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Normenwunder begegnen in der Jesusüberlieferung im Zusammenhang der Sünden- und Sabbatproblematik und haben die Funktion204, eine neue Praxis zu begründen. In Mk 2,23–28; 3,1–6 nimmt Jesus den jüdischen Grundsatz auf, dass Notlagen die Suspendierung der Sabbatgebote erlauben, weitet ihn aber zugleich aus; in Mk 2,1–12 beansprucht er die nur Gott zustehende Vollmacht, Sünden zu vergeben. Alle drei Texte sind in ihrer vorliegenden Gestalt nachösterlich redigiert, die Kernlogien gehen aber auf Jesus zurück (Mk 2, 10f.27; 3,4f) und auch die Situierung in Konflikten mit den Pharisäern und Schriftgelehrten dürfte historisch zutreffend sein.

Während die Exorzismen, Heilungen und Normenwunder sehr wahrscheinlich im Wirken Jesu verankert sind, stellen sich bei den sog. Naturwundern (Geschenkwunder: Mk 6,30–44par; 8,1–10par; Rettungswunder: Mk 4,35–41; Epiphanien: Mk 6,45–52par) zahlreiche überlieferungsgeschichtliche Fragen205. Bei den Speisungserzählungen sprechen der Bezug auf 2Kön 2,42–44, die eucharistischen Anklänge, die Doppeltraditionen und die Steigerung des Wunderhaften deutlich für nachösterlichen Ursprung. Die zahlreichen religionsgeschichtlichen Parallelen, die atl. Anklänge und die starken christologischen Motive lassen auch den Seewandel und die Sturmstillung als nachösterliche Bildungen erscheinen. Totenauferweckungen durch Jesus (vgl. Mk 5,22–24.35–43; Lk 7,11–17) werden einerseits von der frühen Tradition vorausgesetzt (vgl. Q 7,22f), andererseits dürften sie dennoch nachösterliche Bildungen sein, denn sie variieren Jesu Auferstehung.

3.6.3Jesus von Nazareth als Heiler

Eine Wundertätigkeit Jesu im Sinn von wunderbaren Heilungen und Exorzismen ist historisch nicht bestreitbar, denn sie ist in fünf voneinander unabhängigen Überlieferungsströmungen bezeugt (Mk, Q, mt und lk Sondergut; Joh)206. Ihre theologische Interpretation muss drei Besonderheiten beachten: 1) Die Verbindung von Wunder und Eschatologie bei Jesus (vgl. Q 11,20) ist religionsgeschichtlich einzigartig, d.h. die Exorzismen und Heilungen sind eingebettet in eine eschatologisch-theozentrische Gesamtsicht. Mit der grundsätzlichen Entmachtung des Satans (vgl. Mk 3,27; Lk 10,18) gewinnt das Reich Gottes Raum. Die Heilungen sind die Eröffnung der neuen Wirklichkeit Gottes. 2) Auch die Betonung des Glaubensmotivs in der ntl. Wunderüberlieferung ist singulär, es erscheint in der Wort- (Mk 11,22f) und Erzählüberlieferung (Mk 9,23f; 10,52a). Das unbedingte Vertrauen des Kranken zu Jesus und zu sich selbst gehören zusammen und entwickeln ungeahnte Kräfte. 3) Nicht nur die eschatologische Perspektive, sondern auch die schöpfungstheologische Dimension der Exorzismen und Heilungen verdeutlichen, dass die Wundertaten in den Gesamtzusammenhang des Wirkens Jesu gehören. Die Vergegenwärtigung der Gottesherrschaft vollzieht sich in Gleichnissen, der Tischgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern, in der Ethik und Gesetzesauslegung Jesu und in seinen Exorzismen und Heilungen. Gerade sie haben eine schöpfungstheologische Dimension; sie zielen auf die Wiederherstellung eines schöpfungsgemäßen Zustandes, sie sind Zeichen und Protest gegen die Unterjochung des Menschen durch das Böse. In Jesu Heiltätigkeit zeigt sich ein ganzheitliches Menschenbild, denn der Mensch wird gleichermaßen als geistiges, seelisches, körperliches und soziales Wesen gesehen. Krankheiten hatten in der Antike in der Regel eine soziale Ausgrenzung zur Folge207, so dass Jesu Heilungen auch eine Reintegration in die Gemeinschaft gewähren. All dies unterscheidet Jesus von Nazareth von Magiern, denn seine Heilungen setzen eine personale Verbindung voraus, kommen mit minimalen Praktiken aus und zielen auf soziale Stabilität und Vertrauen/Glauben208. Für seine Heilungen nahm Jesus im Gegensatz zu anderen kein Geld (vgl. Mk 5,26) und unterschied nicht zwischen Arm und Reich (vgl. Q 7,3.8). Zudem lehnte er Demonstrationswunder ab (vgl. Mk 8,11fpar) und vollbrachte keine Strafwunder209.

Die Einsicht in den konstruktiven Charakter und damit auch die Relativität und den ständigen Wandel neuzeitlicher Weltbilder öffnen den Blick neu für Gottes schöpferisches Handeln in all seinen Dimensionen. Die Fixierung und Reduzierung auf die Frage nach der Faktizität von ‚Wundern‘ versperrte lange Zeit den Blick für die Mehrdimensionalität des heilenden Wirkens Jesu. Es ist vollständig eingebunden in sein gesamtes Wirken in Wort und Tat und macht Gottes heilendes Kommen in seinem Reich augenfällig und an Leib und Seele erfahrbar.

3.7Das nahe Gericht: Nichts ist folgenlos

E.BRANDENBURGER, Art. Gericht III, TRE 12 (1984), 469f; M.REISER, Die Gerichtspredigt Jesu, NTA 23, Münster 1990; J.BECKER, Jesus von Nazaret (s.o. 3), 58–99; H.-J.KLAUCK (Hg.), Weltgericht und Weltvollendung, QD 150, Freiburg 1994; W.ZAGER, Gottesherrschaft und Endgericht in der Verkündigung Jesu, BZNW 82, Berlin 1996; N.T. WRIGHT, Jesus (s.o. 3), 320–368; CHR.RINIKER, Die Gerichtsverkündigung Jesu, EHS 23.653, Frankfurt 1999; M.WOLTER, „Gericht“ und „Heil“ bei Jesus von Nazareth und Johannes dem Täufer, in: J.Schröter/R.Brucker (Hg.), Der historische Jesus, BZNW 114, Berlin 2002, 355–392.

Gottes endzeitliches Handeln vollzieht sich nach dem Zeugnis des Alten Testaments als richtendes Handeln zum Heil oder Unheil210. Die Gerichtsvorstellung gehörte zu den weltanschaulichen Grundbeständen des Alten Testaments/der Schriften des antiken Judentums211 und Johannes d. T. stellte den Unheilsaspekt in das Zentrum seiner uns überlieferten Botschaft (s.o. 3.2.1). So verwundert es nicht, dass sich unter den Jesus-Traditionen auch die Vorstellung findet, Gott wirke zum Unheil.

Theologisch ist die Gerichtsvorstellung mit einer starken Betonung des Unheils ambivalent. Sie entspringt häufig den Allmachtsphantasien jener Gruppen, die sie als Ausgleich ihrer gegenwärtigen Erfolglosigkeit, Unfähigkeit oder Unterdrückung bildeten: Gott soll durch sein Unheilsgericht in der Zukunft die Gerechtigkeit wiederherstellen. Ein solcher Wunsch mag verständlich sein, eine Begründung für die erbetene Vernichtung von Leben durch Gott ist er nicht. Allerdings geht die Gerichtsvorstellung in einer solchen eher negativen Bestimmung nicht auf (s.u. 6.8.3). Positiv bringt sie zum Ausdruck, dass sich Gott nicht gleichgültig zum Leben eines Menschen und zur Geschichte insgesamt verhält. Würde das endzeitliche Handeln Gottes als Retten/Verurteilen durch Richten entfallen, dann blieben die Taten eines Menschen unbeurteilt und mehrdeutig. Das Unrecht würde über das Recht triumphieren, das Böse bzw. Negative würde das letzte Wort behalten. Gerade als Schöpfer zeigt sich Gott in seinem richtenden Handeln für seine Schöpfung verantwortlich.

3.7.1Jesus als Repräsentant des Gerichts Gottes

Wie der Täufer nimmt auch Jesus von Nazareth die geläufige Opposition ‚Israel – Heiden‘ nicht auf, sondern sieht ganz Israel vom Unheil bedroht.

Das Unheil über Israel

Jesu Heilsbotschaft richtet sich an ein Israel, das seine göttlichen Bundeszusagen verbraucht hat und dessen Erwählung zur Anklage wird. Das bezeugt das Doppelwort von den getöteten Galiläern und erschlagenen Jerusalemern (Lk 13,1–5): „… Meint ihr (etwa), sie seien vor allen Galiläern Sünder gewesen? Nein, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt, dann werdet ihr alle in gleicher Weise umkommen! Oder jene achtzehn, auf die der Turm in Siloah fiel und sie tötete, meint ihr (etwa), sie seien vor allen Bewohnern Jerusalems Sünder gewesen? Nein, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt, dann werdet ihr alle in gleicher Weise umkommen!“ Jesus entschränkt bewusst zwei Einzelereignisse aus einem isolierten Tun-Ergehen-Zusammenhang und stellt die Ereignisse in einen theologischen Horizont. Die Geschehnisse werden so zu einem Menetekel für ganz Israel, über das ebenso unerwartet und schrecklich das Unheil kommen wird, wenn es nicht umkehrt. Umkehr bedeutet für Jesus Zuwendung zu seiner Botschaft, Umkehr ist Hinwendung zu ihm.

Dieser besondere Anspruch wird auch in Q 11,31f sichtbar212: „Die Königin des Südens wird beim Gericht zusammen mit dieser Generation auferweckt werden, und sie wird sie verurteilen … Die Männer von Ninive werden beim Gericht zusammen mit dieser Generation auferstehen, und sie werden sie verurteilen …“ Jesus weist ‚diesem Geschlecht‘, d.h. ganz Israel als einheitlichem Gegenüber einen Schuldspruch im Gericht zu, es sei denn, sie kehren um und nehmen seine Botschaft an. Die Weherufe über die galiläischen Städte213 in Q 10,13–15 zeigen eine deutliche Verwandtschaft mit dem Königin des Südens/Ninive-Wort und sind nicht minder provokativ: „Wehe dir, Chorazim! Wehe dir, Betsaida! Denn wenn in Tyrus und Sidon die Machttaten geschehen wären, die bei euch geschehen sind, längst wären sie in Sack und Asche umgekehrt. Doch Tyrus und Sidon wird es erträglicher gehen im Gericht als euch. Und du, Kapernaum, wirst du etwa zum Himmel erhöht werden? Zum Totenreich wirst du hinabstürzen.“ Den heidnischen Städten Sidon und Tyrus galten zahlreiche atl. Gerichtsworte (vgl. Jes 23,1–4.12; Jer 25,22; 47,4; Ez 27,8; 28,21f; Joel 4,4); Jesus knüpft daran an und verfremdet geläufige Vorstellungen: Das Unheil wendet sich nicht gegen die Heiden, sondern gegen Israel. Kriterium ist das Verhalten gegenüber Jesu Wundertaten, die das Hereinbrechen des Reiches Gottes und damit auch Jesu Anspruch bezeugen. Über Kapernaum als Hauptort des Wirkens Jesu ist unter diesen Aspekten das Urteil bereits gefällt. Ähnlich drohenden Charakter haben das Völkerwallfahrtslogion Q 13,29.28 und die Parabel vom großen Gastmahl Lk 14,15–24/Mt 22,1–10 (s.o. 3.4.5), in denen ebenfalls die geläufige Vorrangsstellung Israels verworfen wird. Schließlich macht die endzeitliche Richterfunktion der Zwölf in Q 22,28.30 deutlich, dass die Stellung zu Jesus über das Ergehen im Gericht entscheidet.

Das Unheil über den Einzelnen

Der zweite große Bereich der Unheilsaussagen Jesu betrifft den einzelnen Menschen. Er steht im Hintergrund von Mt 7,1f („Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet …“), denn das kommende Gericht durch Gott ist die Motivation für das geforderte Verhalten. Eine große Schärfe gewinnt das Gerichtsmotiv in Q 17,34f: „Ich sage euch, zwei Männer werden auf dem Acker sein; einer wird mitgenommen und einer wird zurückgelassen. Zwei Frauen werden an einer Mühle mahlen, eine wird mitgenommen und eine wird zurückgelassen.“ Jesu Aussagen sind apodiktisch und provozierend, das Unheilsgericht ist unberechenbar, jeden kann es treffen und es gibt keine Begründung für den doppelten Gerichtsausgang: Die einen werden gerettet, die anderen verworfen. Die überraschende Gefährlichkeit des Unheils ist auch Thema der Parabel vom reichen Kornbauern (Lk 12,16–20)214. Der Bauer handelt aus seiner Perspektive vernünftig („Ich werde meine Scheunen abreißen und größere bauen und dort all mein Getreide und meine Früchte sammeln. Dann will ich zu meiner Seele sagen: Seele, du hast viele Güter lagern auf viele Jahre. Ruhe dich aus, iss, trink, sei fröhlich!“), jedoch vergisst er bei seinen Selbstreflexionen Gott! Gott fordert im Schlusswort („Du Narr, diese Nacht wird man dein Leben von dir fordern! Was du jedoch bereitet hast, wem wird es gehören?“) genau diese Relation ein – zum Gericht des Mannes; Gottvergessenheit führt zum Lebensverlust.

In völlig anderer Weise wird das Unheilsgericht in der Parabel vom klugen Verwalter in Lk 16,1–8a zum Thema215. Die Erzählung weist Elemente eines Kriminalfalles und einer Komödie auf, der Erzähler verleitet die Hörer dazu, dem Schicksal des Verwalters und seinem energisch sich selbst rettenden Handeln zu folgen. In einer lebensbedrohlichen Situation unternimmt der Verwalter alles, um sich die Zukunft zu erhalten. Sein rechtlich unmoralisches Verhalten wird nicht bewertet. Vielmehr kommt für den Menschen alles auf die Erkenntnis an, dass angesichts der Botschaft Jesu und ihrer Folgen ein entschlossenes, schnelles und kluges Handeln gefordert ist, um ebenso wie der Verwalter sein Leben vor dem Abgrund zu retten.

Wie sehr es auf das Handeln des Menschen angesichts des nahenden Unheils ankommt, illustriert die Doppelparabel vom Hausbau in Q 6,47–49216. Wie der Hausbauer durch vorhersehende Planung eine Katastrophe verhindert, so kann man dem drohenden Unheil durch Klugheit entgehen, nämlich durch das Tun der Worte Jesu. Die Zeichen der Zeit zu erkennen wird auch in Q 17,26–28 gefordert. Jesus erinnert seine Zeitgenossen daran, wie das Geschlecht z. Zt. des Noah und wie die Zeitgenossen des Lot in Sodom und Gomorrha ganz plötzlich mit dem göttlichen Unheilsgericht bestraft wurden. Die Unausweichlichkeit und die Unerbittlichkeit des Unheils stehen hier im Mittelpunkt, denn Noahs und Lots Rettung werden nicht beschrieben. Auffallend ist, dass vom unmoralischen Verhalten des Sintflutgeschlechts und der Bewohner von Sodom und Gomorrha nichts erwähnt wird. Israels Verlorenheit misst sich nicht an moralischen Werten, sondern an seinem Verhalten gegenüber Jesus. Dies steht auch im Gleichnis von den spielenden Kindern Q 7,31–34 im Mittelpunkt217: Die Ablehnung des Täufers und Jesu durch Israel wird unter Aufnahme volkstümlicher Motive218 in unaufdringlicher Schärfe herausgestellt. Die Pointe des Bildes (V. 32b: „Wir spielten euch mit der Flöte auf, und ihr habt nicht getanzt, wir stimmten Klagelieder an, und ihr habt nicht geweint“) besteht darin, dass die Angeredeten keinerlei Anstalten machten, auf die Aufforderungen und Angebote des Täufers und Jesu einzugehen. Sie greifen zu Vorwänden (V. 33f: „Denn Johannes kam, er aß und trank nicht, und ihr sagt: Er hat einen Dämon. Der Menschensohn kam, er aß und trank, und ihr sagt: Siehe, dieser Mensch, ein Fresser und Säufer, ein Freund von Zöllnern und Sündern“), um sich nicht der neuen Situation stellen zu müssen. Die Ablehnung des Menschensohnes führt unausweichlich zum Unheilsgericht.

Jesus als Repräsentant des Gerichtes Gottes

Alle bisherigen Texte haben deutlich gezeigt, dass Jesus das Verhalten gegenüber seiner Person und seiner Botschaft zum Kriterium im kommenden Gerichtsgeschehen erhob: Wer seine Botschaft annimmt, empfängt im Gericht das Heil; wer sie ablehnt, verfällt dem Unheil219. Nachdrücklich artikuliert sich dieser Anspruch in Q 12,8f: „Jeder, der sich zu mir vor den Menschen bekennt, zu dem wird sich auch der Menschensohn vor den Engeln bekennen. Wer mich aber vor den Menschen verleugnet, wird vor den Engeln verleugnet werden.“220 Innerhalb einer Gerichtsverhandlung ist es allein der Menschensohn, der als letzte Instanz belohnt oder bestraft, d.h. Jesus (s.u. 3.9.2) fungiert hier (wie in anderen Texten) keineswegs nur als Zeuge, sondern als Richter. In Jesu Unheilsbotschaft liegt eine unübersehbare personale Zuspitzung vor; das Unheil erfolgt dort, wo Jesus abgelehnt wird. Jesus nimmt für sich nicht nur in Anspruch, das Gericht Gottes anzukündigen oder durchzuführen, sondern er selbst ist das Gericht; an seiner Person entscheiden sich Heil und Unheil221. Jesus ignoriert die Sonderstellung Israels unter den Völkern, greift die Heils- und Erwählungsgewissheit scharf an und bindet die vorausgesetzte Schuld an die Haltung gegenüber seiner Person; Umkehr ist Hinwendung zu Jesus. Die Unheilsbotschaft erweist sich damit als ein grundlegender Bestandteil des gesamten Wirkens Jesu222. Sie lässt sich nicht weltanschaulich eliminieren223, denn die Funktion der Unheilsansagen besteht darin, die Zeichen der Zeit zu erkennen, wachzurütteln und zur Entscheidung zu drängen: Das von Jesus repräsentierte Kommen des einen Gottes in seinem Reich kann nicht folgenlos bleiben, deshalb ist das Unheil die notwendige Negativseite seiner Heilsverkündigung. Wer den Heilscharakter der Basileia-Botschaft betont, darf den Unheilscharakter ihrer Ablehnung nicht verschweigen.

3.8Jesus und das Gesetz: Der Wille zum Guten

K.BERGER, Die Gesetzesauslegung Jesu, WMANT 40, Neukirchen 1972; H.HÜBNER, Das Gesetz in der synoptischen Tradition, Göttingen 21986; M.HENGEL, Jesus und die Tora, ThBeitr 9 (1978), 152–172; U.LUZ, Jesus und die Tora, EvErz 34 (1982), 111–124; P.FIEDLER, Die Tora bei Jesus und in der Jesusüberlieferung, in: K.Kertelge (Hg.), Das Gesetz im Neuen Testament, QD 108, Freiburg 1986, 71–87; I.BROER (Hg.), Jesus und das jüdische Gesetz, Stuttgart 1992; D.KOSCH, Die eschatologische Tora des Menschensohnes, NTOA 12, Fribourg/Göttingen 1989; J.BECKER, Jesus von Nazareth (s.o. 3), 337–387; I.BROER, Jesus und die Tora, in: L.SCHENKE (Hg.), Jesus von Nazareth – Spuren und Konturen (s.o. 3), 216–254; J. P. MEIER, A Marginal Jew IV (s.o. 3), 26–477.

Das Verhältnis Jesu zur Tora gehört nicht zufällig zu den umstrittensten Themen ntl. Theologie. Hier verbinden sich exegetische Einschätzungen mit politischen, kulturellen und religiösen Einstellungen (persönliches Verhältnis zum Judentum, Geschichte des Judentums im 20.Jh., christlich-jüdisches Gespräch) und führen zu hochemotionalen Positionen. Während in der älteren Exegese das Bedürfnis vorherrschte, Jesus dem Judentum gegenüberzustellen oder ihn zumindest innerhalb des Judentums herauszustellen224, dominiert in der neueren Exegese der Wunsch, Jesus möglichst nahtlos in die Vielgestaltigkeit des Judentums einzupassen225. Beide Strategien sind tendenziös, denn sie halten nicht die Spannung aus, Jesus innerhalb des Judentums zu interpretieren und zugleich aufzuzeigen, wie es zu den Konflikten Jesu mit jüdischen Gruppen/Autoritäten und zu seiner Wirkungsgeschichte innerhalb des sich formierenden frühen Christentums kam.

3.8.1Gesetzestheologien im antiken Judentum

Die überragende Stellung der Tora innerhalb des antiken Judentums steht außer Frage226. Allerdings gab es immer differente Auslegungen der Tora und damit auch verschiedene Gesetzestheologien227. Besonders wichtig war in diesem Zusammenhang die Herausbildung der Pharisäer, Sadduzäer und Essener im weiteren Kontext der makkabäischen Erhebung (vgl. 1Makk 2,15–28)228. Josephus sieht im Traditionsverständnis die Eigenart der Pharisäer229 und zugleich den wichtigsten Unterscheidungspunkt zu den Sadduzäern: „Jetzt möchte ich nur deutlich machen, daß die Pharisäer dem Volk Bestimmungen (νόμιμα) aus der Nachfolge der Väter (ἐϰ πατέρων διαδοχῆς) weitergegeben haben, die nicht in den Gesetzen des Mose aufgeschrieben sind, und deswegen verwerfen sie die Gruppe der Sadduzäer, die sagt, dass man sich nur an jene Bestimmungen halten soll, die geschrieben sind, die aus der Überlieferung der Väter aber nicht beachten soll“ (Ant 13,297). Inhalt der Paradosis dürften in neutestamentlicher Zeit Reinheitsvorschriften (vgl. Mk 7,1–8.14–23; Röm 14,14), Regelungen des Zehnten (vgl. Mt 23,23) und besondere Formen von Gelübden (vgl. Mk 7,9–13) gewesen sein. Nach Jos, Vita 191, standen die Pharisäer hinsichtlich der väterlichen Gesetze in dem Ruf, „sich von den anderen durch genaue Kenntnis zu unterscheiden“ (τῶν ἄλλων ἀϰριβείᾳ διαφέρειν). Sie waren frommer als die anderen „und beachteten die Gesetze gewissenhafter“ (ϰαὶ τοῦς νόμους ἀϰριβέστεραν ἀφηγεῖσϑαι)230. Ziel der pharisäischen Bewegung war die Heiligung des Alltags durch eine umfassende Gesetzesbeobachtung, wobei der Einhaltung der rituellen Reinheitsvorschriften auch außerhalb des Tempels eine besondere Bedeutung zukam. Deshalb wurde die Tora teilweise fortgeschrieben, um den vielfältigen Alltagssituationen gerecht zu werden (vgl. z.B.Arist 139ff; Jos, Ant 4,198; Mk 2,23f; 7,4). Bedeutsam war die Abspaltung einer radikalen Richtung innerhalb der Pharisäer, die sich selbst im Anschluss an Pinhas (Num 25) und Elia (1Kön 19,9f) Zeloten (οἱ ζηλωταί = „die Eiferer“) nannten. Diese Gruppe bildete sich 6 n.Chr. unter Führung des Galiläers Judas von Gamala und des Pharisäers Zadduk (vgl. Jos, Ant 18,3ff). Die Zeloten zeichneten sich durch eine Verschärfung des ersten Dekaloggebotes, strenge Sabbatpraxis und eine rigorose Einhaltung der Reinheitsgebote aus231. Sie strebten eine radikale Theokratie an und lehnten die römische Herrschaft über das jüdische Volk aus religiösen Gründen ab. Über das Toraverständnis der Sadduzäer lassen sich nur vage Aussagen machen; sie lehnten die Sondertraditionen der Pharisäer ebenso ab wie die Auferstehung von den Toten und Engellehren (vgl. Mk 12,18–27; Apg 23,6–8). Die Konzentration auf die schriftliche Tora schloss bei ihnen eine strengere Haltung bei Rechtsfragen als bei den Pharisäern mit ein (vgl. Jos, Ant 18,294; 20,199)232. Die Essener vertraten vor allem nach dem Zeugnis der in Qumran gefundenen Schriften ebenfalls ein sehr strenges Toraverständnis233 und nahmen für sich ein besonderes Wissen um die wahre Auslegung und Bedeutung der Tora in Anspruch: „Aber mit denen, die an den Geboten Gottes festhielten, die von ihnen übrig waren, hat Gott seinen Bund für Israel aufgerichtet für immer, um ihnen verborgene Dinge zu offenbaren, worin ganz Israel in die Irre gegangen war: seine heiligen Sabbate und seine herrlichen Festzeiten, seine gerechten Zeugnisse und die Wege seiner Wahrheit und die Wünsche seines Willens – die der Mensch erfüllen muss, damit er durch sie lebe – hat er ihnen aufgetan“ (CD III 12–16; vgl. VI 3–11). Diese besonderen Einsichten betrafen vor allem Kalender- und Sabbatfragen, hinzu kamen zahlreiche Einzelvorschriften für das Leben in der Gemeinschaft. Zudem lassen gerade die in Qumran aufgefundenen Texte erkennen, dass die Tora und ihre Auslegung keine abgeschlossenen Größen waren234; so gibt z.B. die Tempelrolle Pentateuchtexte nicht nur in sprachlich stilisierter Form und neuer Anordnung wieder, sondern sie enthält auch neue Gebote ohne Anhalt am Pentateuch.

Während die Essener strikt alles Heil an das Dasein im Heiligen Land banden, stellte sich für das hellenistische Judentum in der Diaspora die Situation völlig anders dar. Im Kontext der allgegenwärtigen hellenistischen Kultur musste sich das Judentum öffnen, um seine Identität wahren zu können. Die Tora erfuhr innerhalb dieser Entwicklung gleichzeitig eine Universalisierung und Ethisierung, indem sie zur Schöpferweisheit und Lebensordnung wurde235. Der Mensch entspricht der Tora als dem universalen Sittengesetz, weil seine Befolgung zu einem Leben in Vernunft, Harmonie und Frieden mit Gott, den Menschen und sich selbst führt. So wird die Tora in ihrer Konzentration auf wenige Gebote zu einer Form der Tugendlehre, die in hellenistischer Begrifflichkeit zum Ausdruck gebracht werden kann. Bedeutsam ist das Gesetzesverständnis Philos, bei dem die Sinai-Tora, die Schöpfungstora und das Naturgesetz zu einer Einheit verschmelzen236. Auf den atl. Schöpfergott gehen nach Philo sowohl die φύσις als Weltprinzip als auch die Tora zurück, so dass beide zusammengedacht werden müssen. Weil Weltschöpfung und Gesetzgebung „im Anfang“ zusammenfallen, ist das Naturgesetz ebenso göttlichen Ursprungs wie die Tora: „Dieser Anfang ist höchst bewunderungswürdig, da er die Weltschöpfung schildert, um gleichsam anzudeuten, dass sowohl die Welt mit dem Gesetz als auch das Gesetz mit der Welt in Einklang steht und dass der gesetzestreue Mann ohne weiteres ein Weltbürger ist, da er seine Handlungsweise nach dem Willen der Natur regelt, nach dem auch die ganze Welt gelenkt wird“ (Op 3). Die schriftliche Sinaitora ist ihrem Wesen nach viel älter, denn sowohl Mose als das ‚lebende Gesetz‘237 als auch die Vorstellung von νόμος ἄγραφος („ungeschriebenes Gesetz“; vgl. Abr 3–6) erlauben es Philo, über den Gedanken einer protologischen Schöpfungstora die zeitliche und damit auch sachliche Kontinuität des Handelns Gottes zu betonen. Durchgängig interpretiert Philo die Einzelgesetze als Ausformungen der Zehn Gebote, die wiederum mit dem Naturgesetz verwoben sind. Über den Gedanken der Sittlichkeit vollzieht Philo durch die Ethisierung des Naturgesetzes und der Einzelgesetze der Tora einen großen Synthetisierungsversuch von jüdischem und griechisch-hellenistischem Denken.

Ein weiteres Beispiel für die Vielgestaltigkeit jüdischen Gesetzesverständnisses sind die bei Philo erwähnten Allegoristen (Migr 89–93). Sie gaben den Gesetzen einen symbolischen Sinn und vernachlässigen die wortwörtliche Befolgung. Im Rahmen der Kritik an dieser Position erwähnt Philo auch die Beschneidung, die von den Allegoristen offenbar nur noch als symbolischer Akt aufgefasst wurde: „Auch weil die Beschneidung darauf hinweist, dass wir alle Lust und Begierde aus uns ‚herausschneiden‘ sollen und gottlosen Wahn entfernen müssen, als ob der Nus aus sich heraus Eigenes zu zeugen verstände, dürfen wir nicht das über sie gegebene Gesetz aufheben“ (Migr 92)238.

In der jüdischen Apokalyptik fungiert die Tora vor allem als Gottes Gerichtsnorm; ein radikaler Gesetzesgehorsam verbindet sich mit der Hoffnung auf Gottes zukünftiges Heil, das den gegenwärtigen Verhängniszustand ablösen wird239.

Bedeutsam ist schließlich der geographisch/klimatische Raum des Wirkens Jesu, denn Konstruktion von Wirklichkeit vollzieht sich immer in geographischen und sozialen Räumen, die unausweichlich das Denken mitbestimmen240. Jesus trat fast ausschließlich um den See Genezareth241 herum auf, den ein mediterranes Klima auszeichnet und der eine Lebensart ermöglichte, die vor allem im Gegenüber zu den gebirgigen Regionen Israels als leicht und angenehm zu bezeichnen ist. Galiläa war z.Zt. Jesu keineswegs unjüdisch, hatte aber zweifellos ein eigenes kulturelles und religiöses Profil242. Es ist kaum vorstellbar, dass Jesus die (im Neuen Testament nicht erwähnten) hellenistisch geprägten Städte Sepphoris243 und Tiberias nicht kannte, zumal städtisches Milieu in Q 12,58f vorausgesetzt ist (vgl. auch Mt 6,2.5.16; Mk 7,6; Lk 13,15; Lk 19,11ff)244. Das Zusammentreffen und Zusammenleben mit Nichtjuden gehörte in Galiläa sicherlich zum Alltag, und anders als in Jerusalem dürften die Probleme der rituellen Reinheit großzügiger gehandhabt worden sein. Zudem fehlten mit der geringen Präsenz von Pharisäern die motivierenden Kontrollinstanzen. Wenn Jesus den Hauptmann von Kapernaum als Glaubensvorbild für Israel hinstellt (Mt 8,10b/Lk 7,9b), dann illustriert er dadurch seine über den bloßen Kontakt hinausgehende positive theologische Bewertung einzelner Heiden. Jesu Offenheit gegenüber Nichtjuden und seine Distanz gegenüber einer diskriminierenden Torapraxis dürfte auch mit seinem galiläischen Wirkraum zusammenhängen.

3.8.2Jesu Stellung zur Tora

Wie zeichnet sich Jesus von Nazareth in diese Vielgestaltigkeit jüdischer Gesetzestheologie ein? Ein zentraler Text zur Beantwortung dieser Fragen sind die Antithesen der Bergpredigt (s.o. 3.5.2). Die antithetischen Formulierungen sind innerhalb des antiken Judentums in dieser Form neu, es gibt dafür keine exakten Parallelen245. Das entscheidende theologische Problem ist, wer/was mit dieser Redeform in welchem Sinn interpretiert/kritisiert wird. Die Passivform ἐρρέϑη („es wurde gesagt“) dürfte sich auf das Sprechen Gottes in der Schrift beziehen, die „Antithesenformeln stellen also das Wort Jesu der Bibel selbst gegenüber.“246 Damit befindet sich Jesus selbst innerhalb der unabgeschlossenen Torainterpretation des Judentums, zumal die Antithesen mit Ausnahme des absoluten Gebotes der Feindesliebe nichts formulieren, was nicht auch (mehr oder weniger) Parallelen im Judentum hat247. Entscheidend ist aber der mit dem emphatischen „ich aber sage euch“ verbundene Anspruch: Jesus leitet seine Autorität nicht aus der Schrift ab, sondern sie liegt in dem, was er sagt. „Die Bibel wird durch die Antithesen nicht ausgelegt, sondern weitergeführt und überboten.“248 Verständlich wird dieser Anspruch nur auf dem Hintergrund von Jesu Gottesreichbotschaft: Mit dem Anbruch des Gottesreiches setzt sich eine neue Realität durch. Im Anbruch des Gottesreiches wird der Wille Gottes nochmals neu, endgültig, radikal proklamiert249. Jesus formuliert ihn aus eigener Vollmacht; er leitet ihn nicht aus dem Alten Testament ab, sondern der von Jesus im Anbruch des Gottesreiches proklamierte Gotteswille ist die letzte Autorität. Jesus hebt damit nicht die Tora auf, er denkt und argumentiert aber auch nicht von der Tora her, was einer faktischen Relativierung der Tora entspricht.

Rein und unrein

Ähnliches lässt sich für Jesus in seiner Haltung zu rituellen Fragen feststellen. Schon das Jesuswort „ich bin nicht gekommen, die Gerechten zu berufen, sondern die Sünder“ (Mk 2,17) zeigt, dass Jesus die Gerechtigkeit, und damit den Anspruch des Gesetzes, zwar nicht bestreitet, aber dem Gesetz nicht die Macht zuschreibt, gegenwärtig den Zugang zu Gott zu bestimmen. Gerechtigkeit bleibt Gerechtigkeit, aber Gott liebt nicht nur die Gerechten. Gottes Liebe, die Jesus in der Ankunft des Gottesreiches verkündigt, überbietet die früher Israel geschenkte Liebe in Gestalt der Tora. Eine Berührung mit einem Aussätzigen, die in Mk 1,41 beiläufig berichtet wird, verunreinigt in höchstem Maße. Ähnliches gilt für die Heilung der Blutflüssigen (Mk 5,25–34) oder der Begegnung mit der Syrophönizierin (Mk 7,24–30). Jesus hatte im Umgang mit Menschen keinerlei ritualgesetzliche Hemmungen. Mindestens tendenziell zielt die schrankenlose Liebe Gottes zu allen Menschen, insbesondere auch den religiös Deklassierten, darauf hin, dass religionsgesetzliche Ordnungen, die in Israel im Namen Gottes galten, obsolet wurden.

Auch Mk 7,15 ist in diesem Kontext zu verstehen; hier verbinden sich die für Jesus charakteristische schöpfungstheologische Argumentation mit seiner eschatologischen Grundperspektive. Von Beginn der Schöpfung an bestand die Fundamentalunterscheidung ‚rein – unrein‘ nicht, sondern erst in Gen 7,2 erfolgt unvermittelt die Trennung von reinen und unreinen Tieren. Die Reinheitsvorschriften als Legitimation religiöser Ab- und Ausgrenzung haben für Jesus ihre Bedeutung verloren, weil für ihn die Unreinheit aus einer anderen Quelle kommt: „Nichts, was von außerhalb des Menschen in ihn hineinkommt, kann ihn verunreinigen, sondern was aus dem Menschen herauskommt, das verunreinigt den Menschen“ (Mk 7,15). Für die Authentizität250 von Mk 7,15 sprechen die Form des antithetischen Parallelismus, die Möglichkeit der Rückübersetzung, die isolierte Stellung im unmittelbaren Kontext, die Varianten in Mk 7,18b.20, die Aufnahme von Mk 7,15 in Röm 14,14 als Herrenwort und schließlich die unableitbare Neuheit251. Ist schon die konkrete Stoßrichtung dieses Wortes nicht mehr sicher auszumachen, so sind sein Sinn und seine Bedeutung heftig umstritten. Der ursprüngliche Sinn von Mk 7,15 dürfte im Gegensatz zum markinischen Verständnis kaum auf den rituellen Bereich einzuschränken sein, denn τὰ ἐϰ τοῦ ἀνϑρώπου ἐϰπορευόμενα („was aus dem Menschen herauskommt“) in V. 15b lässt eine derartige Engführung schwerlich zu. Damit können nicht nur rituell verunreinigende Speisen gemeint sein, sondern Jesus umschreibt mit diesen Worten, dass alles aus dem Menschen Kommende, Gedanken wie Taten, ihn vor Gott unrein machen kann252. Jesus lässt den Gedanken der Unreinheit vor Gott formal zwar nicht fallen, aber er verneint, dass eine solche Unreinheit in irgendeiner Form von außen auf den Menschen zukommen kann. Dies bedeutet eine faktische Relativierung der Reinheitsgesetze Lev 11–15. Jesus stellt sich damit auch in einen Gegensatz zu den Pharisäern, Sadduzäern und Qumran-Essenern, für die kultisch-rituelle Normen trotz einer z. T. unterschiedlichen Praxis von essentieller Bedeutung waren, denn sie fungierten nicht nur als sichtbares Unterscheidungsmerkmal zu den Heiden und den religiös Gleichgültigen des eigenen Volkes, sondern waren Ausdruck ihres Toragehorsams und der immerwährenden Gültigkeit des durch Mose überlieferten Gotteswortes253. Mk 7,15 ist also in einem exklusiven Sinn zu verstehen254 und hat eine die Tora faktisch relativierende Bedeutung, keinesfalls handelt es sich nur um eine Vorordnung des Liebesgebotes gegenüber den Reinheitsvorschriften255. Bereits Paulus verstand dieses Jesuswort in einem torakritischen Sinn (Röm 14,14)256, und auch bei Jesus selbst finden sich Parallelen. Neben seinem Umgang mit kultisch Unreinen, seiner Pharisäerkritik (vgl. Lk 11,39–41; Mt 23,25) und den Sabbatheilungen ist hier vor allem Q 10,7 zu nennen, wo Jesus seinen Jüngern in der Aussendungsrede aufträgt, alles zu essen und zu trinken, was man ihnen vorsetzt. So wie angesichts des kommenden Reiches Gottes die Gegenwart keine Zeit des Fastens ist (vgl. Mk 2,18b.19a; Mt 11,18f/Lk 7,33f), so haben auch die Speisegesetze ihre Bedeutung für das Verhältnis des Menschen zu Gott und der Menschen untereinander verloren. Die vom Schöpfer gewollte Reinheit des Menschen lässt sich nicht instrumentalisieren, vielmehr betrifft sie die ganze Existenz des Menschen. Die Geschöpflichkeit des Menschen kommt nicht in der religiösen bzw. sozialen Separation zum Ziel, sondern in der wahrhaftigen Annahme des vom Schöpfer geschenkten Lebens.