in Ihrem Buch, daß sich die Literaten als »Gewissensträger der Öffentlichkeit« ein »dialogisches« und kein »cliquierendes Verhalten« schuldig sind8. Meinen Sie dabei Cliquen wie die Gruppe 47?

Ulrich Sonnemann: Ich kann mich erinnern, daß, als ich das schrieb, ich an die Gruppe 47 zunächst gar nicht dachte. Dann fiel mir ein, nachdem ich es bereits niedergeschrieben hatte, daß vielleicht der Leser an die Gruppe 47 denken könnte und daß es eben zu Fragen kommen würde wie Ihre gegenwärtige, was ich begrüße, weil da vielleicht wirklich etwas zu klären bleibt. Ich glaube nicht, daß essentiell die Gruppe 47 eine Clique ist. Dazu ist sie zu offen nach außen hin; dazu gehen die Meinungen innerhalb der Gruppe in allen möglichen Dingen viel zu weit auseinander. Wenn sie in den Geruch einer Clique immer wieder gerät, so liegt das meiner Ansicht nach darin, daß eben eine Öffentlichkeit überhaupt, die diese Gruppe auffangen könnte, die ihr gewachsen wäre, die sie integrieren könnte, in Deutschland fehlt.

Dieter Hasselblatt: Sie sehen also bei unseren Nachbarn in Europa mehr öffentliches Bewußtsein und mehr Öffentlichkeitsgewissen als bei uns?

Ulrich Sonnemann: Ja, das sehen Sie wahrscheinlich auch, wenn Sie sich etwa den Verlauf der ›Spiegel‹-Affäre bei uns und der Profumo-Affäre in England ansehen.

Dieter Hasselblatt: Sie haben, glaube ich, zu der deutschen Publikation der Profumo-Affäre ein Vorwort geschrieben?

Ulrich Sonnemann: Ja, eine Einleitung9.

Dieter Hasselblatt: Das ist sicherlich nicht zufällig, daß man auf Sie gestoßen ist dabei, weil Sie doch in einer gewissen Hinsicht etwas repräsentieren, was bei uns selten ist. Ich meine das Denken, die Leidenschaft eines Denkens, das sich nicht in metaphysischen Höhen ergeht, sondern sich am akuten Hier und Jetzt festbeißt, weil es hier seine Aufgabe sieht und hier die schmerzlichsten Verwundungen erfährt. Ich weiß nicht, ob ich das richtig sehe?

Ulrich Sonnemann: Nein, das sehen Sie völlig richtig. Es scheint mir, das hängt davon ab, wie man das tut, viel mehr als von einer thematischen Konzentration auf die Metaphysik als Gegenstandsbereich, sozusagen als Fach.

Dieter Hasselblatt: Sie sind im einzelnen sehr angegriffen worden, weil Sie Thesen verfochten haben, die vielen Leuten nicht behagt haben. Aber was man Ihnen, glaube ich, uneingeschränkt zugestehen muß, ist diese Leidenschaft des Denkens, die sich nicht scheut, sich an politischen Sachverhalten festzubeißen und sie zu durchdenken, um auf die Hintergründe und Motive zu stoßen. Sie nennen Ihr Buch im Untertitel ›Deutsche Reflexionen‹, und mir scheint, als ob sowohl das Wort »deutsch« wie das Wort »Reflexionen« bezeichnend für Sie ist. Stimmt das?

Ulrich Sonnemann: Das könnte sein, ja. Es ist leicht möglich, daß viele dieser Reflexionen in anderen Sprachmedien zwar nicht unmöglich sind; ich hoffe nicht, daß sie am deutlichsten nur im Deutschen werden können, und daß es also nicht zufällig ist, daß ich aus dem Englischen gerade für diese Dinge zuerst ins deutsche Sprachmedium zurückgekehrt bin.

Dieter Hasselblatt: Ich meine jetzt gar nicht so sehr die Sprache, sondern die deutschen Verhältnisse, die deutschen Belange. Mir ist eine Stelle Ihres Buches in Erinnerung, wo Sie von der deutschen Lage sprachen, und zwar im Zusammenhang mit einer Notiz, in der Sie sagen, das Zentrum des Weltkommunismus verlagere sich von Moskau nach Peking. Daran knüpfen Sie unmittelbar eine Reflexion über die Rückwirkungen dieser Verschiebung auf die deutschen Zustände.10 Ich glaube, das ist typisch, daß Sie alle Dinge, die Sie berühren, sofort auf die deutsche Situation zurückbeziehen. Ist das System, ist das Methode?

Ulrich Sonnemann: Wenn es System ist, wenn es Methode ist, dann eine solche, die sich sozusagen von selbst vollzieht, nicht die ich veranstalte. Das Denken hat aber mit seinen Gegenständen zu tun, nicht mit seiner Methode.