Feuersetzen

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From the series: Hansekrimi
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Dienstag, 17. Mai 1552

Die Vögel sangen beim Hellwerden, als ob nichts passiert wäre: Amseln, Singdrosseln, Mönchsgrasmücken, ein Girlitz. Doch um halb fünf in der Frühe war die Luft noch ganz erfüllt von den Ausdünstungen der nahen Brandstätte. Die Gefahr für die Nachbarhäuser war gebannt, der Feuerreiter hatte gute Arbeit geleistet … Das dachten selbst die, von denen man erwartet hätte, dass sie nicht abergläubisch wären. Vor allem sie selbst hatten doch gut gearbeitet! Das Haus der Schwalbe war dem Erdboden gleichgemacht, nachdem man die Besitzerin nicht gefunden und um Erlaubnis hatte fragen können. Trotzdem wollte in der Diele der Halskrause keine Freude aufkommen. Opfer waren zu beklagen … zwei schreckliche Tode … Daniel Jobst hatte zum Bier eingeladen, jeden, der sich um den Erhalt der Stadt verdient gemacht hatte. Sie rochen, als hätten sie die Nacht im Rauchfang verbracht. Krampfhaft hielt jeder seinen Krug umklammert. Der Einsturz der Schwalbe hatte ihnen die Hauptarbeit abgenommen. Sie hatten die Trümmer nur noch zur Seite zerren müssen, wobei ihnen die Verschütteten entgegengefallen waren … In einem kleinen Zelt aus Balken waren sie dem Zerquetschwerden entronnen, doch hatte kein Mittel mehr ihre völlige Reglosigkeit zu vertreiben oder zu beheben vermocht. Volpi und Bartholdi waren aus mangelnder Versorgung der Lungen erstickt und elend eingegangen.

»Keiner hätte das überleben können! Nur die Götter selbst!«, sagte Jobst. Er war so niedergeschlagen, als hätte er zwei Söhne verloren, und raufte sich das Haar, laut sich selbst anklagend: »Wie habe ich sie nur noch mal hineinlassen können? Was für ein törichter Gedanke, in einen brennenden Dachstuhl zu steigen!«

»Ich habe es gesehen, sie waren kaum am Kamin, als der Boden unter ihnen wegbrach!«, ließ sich Kilian Buhlmann vernehmen, der das Haus rechts neben der Schwalbe bewohnte.

»So ganz stimme ich dir nicht zu!«, wandte sein Sohn Michael ein. »Mir wollte scheinen, als ob sie noch etwas gesehen hatten. Sie verharrten noch eine ganze Weile vor etwas, das aussah wie … wie eine verkohlte Bettstatt.«

»Wie fürchterlich – ein verkohltes Lager … Bist du sicher? … Könnte es vielleicht sein, dass dort … ich meine ja nur … die Schwalbe …?«, fragte Buhlmann senior.

»Das werden wir nun leider nicht mehr erfahren …«, meinte der Sohn. »Was hängt auch daran, nur noch rauchende, üble Nachrede … Die Schwalbe war vielleicht lebenslustig, aber sie war nicht die Besenreiterin, die alle aus ihr machen wollten … Schrecklich, dass ich noch gestern mit ihr stritt! Es ist ein Jammer, es ging genau um das, was dann eintrat: Sie hat die Wette-Herren bestochen, um sich vor der Reparatur des Schlotes zu drücken … Ich hab es gehört, als sie die Runde machten. Jetzt wäre es beinahe schiefgegangen …«

»Mein Guter«, sagte Jobst, »es ist schiefgegangen! Nämlich für die Schwalbe und für zwei Unerschrockene …« Er stockte und bedeckte seine Augen mit der rechten Hand. »Lasst uns auf das Seelenheil der Toten da drinnen anstoßen! Was geschehen ist, war so unnötig! Wir hätten sie zurückhalten müssen: Für immer wird dieses furchtbare Versäumnis auf uns lasten …«

Groenewold war nicht da; der schrullige alte Mann stieg nur im Notfall vom Turm, um sein selbstgewähltes Zusatzamt auszuüben. Kaum war eine Gefahr gebannt, verschwand er wieder. Es war freilich ihr aller Verdienst, die Stadt vor Schlimmerem bewahrt zu haben. Und es war viel Glück dabei gewesen, im großen Unglück …

»Bring Groenewold seine Quart auf den Turm!«, sagte Jobst zu einem seiner Gehilfen. »Und nimm eine für den Küster Eck mit, damit er dich hinauflässt!«

Damian Baader, der Wundarzt, kam aus dem dem früheren Kontor von Jonathan Unruh, in dem Volpi und Bartholdi aufgebahrt lagen. Sie hatten ihren Einsatz teuer bezahlt … Baader, dem man seine 55 Jahre keineswegs ansah, nahm einen Krug, trank begierig und wischte sich genüsslich den Bierschaum vom Mund. Er sah die Blicke aller Anwesenden auf sich vereint. Ihre Trauermienen machten ihn komischerweise lächeln … Der Alkohol, dachte Jobst …

»Gott sei’s gepriesen! Bartholdi, der Großarchivar und Narr … Und Volpi – der große Harnologe, Botaniker und Logiker …«

Baader griente blöde und musste sich auf eine Stuhllehne stützen, so schüttelte ihn das lautlose Lachen, allen horribel und unverständlich. Oh, die Trunksucht, dachte Jobst nur.

»Ihr müsst seine Abhandlung über den menschlichen Harn lesen: de urinis … Man möchte ihn allein dafür in den Olymp setzen. Er würde Jupiter selbst bitten, ihm eine Probe zu liefern, um ihm zu sagen, ob er Asparagus oder Beta rossa genossen hat. Auch ob er mehr dem Biere oder dem Weine zugeflüstert …«

Jobst seufzte. Der Arme … Wem von diesen beiden Baader wohl zugebrüllt hatte? Man sollte sich nicht mehr in seine Obhut begeben. Das schien sicherer … Aber der Wundarzt kriegte sich wieder ein – unter Aufbietung aller Willenskraft, konstatierte Jobst verächtlich bei sich.

»Diese Narren … Torheit … Torheit schützt vor Alter nicht … Es klingt verquer und unmöglich – aber sie leben! Sie sind beide am Leben!«

Die Anwesenden wurden zu Salzsäulen. Dem dicken Hus lief das Bier aus dem Maul, denn er vergaß zu schlucken. Der Bergmeister Adener seufzte laut.

»Was soll das heißen? Wir haben sie doch alle gesehen? Wir sahen doch, dass sie bereits tot waren!«

»Keinen Mucks mehr gaben sie von sich! Regten sich doch nicht länger? Ihr müsst Euch täuschen, Meister Baader!«, sagte Jobst. »Ich bin zwar arm im Beutel …«, begehrte Hus auf, »… aber nicht ganz so arm im Kopf, wie Ihr denkt! Auch wenn ich weniger Erfahrung habe als Ihr, so erkenne ich doch einen Toten, wenn ich einen sehe!«

Baader sagte achselzuckend: »Machen wir uns nichts vor – an dieser Frage sind schon erfahrenere Männer verzweifelt. Sonst gäbe es keine lebendig Begrabenen … Ich wünschte, ich wäre sicherer in solchen Dingen, denn ich dachte zuerst wie Ihr … doch jetzt? Nennt es ein Wunder … von mir aus! Aber sie haben wieder zu atmen begonnen, und da ich nicht an lebende Leichname oder Untote oder Wiedergänger glaube, kann dies nur bedeuten, dass sie vom Rauch zwar tief bewusstlos waren, als wir sie aus dem Trümmerhaufen fischten, aber hernach … ihre Lebensgeister wieder zu ihnen gefunden haben. Jetzt röcheln sie wieder, beginnen zu fabulieren … Ihr Geist scheint wie umnebelt. Sie reden irre, wohl vom Rauch vergiftet. Aber sie leben! Überzeugt euch doch selbst …«

Das ließ sich keiner zweimal sagen. Alle eilten in die Stube, um die Totgeglaubten leibhaftig-lebhaft zu sehen.

»Welch ein Glück!«, sagte Jobst zu Baader. »Wenn sie inmitten dieses Sturzbaches aus Steinen, Lehm und Balken überlebten, dann stellt ihr Beispiel selbst das des Vogels Phönix in den Schatten, der bekanntlich aus der Asche eines Feuers unbetroffen hervorging. Die beiden aber, Volpi und Bartholdi, wurden ja überdies noch durch eine Knochenmühle gedreht …«

Von drinnen kamen Jubelrufe.

»Ungläubige – dachtet ihr, ich machte Scherze?«, flüsterte Baader, schwach lächelnd, während er sich aus der bereitstehenden Kanne Bier nachschenkte. Er folgte den anderen nach nebenan. Aus der Totenkammer war unversehens eine Krankenstube geworden. Jobst unternahm gerade den Versuch, die beiden ins Leben Zurückgekehrten durch exzessive Einflößung von Bier rascher an die Oberfläche zu ziehen. Sie lagen nebeneinander auf dem nackten Boden. Jetzt wurden rasch Decken untergeschoben.

»Wir verfrachten Euch gleich in Eure Betten – zuvor aber müsst Ihr uns sagen, was Ihr drinnen gesehen habt!«, sagte Jobst.

Volpi genoss das Bier, als hätte er bis dahin nie welches getrunken. Die Bilder schwankten – diese vermeintlichen Menschenköpfe etwa hatten noch immer die Neigung, ins Große und Kleine abzudriften …

Jobst drängte sich eben wieder mit dem Labsal spendenden Krug in sein Gesichtsfeld und fragte: »Habt ihr die Schwalbe gefunden? Ist sie tot?«

Er dachte schneller, als er sprechen konnte, aber das war wohl immer so. Volpi musste erst noch einen Schluck Bier trinken, dann konnte er Jobst Auskunft geben.

»Fanden die Dame … und ihren Liebhaber, denke ich. Aber ob sie tot waren?« Vor seinem inneren Auge lief wieder die grauenvolle Verwandlung ab. »Mein Geist narrte mich … Die beiden Verkohlten, anfangs so tot wie nur je zwei Stämmchen Totholz im Feuer, entwickelten zuletzt ein seltsames Eigenleben …«

»Leben? Meint Ihr, dass die verkohlten Leiber sich beim Absturz bewegten?«

»Nein, schon vorher … Sie redeten, bekamen wieder Gliedmaßen, wo zuvor nur abgebrannte Stummel waren.«

»Das waren die bösen Wetter, die Euren Geist vernebelten!«, sagte Baader.

»Dann haben sie auch meine vernebelt, denn mir erschienen sie auch, diese lebenden Leichname, sie griffen nach mir …«, stöhnte Bartholdi nun, sich ebenfalls am Bier erfrischend.

»Eigenartig«, sagte Volpi, »ich kenne solche Gesichter aus Berichten über Vergiftungen durch Fliegenpilze, Tollkirschen, Bilsenkraut … Die Eindringlichkeit der Bilder wurde stets hervorgehoben. Vielleicht hatte die Hausfrau einen Speicher voller Kräuter, der verbrannte, und dessen Nachwirkung wir spürten?«

Bartholdi, schwarz wie kaum ein Mohr je sein mochte, schlug sich gegen die Stirn, sodass ein helles Zeichen blieb, wie ein umgekehrtes Kainsmal: »Es könnte im Bier gewesen sein, das wir ausgetrunken haben!«

Volpi stöhnte: »Ihr habt … Du hast Recht. Aber das sollte leicht zu entscheiden sein. Schließlich haben wir es noch in uns!«

»Wie meinst du das?«, fragte der Großarchivar.

Baader lachte. Er schien bereits zu ahnen, was der geschwärzte Gelehrte beabsichtigte.

»Nun, ganz einfach: Wenn etwas im Abschiedstrunk der beiden war, so haben wir es noch im Urin. Und bei der Untersuchung des Urins bin ich erklärtermaßen Fachmann!«

 

»De urinis!«, sagte Bartholdi mit dem Strahlen plötzlicher Erkenntnis.

Jetzt lachten sie alle. Volpi indes war ins Nachdenken versunken.

»Wenn es so war, erlebten die beiden glücklich-unglücklich Vereinten genau das, was wir erlebten. Erst Trübungen des Gesichts und falsche Vorstellungen, dann erstarb ihnen gänzlich die Wahrnehmung. Es kam zu einer Lähmung, zu einem Scheintod oder doch zu einer Art todesähnlicher Starre. Wir erlebten zuletzt die Unfähigkeit, uns zu bewegen oder zu reagieren. Tödlich in Situationen wie der im brennenden Haus.«

Es schauerte Volpi bei dem Gedanken, sie hätten ihn möglicherweise lebendig begraben. Und Bartholdi auch …

»Meint Ihr den Zustand vor oder nach dem Beilager … vorher wäre es in der Tat auch tödlich …«, warf Baader ein. »Tödlich für die Lust!«

»Euren Witz in Ehren, aber ich meine durchaus danach … Mir fällt ein, dass vor allem der Stechapfel Wirkungen wie die erlebten zeitigt – wenn man zu viel davon genießt. Zur Anregung setzt man ihn in Wein an. Doch das beim Bereiten des Extraktes eingesetzte Quantum entscheidet über die Stärke. Sie tranken ihn sicher zur Verschönerung des Beilagers, aber es war zu viel, daher verfielen sie nach der Extase in diese Todessteife.«

»Soll das heißen, Ihr vermutet, dass es ihre Absicht war, das zu trinken?«, fragte Jobst.

»Bei allen Hurenwirten bekommt ihr dieses oder ein ähnliches Gesöff, auch bei den Storchern, Quacksalbern und Schreiern auf dem Markt! Meistens aber ist es Wein und kein Bier, worin es angesetzt wird … Müsste man in Erfahrung bringen, wie es der rote Jakob verkauft«, sagte Baader.

»Bei dem gibt es das nur im Wein …«, sagte Jobst träge, und alle grienten, da sie sich Goslars Haupt-Bordellbetreiber, die verführerische Lupa und den ehrbaren Wandschneider und Rat Jobst nebeneinander vorstellen mussten.

»Wer zur schönen Lupa geht, hat es nicht nötig, ein anregendes Gepantsch zu trinken«, sagte Jobst, und die anderen nickten und sprachen dem Stobeken’schen Bier zu. Der Sohn der toten Schwalbe war Brauer.

»Lupa?«, fragte Volpi schwach.

»Hört«, sagte Baader, »was Euricius Cordus über sie schrieb!«, und er rezitierte:

Wann immer du, Lupa, mir dich zeigst in deiner Pracht, stellst all deinen Schmuck am Leib du zur Schau! Haarband, Stirnreif, Brusttuch, Goldgehänge und Gürtel, am Hals ein Geschmeide und an den Fingern Ringe, Amethyst, Karneol, Saphir, Rubin, Opal und Chrysopras … Deine großen Brüste regen sich unterm Busentuch. Aus Frankreich ein Schleier umzaubert dein volles Haar. Wie du mich all das leise lächelnd gering schätzen siehst, sagst du: „Solche Kleinode besitzt sie nicht, deine Frau!“ Das gebe ich dir zu … Doch hat sie auch einen Mann nur, die Ärmste, und diesem allein will sie gefallen.

Volpi hatte wohl zugehört und registrierte das beifällige Lachen der Anwesenden. Doch im Augenblick war er mit den Gedanken woanders.

»Die Türen waren zu. Die beiden wollten nicht gestört werden. Ob sie sich den Trank beschafft oder selbst bereitet hatten, wer weiß? … Möglicherweise wollten sie sich gar umbringen …«

»Durch Gift oder durch Feuer? Oder durch beides in Verbindung?«, fragte Bader, und es klang leicht höhnisch. »Bevor man so viel vermutet, ist tatsächlich erst einmal der Giftnachweis gefordert.« Er trat gebieterisch vor die Liegenden. »Darf ich den Herren die Proben abverlangen, damit wir sie Johann Kohler schicken können, dem Apotheker, dem alten Lurch? Er hat Euer Buch sicher, Herr Volpi, aber für alle Fälle solltet Ihr mir die Prozedur noch einmal diktieren … am besten lateinisch, das mag er besonders!«

Sie folgten Baaders vernünftigen Worten. Auf dem Weg in ein freundlicheres Zimmer mit einer richtigen Bettstatt machten die wiedererweckten Toten auf dem Necessarium Station, um ihr flüssiges Zeugnis abzulegen. Ein Bote mit zwei warmen Tonflaschen wurde zur Ratsapotheke in die Marktstraße geschickt. Jobst, Baader und die anderen leisteten Volpi und Bartholdi im Krankenzimmer weiter Gesellschaft, trinkend.

»Wenn man nur wüsste, wer das war, neben ihr …«, fragte Baader, und alle nickten, denn diese Frage beschäftigte sie zuinnerst schon die ganze Zeit.

»Ach … da habe ich, glaube ich, etwas, das Euch helfen wird, ihn zu erkennen …«, murmelte Volpi und kramte in den geräucherten Innereien seines Wamses.

Seine rechte Handfläche war noch immer stark gerötet. Als er im brennenden Haus zugegriffen hatte, war er scheint’s durch die Wirkung des Stechapfels gegen Schmerz gefeit gewesen … Jetzt zog er einen goldenen Ring hervor.

»Den konnte ich erhaschen, bevor die Verkohlten den Abgang machten. Er gehörte dem Liebhaber.«

Das Wappen zeigte drei Blätter neben der Hälfte eines angedeuteten Baumes.

»Otto Herbst«, entfuhr es Baader, Bartholdi, Jobst und den anderen fast unisono, als sie es sahen.

»Der Feuerhüter des Rammelsberges!«, sagte Bartholdi.

Volpi erinnerte sich dunkel der Bartholdi’schen Worte über die weitere Liebhaberei dieses Herrn.

»Wie tragisch! Was wird jetzt aus seinem Garten?« fragte er, und verstand nicht, warum ihn jeder missbilligend betrachtete und alle dem Bier noch vehementer zusprachen. Die Mägde kamen kaum nach mit dem Heranschleppen der Schleifkannen. Das war nur noch ein Trinken und Kopfschütteln, allseitiges Schwenken der ohnehin schon schweren Häupter und Becher …

»Tragisch!«, ächzte der Bergmeister Adener, selbst die Tragödie in Person. »Ohne Otto Herbst wird es im Berg wieder Katastrophen geben! … Auch wenn ich ihn oft auf einen seiner Schränke gewünscht habe …«

»Feuer im Berg? Feuerhüter? Schränke?«, fragte Volpi und wandte sich, da keiner die Kranken weiter beachtete, an Bartholdi. »Das Feuersetzen ist, wenn ich Cordus’ Schrift recht entsinne, wichtig für den hiesigen Erzabbau …«

»Ja«, bestätigte ihm sein Bettnachbar. »Man setzt Holzstöße oder Schränke unter die Firste und brennt sie ab, bis das Hangende herunterkommt. Das Feuer zermürbt den Fels und lässt das Erz von der Decke fallen.«

»Ist das sehr gefährlich?«

»Es geht so …« Bartholdi lächelte gequält und rieb sich das Bein. »Es hat mich mal erwischt, das Erz, als es herunterkam. Das war der Unfall, von dem ich dir schon erzählt habe. Der Feuerhüter hat eine der verantwortungsvollsten Aufgaben im ganzen Bergbau. Er beaufsichtigt die Feuerknappen beim Setzen der Schränke oder Holzstöße, er zündet sie an, beaufsichtigt den Brand und entwettert die Feuerörter und Stollen.«

»Entwettert?«, fragte Volpi.

Der Bergmeister hatte zugehört und schaltete sich ein:

»Ja, denn er allein weiß immer genau – wenn er denn sein Handwerk von der Pike auf versteht –, welche Entlüftungswege es an jeder Stelle im Berg gibt! Der Feuerhüter öffnet oder schließt demzufolge stets die richtigen Wettertüren, bevor die gesetzten Schränke angesteckt werden. Wenn er Fehler macht, können ganze Trupps von Hauern ersticken. Schlimm besonders nach dem Feuersetzen, wenn die Stickgase in toten, ungelüfteten Stollen oder Schrägschächten stehen, und die ahnungslosen Bergleute im Vertrauen auf gute Wetter wieder einfahren …«

Henning Adeners Stimme klang unheilvoll, und der kleine, untersetzte Mann schwankte wie eine Pappel im Wind: »Herbsts Erfahrung ist nicht zu ersetzen! Sein Gehilfe, Veit Warbeck, wird hart kämpfen müssen, aber es doch nicht allein bewältigen … Herbst hätte ihn noch über Jahre unterrichten müssen …«

Wie tragisch und wie komisch, dachte Volpi: Feuerhüter zu sein und durch einen Kaminbrand neben jener Frau zu sterben, für die man freventlich entflammt ist …«

»Wer überbringt Herbsts Gattin diese Hiobsbotschaft und den Ring?«, fragte Jobst trübselig.

Er blickte flehentlich zum Bergmeister. Aber Adener wehrte ab, sturmbewegt in den Morgen hinausfliegend.

Ratsapotheker Kohler hatte sich der kniffligen Aufgabe dankbar angenommen. Das Humanistenlatein des Probenrezepts war ihm Ansporn genug gewesen. Nachdem er den Inhalt der Urinflaschen eingedampft hatte, untersuchte er den Rückstand in der von Volpi beschriebenen Weise: Für diesen Nachweis ist es nicht weiter nötig, den Harn zu reinigen, hieß es in de urinis. Und weiter: Das beim Absieden zurückbleibende Salz ergibt in der Spiritusflamme eine blaue Farbe. Das ist das Salz in der Probe. Man mische ein Gran des Salzes oder ein entsprechendes Quantum zu gleichen Teilen mit Bärlapp- oder DrudenfußSporen (mit diesem Hexenmehl betreiben die Feuerspucker ihre Künste): Leuchtet die Flamme jetzt gelblich, ist die Probe rein. Schwarzer Rauch aber bedeutet Gift.

Kohler hatte nickend das New Kreutterbuch zu Rate gezogen und auch Volpis treffliche Beschreibung des Stechapfels im Botanologicon nochmals überflogen: Der Stechapfel, dessen pflaumengroße Frucht wie ein kleiner Morgenstern aussieht, enthält reichlich Gift, vor allem in den getrockneten Samen. Denn zu ihrem Schutze vorm Verzehr durch Tiere ist dieses in der Natur gut. Am grasbestandenen feuchten Waldhang, wo das Tageslicht gedämpft oder gar nicht auftrifft, fühlt sich die Pflanze am wohlsten. Oft steht sie dort in Ringen und kann von einem, der sich nicht auskennt, von der Blattform her für eine Kürbis- oder Gurken-Art genommen werden. Die weißen länglichen Blüten jedoch sollten jeden alarmieren, denn sie sehen aus wie die Posaunen von Jericho. Die stacheligen Nüsse stehen oben mittig auf den Astkreuzen und ähneln den Hüllen der wohlschmeckenden Esskastanie. Doch die Stacheln an diesen Schutzkapseln der Samen stechen sehr unangenehm und machen ein Pflücken nur schwer möglich. Dies möge jedem aufmerksamen Wissenden die Gefahr rechtzeitig anzeigen. Der Stechapfel wird höchstens knie-, hüft- oder schulterhoch und ist kein Baum, im Übrigen einjährig. Nicht selten fressen Weidetiere, Schweine und Schafe und Kühe, die man unbewacht gelassen, in ihrer Blödigkeit Stechäpfel beim Grasrupfen mit auf und verzucken daher reihenweis tot auf dem Boden. Das Fleisch vergifteter Tiere muss unbedingt vor dem Verzehr ausgiebig gekocht oder geräuchert werden!

Schwarzer Rauch hatte die Anwesenheit von Stechapfelgift angezeigt … Kohler hatte dem Boten noch ein Sapere aude! sowie eine Empfehlung an den großen Gelehrten mit auf den Weg gegeben.

Sibylle Herbst hätte Jobst am liebsten wieder die Tür gewiesen, obwohl der gute Mann ja ganz ohne Schuld war. So vorsichtig wie nur möglich hatte er ihr beizubringen versucht, was in der Nacht geschehen war … Doch wenn Jobst, der feine, ehrwürdige Hermes mit seiner Hiobsbotschaft, der sich so um Schonung bemühte, Tränen an ihr erwartet hatte, muss er sehr enttäuscht gewesen sein, dachte sie. Denn die Wut war alles, was sie beim Hören der Nachricht gefühlt hatte, was sie noch jetzt fühlte … ohnmächtige Wut, denn es war ja so ganz und gar unfassbar! Nicht Jobst galt freilich ihre Wut … Sondern dem, der sie in diese fürchterliche Lage gebracht … Jetzt war sie endlich allein mit den aufgepeitschten Gedanken.

Das Haus wirkte nicht stiller als gewöhnlich. Die Nachricht hatte keine hörbaren Auswirkungen auf diesen Morgen. Ihr kleiner Sohn Otto wurde von der Amme versorgt. Manchmal hörte man ihn auflachen, quengeln oder sonstwie Laut geben. Ein Geklapper von kleinen tönernen Spielpferdchen und hölzernen Wägelchen auf den Dielen … Das Kindermädchen schwätzte beruhigend irgendwelchen Blödsinn. Ihr Mann hatte seit Jahren den Garten zu seinem Reich erklärt und war selbst im Winter stets nur sporadisch im eigenen Haus. Garten und Gartenhaus hatten ihm übers Jahr als Zuhause gedient: zum Empfangen seiner Gespielin, zum Leben, zum Schlafen, und selbst die maroden Mauern der kümmerlichen Schwalbe schienen einladender gewesen zu sein …

Sibylle Herbst sah ins kleine Spiegeloval an der Wand. Die Tränen kamen einfach nicht … Ottos Tod lockte keine einzige hervor, nein, beileibe nicht, der Tod dieses lieblosen Viehs ließ sie völlig kalt. Und doch – jetzt zitterten ihre Wangen, ihre Züge verzerrten sich … Sie erinnerte sich, dass es zu Anfang, im Jahr ihrer ersten Verliebtheit, ganz anders gewesen war … Damals hatte er ihr auch diesen kostbaren venezianischen Spiegel geschenkt. Wie oft hatte sie hier weinend gesessen, wie viel Leid hatte sie diesem kleinen Spiegel geklagt. Denn die Zeit der ersten Liebe, der Blüte, war so rasch verflogen wie das Weiß und das Rosé der Obstbäume.

Die Jahre der Kümmernis, die sinnlos verstreichenden Jahre. Die Furcht vor dem Sterben bei lebendigem Leib … Dann die Erlösung, die Wiederbelebung. Das glühende Jahr der Blüte und des Frevels. Des schönen Frevels, der süßen Rache. Ein anderer stand ihr vor Augen, den traf jetzt die Wut. Den allein musste sie treffen … Er ist ein Narr geworden! Ein ganz anderer … Ich verstehe und kenne ihn nicht mehr, dachte Sibylle Herbst. Ich will ihn nicht mehr kennen! Wo waren Klugheit, Verstand, Ruhe, Gelassenheit, die sie neben all seiner Glut so an ihm geschätzt hatte? Der Spiegel antwortete ihr nur mit ihrem Bilde …

 

Sie fand ihren Körper noch immer schön. Kastanienbraunes Haar, für gewöhnlich zum Knoten geschlungen und unter der Hörnerhaube versteckt, fiel bis auf das Schachbrett des Kachelbodens herab. Schneeweiß und makellos war die Haut. Warum war Ottos Liebe zerbrochen? Warum war ihre Liebe zerbrochen? Weil er ihre Zartheit mit Füßen getreten hatte, weil er ein zügelloser, fühlloser Klotz gewesen war … Am fehlenden Kind, dachte sie erst. Doch als es dann gekommen war vor über einem Jahr, in der letzten Märzwoche, da war es ihm bloß ein Achselzucken wert gewesen. Ob er gespürt hatte, dass da etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen war?

Sie sah Otto und die Schwalbe so deutlich nebeneinander vor sich, als sei sie dort gewesen, im brennenden Haus. Sie hatte nie wirklich begriffen, dass er dazu anstands- und umstandslos in der Lage war, die ganze Zeit über … so wie sie nie geglaubt hatte, dass es Frauen gab, die anderen Frauen das Liebste wegnahmen, obwohl sie es doch besser wusste … War sie denn besser gewesen? Wenigstens hatte sie keiner anderen den Schatz gestohlen. Aber selbst die Verweigerung konnte manchmal einen schmerzlichen Tod bei lebendigem Leib bedeuten. Aber konnte sie auch einen Narren aus einem Besonnenen machen? Was für eine Hölle auf Erden … Darin bestand ihrer aller Meisterschaft, dachte sie voller Sarkasmus, sich durch scheinbar so unschuldiges Tun unentwegt das Leben schwer zu machen, sich Dinge vorzumachen, sich Sachen einzubilden … Alle schienen Tag und Nacht nichts anderes zu tun … Was für eine Närrin war sie selbst doch gewesen … Ihre Gedanken drehten sich im Kreis: Die Früchte so vieler Jahre von Ottos harter Arbeit, der ihr so fremden Arbeit eines ihr zuletzt so fremd gewordenen Mannes – jetzt waren sie ihr in den Schoß gefallen, und es schien so, als sei es ihre Rechnung gewesen, die aufgegangen … Als ob es ihr darauf angekommen wäre, als ob sie es darauf abgesehen hätte, als ob sie … Sie sah Otto wieder vor sich, wie so oft in den vergangenen Tagen und in ihren schlimmen Träumen, sah, wie er seine Unterschrift unter das geänderte Testament setzte. So verhasst ihr der Anblick auch war, der sie heimsuchte, als sei es nur dieses, was sie von ihm behalten sollte, für immer – so verrückt, so irre und wahnsinnig es auch war –, wie alles, dachte sie, wie die ganze verfluchte Welt war, so unvorstellbar verworfen. Dennoch! Da, plötzlich, in diesem Moment, liebte sie Otto wieder, und dieses seltsame Gefühl bestand neben der aufrichtigen Freude darüber, dass er tot war … Der Tod konnte nicht verbessern, was gewesen war, doch durch sein Eingreifen war Otto an sein Wort erinnert worden. Der Tote erst hatte ihrem Sohn eine Zukunft geschenkt. Otto war der tote Beweis dafür, dass es irgendwo auf dieser gottverlassenen Welt noch so etwas wie die Liebe gab. Sie grinste irr sich selbst im Spiegel an … ja, war sie denn vollends verrückt geworden, solche Dinge zu denken? Sie weinte plötzlich, schluchzte, heulte Rotz und Wasser, kaum mehr wissend, wen sie mehr betrauerte: die drei – irregeleitet und närrisch geworden durch das alles verzehrende Liebesfeuer – oder sich selbst.

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