Feuersetzen

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From the series: Hansekrimi
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Seltsam, dachte Volpi, während er dem Rauschen und dem Knarren des großen Mühlrades zuhörte … Vielleicht hatte sich sein Glück ja doch gewendet? Wenn es so wäre? Er musste an Fortunas Rad denken und lächelte schwach, für alle Welt unsichtbar und auch nur kurz: Fortunas Mühlrad! Angetrieben von den giftigen Wässern, die dem Berg entströmten, auf dem Goslars Glück gebaut war, insonderheit das Glück des Herrn, der ihn so gastfreundlich aufgenommen … Daniel Jobst, ein großer Mann, ein Wandschneider wie aus dem Bilderbuch der Gewerke! Der Erfolg seiner Handlung hatte sich aufs Körperformat geschlagen. Er war nicht mehr der drahtige 33er, der er vor 25 Jahren wahrscheinlich gewesen war, dachte Doktor Volpi, in den Belangen des Körpers wohlbeschlagen … Für sein fortgeschrittenes Alter dagegen wirkte Jobst sehr gut beieinander und wurde sicher oft für jünger gehalten. Er hatte, das zeigte seine Hausburg, im zurückliegenden Vierteljahrhundert keine Chance ungenutzt verstreichen lassen, mit Metallen und edlen Tuchen, mit Gewürzen und Farben Gewinn zu machen. War der Reichtum des Oheims Unruh bereits beträchtlich gewesen, so war der des Neffen nun fast unheimlich … Jobst hatte inzwischen mehrere Nachbarhäuser gekauft und alle Außenmauern in Stein aufführen lassen, sodass aus der Kemenate der an sich schon stattlichen Halskrause das Zentrum einer kleinen Stadtfestung geworden war. Nichts fürchtete Jobst inzwischen so sehr wie Feuer und Diebe.

Volpi drehte sich auf die andere Seite, er fühlte die knisternden Gänseflaumfedern im Kissenbezug aus französischer Seide … Wann hatte er zuletzt etwas anderes als Stroh unter der Wange gespürt? War es dieses betörende Gefühl von Luxus, das ihn keinen Schlaf finden ließ? Wie ein Strauchdieb sah er offenbar noch immer nicht aus, so schmutzig er auch am Tag noch gewesen war. Denn Unruhs Erbe, dieser feine, furchtsame Mann, hatte ihn bereitwillig aufgenommen. Bartholdi hatte es sich nicht nehmen lassen, vorbeizuschauen, als er die Aktenflut kanalisiert hatte. Jobst und Bartholdi hatten in der Bibliophilie eine gemeinsame Leidenschaft, und der Kleine war ein gern gesehener und bevorzugt behandelter Gast, wie es schien. Er brauchte nicht nach Hause zu laufen, sondern konnte ebenfalls bei Jobst übernachten. Als Volpi todmüde den Rückzug angetreten hatte, waren Hausherr und Archivar noch ganz bei ihrer Sache geblieben …

Volpi drehte sich behaglich auf die andere Seite. Nein, billiger wäre es kaum gegangen. Besser hätte er es gar nicht treffen können. In diesem reichen Haus, im Gespräch mit diesem belesenen Gönner, würde das Gedicht für Monika Bacchiglione wie von selbst entstehen! Einschlafen konnte er aber nicht, trotz – oder gerade wegen – dieser schönen, gänzlich unverhofft aufgeschienenen Aussichten. Das ihm so generös angebotene unbekannte lateinische Gedicht vorzunehmen … daran war ohnehin kein Gedanke gewesen … wo der Brief an Tomaso noch wartete.

Dann war Volpi doch eingeschlafen, denn er wachte schweißnass wieder auf, nach einem schrecklichen Nachtgesicht! Es schlug halb … Halb wie viel? Zu dumm. Wenn man erst einmal eingeschlafen war, dann hatte es sich mit dem Uhrenschlagenwissen … Halb zwei, halb drei? Wie auch immer … Volpi hatte im Traum auf einer großen Blumenwiese einem Drachen gegenübergestanden, so lang wie ein Heufuhrwerk, mit einem speckigen, hellen Schweinehinterleib. Vorn aber hatte er schwarze Borsten am Kopf wie ein Wildschwein. Die Flügel einer gewaltigen Fledermaus, auch deren Ohren und einen Schmetterlingsrüssel. Am Bauch gelb, weiß und scheckig, und Flügel und Oberteil schwarz; der halbe Schwanz wie ein Schneckenhaus krumblicht. Ganz kleine, fast nur punktgroße, tückische Fuchsaugen hatte das Unvieh auf ihn gerichtet, ihn regelrecht damit aufpieken wollen … Er – der heilige Volpi dagegen – hatte eine viel zu große Lanze in der Hand gehalten, einen wahren Maibaum von Lanze … Spielend leicht hätte er, mit gewaltigen Kräften begabt, den Drachen damit erstechen oder noch besser erschlagen können … Doch der hatte sich verwandelt. Nicht im Mindesten mehr feindselig war er, geschrumpft wie aufs „Mutabor!“ eines Hexenmeisters, und machte Anstalten, die große gelbe und weiße Hundskamille zu fressen: Aus der dicken Schlange mit Flügeln war eine ganz profane Milchkuh geworden! Seine Lanze hatte er zurückgelassen, da sie unnötig war … Sie schlug, einer gefällten Buche gleich, in die Wiesenblumen. So friedlich, so harmlos, so niedlich beinahe stand die Kuh vor ihm … Ihre stumpfen Kiefer mahlten, sie muhte … Er war wieder der kleine Hütejunge von einst, passte auf die Kühe des väterlichen Landgutes in den Euganeischen Hügeln bei Monterosso auf, wo die rote Erde durchs Gras brach … Volpi trat, erfreut über diese Entwicklung, an die friedlich Grasende heran, um ihr die Flanke zu streicheln. Da erst sah er das Feuer in den Kuhaugen und spürte die Hitze der Flammen, die aus ihrem geöffneten Maul hervorschossen und ihn einhüllten wie ein loderndes, weiß glühendes Leichentuch …

Das war der Moment gewesen, in dem ihn sein aufgepeitschtes Gemüt hatte aufwachen lassen. Ein Alp! So gegenwärtig, dass Volpi glaubte, den höllischen Anhauch des Ungetüms noch riechen zu können. Der Schlaf wollte ihn schon wieder einfangen, und er sehnte sich auch danach, denn er wollte dieser beängstigenden Vermutung keinen Raum bieten, als er eine Glocke schlagen hörte. Bim-bim-bim-… Monoton. Aufgeregt. Stundenschläge waren das nicht … Dann waren Stimmen zu hören: Rufe, Schreie. Die kamen von der Straße. Ein Aufruhr? Einbruch der Herzoglichen? Auch das Unruh-Haus machte seinem Namen jetzt alle erdenkliche Ehre.

Eine Magd hämmerte gegen die Tür und rief: »Ihr müsst aufstehen, Herr! Ihr müsst Euch ankleiden und mit hinausgehen! Bei der Schwalbe wüten die Teufelszungen! Hört Ihr! Wacht auf! Kommt mit raus!«

Endlich begriff er, was los war: In der Nachbarschaft brannte es!

Keinen Steinwurf entfernt quoll dichter Rauch aus einem Hausdach. Flammen blakten wie hinter dunkelgrauen Schleiern. In den Gröpern hieß die Straße. Sie verlief parallel zur Straße an der Abzucht, in gerader Linie hoch zum Markt. Das Haus gehörte einer Witwe namens Stobeken, die allseits nur als die Schwalbe bekannt war – auch ihr Haus trug diesen Namen. Im Falle des Hauses hatten die Schnitzereien an den Knaggen zur Benennung inspiriert, da waren Schwalbenschwänze zu sehen. Im Falle der Witwe war es der Lebenswandel, denn sie stand im Ruf, seit ihr Gatte im letzten Aufbegehren der Schmalkalder bei Mühlberg auf dem Feld geblieben war, mit leichten Schwingen von einem zum anderen Liebhaber zu fliegen …

Auf der Straße war reichlich Volk versammelt, als Volpi hinzukam, doch er sah wenig Anstrengung, dem Feuer zu wehren. Zwei Männer schleppten eine halbvolle Bütte mit Wasser heran. Die große Menge der Schaulustigen aber war paralysiert vom Anblick der ins Schwarz hinaufzüngelnden Dachbefeuerung. Hörte man Wehklagen? Wie hatte die Magd sie genannt? Feuerzungen! Nein – Satanszungen. Oder?

»Zurück!«, ging plötzlich der Ruf.

Krachend kamen kleinere Dachschwellen herunter und lagen schwarz und rauchend am Boden, dann folgten teils verkohlte, teils brennende Holzschindeln. Ihr Herabprasseln trieb die untätig Herumstehenden zurück.

»Toren! Was steht ihr da und haltet Maulaffen feil!«, schrie Daniel Jobst, als er ein paar Augenblicke später erschien. »Schafft mehr Wasser her! Wir sollten die Wände der Schwalbe einreißen! Das Feuer darf nicht übergreifen! Schützt die Nachbarhäuser, indem ihr die Dächer und Mauern gegen die Flammen verteidigt! Mit Wasser, mit Sand, mit Feuerpatschen! Wo ist Vera Stobeken? Sie wird nichts dawider einwenden können – kann ihr Haus ohnehin nicht mehr retten! Wo bleiben die Stangen mit den Haken –, die Feuerkruken? Rasch, her damit! Die Steine müssen fallen … Die Balken … Ist das etwa alles, was ihr an Wasser vorrätig habt?«

Mit einem Blick hatten er und Volpi sich verständigt. Der Gelehrte wusste um die Größe der Gefahr. Er war zweimal selbst vom Feuer heimgesucht und in Padua um all sein Hab und Gut gebracht worden. So ein Feuer konnte eine ganze Stadt in Schutt und Asche legen. Jobsts gewichtiges Wort brachte langsam Leben in die Gaffer. Aber Volpi ahnte bereits, dass es zu spät war … Er dachte an das, was ihm einmal einer sagte, der schon viele Feuer erlebt und zu löschen unternommen hatte: In der ersten Minute löschst du ein Feuer mit einem Krug voll Wasser. In der zweiten Minute mit einem Eimer Wasser. In der dritten Minute mit einem Anker Wasser. Und danach? Versuchst du einfach, dein Bestes zu geben …

»Wo sind die Bütten aus den anderen Häusern? Holt eure Eimer und stellt euch in einer Reihe auf, Leute: Wir müssen eine Kette bis zur Abzucht bilden! Wo ist der nächste Pipen-Brunnen? Beim Heldt im Hof? Also eine zweite Kette dorthin!«

Man rannte, holte Gerät, rief sich kleine Befehle zu. Jetzt endlich zögerte keiner mehr. Inzwischen waren auch die Anwohner aus weiter entfernten Straßen hinzugekommen und gliederten sich in die Ketten ein, die Wasser heranbrachten, nachdem die Tropfen aus den Vorratsbütten nutzlos auf dem brennenden Dach verpufft waren. Volpi erkannte Bartholdi und nickte ihm zu. Dann lenkte ihn der Anblick eines hageren, uralten Mannes in einem roten Kapuzenmantel ab. Viele bekreuzigten sich, und es wurde gemurmelt: »Der Feuerreiter!«

Der Rote saß auf einem Schimmel und ritt gravitätisch die Straße vorm brennenden Haus hinunter.

»Lasst das Wehklagen! Um Gottes Willen – sonst ist es vergebens! Lasst um Herrgotts Willen das Klagen!«, forderte er und deklamierte mit Falsettstimme im Fortreiten, nach Priesterart ständig das Kreuz schlagend:

»Sei willkommen, du feuriger Gast,

Greif nicht weiter, als was du hast!

Das zähl ich dir, Feuer, zur Buß!

Im Namen Gottes, des Vaters,

Des Sohnes und des Heiligen Geistes!

 

Im Namen der heiligen Dreifaltigkeit!

Im Namen der allerheiligen Dreieinigkeit!«

Der Schimmel fiel in Trab, der Rote ritt die Straße In den Gröpern hinauf, um bei erster Gelegenheit links einzubiegen, wo es zu den Töpferöfen ging.

»Was soll das? Und wer ist das?«, fragte Volpi.

»Groenewold, der Türmer!«, sagte Bartholdi. »Hockt auf dem Südturm der Stephani-Basilika und spielt gern den Feuerreiter, denn er sieht es ja auch meistens als Erster. Es ist ein alter Brauch – das Feuer besprechen und es dabei umreiten. Dreimal insgesamt …«

Jobsts Stimme donnerte wieder, während er das Anlegen der Leitern beaufsichtigte. Eine fragile Konstruktion wurde herangefahren.

»Die hat Damian Baader, unser verrückter Wundarzt gebaut!«, sagte Bartholdi. »Angeblich nach einer Zeichnung des großen Leonardo, die er irgendwo gesehen hat … «

»Sieht mir ganz und gar nicht wie das Produkt eines Verrückten aus …«, staunte Volpi, der gerade noch sah, wie durch das Drehen an einer Kurbel ein Holm mit Tritt-Sprossen ausgefahren wurde, auf dem man lotrecht in die Höhe klettern konnte.

Keiner hatte die Hausbesitzerin gesehen. Jobst, dieser kernige, untersetzte Mann mit der gesunden Gesichtsfarbe und den schon fast weißen Haaren, wurde aschfahl und fragte:

»Ist sie etwa noch da drin?«

Volpi umging die Barriere der qualmenden Trümmer und rüttelte an der Tür – sie war von innen verriegelt. Unschlüssig blickte er zu der kleinen Fensteröffnung linkerhand. Absurder Gedanke, da hindurchkriechen zu wollen, selbst für den kleinen Mann neben ihm war das zu eng. Da hätte einer schon wirklich eine Schlange sein müssen … Volpi hämmerte gegen das Holz. Nachdruck war in seinen Schlägen, doch die Tür rührte sich nicht.

»Wenn der breite Holzriegel vorliegt, könnt Ihr Euch lange mühen!«, rief Bartholdi und besah sich die grüne Tür.

»Da müssen wir schon stärkere Geschütze auffahren … Vorsicht!«

Die Menschen hinter ihnen wichen schreiend zurück, während Volpi Bartholdi ruckhaft mit nach vorne riss, sodass er selbst an seiner rechten Schulter schmerzhaft spürte, wie fest die Tür in ihren Angeln saß. Eine donnernd auf die Erde schlagende Saumschwelle verfehlte sie nur um Haaresbreite.

»Die kommt uns gerade recht! Fasst mit an, aber Vorsicht mit der Glut!«, schrie Bartholdi. »Das ist genau der Rammbock, den wir brauchen! Verzeiht, aber allein … schaffe ich es nicht …«

Endlich überwanden sie die Furcht – die nächsten Nachbarn der Schwalbe: der Walker Till und die beiden Buhlmanns – Vater Kilian und Sohn Michael –, außerdem die unweit wohnenden Tuchmacher. Auch der Bergmeister Henning Adener war unter ihnen sowie einige andere, die weit über die Zeit im Trollmönch gezecht hatten und nicht sehr standfest auf den Beinen waren. Alle sahen angsterfüllt nach oben, aber mehr wollte im Augenblick – so hofften sie inständig – nicht herunterkommen … Also packten sie beherzt zu, lieber ein kurzes und schmerzloses Ende, als lange leiden zu müssen … Vereint wuchteten sie den rauchenden Träger an. Schmerzensschreie, Flüche, aber sie ließen nicht locker und brachten es endlich dahin, dass der kantige Pfahl senkrecht auf die Eingangstür traf, bevor sie ihn fallen ließen. Der Türriegel hatte aufgegeben, aber die Tür war heil geblieben und auf den Boden gefallen … Volpi und Bartholdi stürzten ins Haus, wohingegen die anderen ängstlich draußen blieben. Die Nachbarn sorgten sich verständlicherweise mehr um sich selbst und um die eigenen Häuser. Bartholdi und Volpi schlossen die Augen bis auf einen Spalt und pressten die Ärmel ihrer Jacken vor Münder und Nasen, um das Keuchen zu vermeiden. Man sah fast nichts, denn ein feiner beißender Anhauch lungerte überall, wenngleich unten noch nichts brannte … Sie drangen in die hintere Stube im Erdgeschoss. Volpi nahm den schützenden Arm vom Gesicht weg. Sofort schossen ihm die Tränen in die Augen. Auch Bartholdi fing jetzt an zu husten, sie hechelten, hasteten zurück zur Tür, um sich noch einmal die Lungen vollzusaugen.

»Böse Wetter!«, keuchte Bartholdi. »Die Luft wird vom Feuer droben verzehrt und abgezogen. Das Haus hat am Dach zu brennen begonnen, vielleicht am Schornstein.«

Die von Jobst zusammengetrommelten Männer mit den Feuerhaken verharrten unschlüssig und ihr Anführer rief: »Wenn ihr sie jetzt nicht findet, die Stobeken’sche, müssen wir die Sache beenden. Wer weiß, wo sie sich herumtreibt …«

»Die Tür war doch von innen verriegelt, wo soll sie sich da schon herumtreiben, wenn nicht drinnen?«, keuchte Volpi.

»Es gibt ja auch einen hinteren Ausgang – zum Hof«, erklärte Jobst.

Auf den Dächern der seitlich angrenzenden Häuser begannen die Nachbarn, mit Besen und Feuerpatschen auf die Flammen einzuschlagen, die nach ihrem Besitz leckten. Kleine Wasserladungen flogen aus ledernen Eimern. Bartholdi und Volpi wurden übergossen, bevor sie wieder ins brennende Haus stürmten. Die Stiege aus schönstem Eichenholz stand noch unbetroffen. Aber es war die reinste Räucherkammer. Volpi rannte nach hinten, um nachzusehen. An der Tür zum Hof lag auch der Riegel vor … Also nichts wie hinauf!

Im ersten Stock war es heiß – im zweiten fast unerträglich –, aber selbst dort brannte es noch nicht. Es qualmte nur von der Decke herab. Sie sahen fast nichts vor lauter Rauch. Auf einem Tisch standen zwei Becher und eine kleine Bierkanne … Die Decke zum Dach fing seitlich, an den Wänden, wie die Luppe einer Esse zu glühen an. Auf dem Oberboden unterm Dach wütete der Brand. Durch eine der Fensteröffnungen, vor denen der Holzladen fehlte, sah Volpi die rote Gestalt des Feuerreiters wieder auf der Straße, wo es zuging wie in einem Ameisenhaufen. Durcheinander, Getriebe, Gewusel. Anrufungen verschiedener Heiliger. Eine alte Frau schrie unentwegt: »Helft, Heil’ge, helft! Florian – Agathe – Laurenz – Anton – Johannes – Paulus und Donatus – Nikolaus – Coloman – Maria und Josef – Vitus und Katharina – Könige – Evangelisten und Erzengel, oh drei Mann im Feuerofen, helft!«

Die Stimme des Feuerreiters mischte sich drein. Sie war die Beschwörung selbst:

»Ich gebiete dir, Feuer, bei Gottes Kraft,

Du wollest legen deine Flammen nieder,

So wie Marie behüt die Jungfernschaft

Vor allen Männern, keusch und rein.

Drum stelle, Feuer, dein Wüten ein,

Im Namen Gottes, des Vaters,

Des Sohnes und des Heiligen Geistes!

Im Namen der heiligen Dreifaltigkeit!

Im Namen der allerheiligen Dreieinigkeit!«

Volpi spürte, wie Bier über seine Lippen rann … sehr süßes Bier mit einem schlammigen Beigeschmack. Schon setzte sein Begleiter den Becher wieder an. Bartholdi sah jetzt noch unheimlicher aus als der rote Reiter. Schwarz verrußt war das Gesicht des Zwerges, und die Haare klebten, vom Wasser angeklatscht, auf seinem länglich und kantig wirkenden Schädel. Mit weißgrauen Ascheflocken waren sie überstäubt.

»Ihr seid ohnmächtig geworden. Zum Glück hat man uns noch etwas Bier übrig gelassen!« Bartholdi lächelte gezwungen und rieb sich das linke Bein. »Schnell runter und raus, hier ist niemand mehr!«, schrie er, dann nahm er ebenfalls einen tüchtigen Schluck Bier. »Die Fensterlöcher sind Zugpferde für den roten Hahn da droben. Der kommt jetzt mit Fahrt nach unten … Und Ihr: Los, kommt zu Euch!«

Er zerrte am Wams des anderen.

Volpi aber beharrte keuchend: »Ich will erst noch ganz hinauf! Muss es versuchen! Ob ich sie dort finde? Ewig würde ich es mir vorwerfen, nicht nachgesehen zu haben …«

»Du bist verrückt!«, entgegnete Bartholdi, angesichts der Gefahr ins Duzen fallend. »Was kann da oben schon noch sein? Jedenfalls keine lebende Schwalbe mehr!«

Aber er sah, dass dieser sonderbare Kauz, der eben noch fast erstickt wäre, zum Letzten entschlossen war. Und ein Feigling wollte Bartholdi nicht sein. Das war immer sein Problem gewesen … Warum vermutete jeder in einem Kleinen eine Memme? Also los … Vorher nahmen sie beide noch einen letzten Schluck von diesem Bier … Rundum an den Wänden fielen dampfende Lehmbrocken von der Decke. Der Dachstock brannte lichterloh …

Übers oberste Ende der Stiege zu kommen, fiel Volpi schwer: Etwas zerrte an seinen Gliedern, er fühlte eine bleierne Schwere … Der beißende Rauch drang in die Nase – auch wenn sie sich die Tücher enger um die Köpfe gebunden hatten. Sie waren im Flammenkreis der innersten Hölle. Kein Dach mehr gab es da oben, keine Wände … bloß die aufragenden Zungen des Feuers. Eine Rauchglocke stand am Nachthimmel. Glühende Balken querten das Flammeninferno. Ihr glimmendes Gespinst konnte jeden Moment zusammensacken. Die Hitze wollte ihnen die Kleider vom Leib brennen, und der Boden unter ihnen schien in knisternder Bewegung zu sein. Im Hintergrund sah man die besonders mürben Stellen an der Wand, wo es am Grund bereits schwelte … Sie sahen Stück für Stück nach unten durchfallen. Auf den Dächern links und rechts waren die Nachbarn, verzweifelte Anstrengungen unternehmend. Sie prügelten ihre Dächer mit Feuerpatschen und riefen sich Unverständliches zu. Ab und zu schossen Wasserstrahlen herab und wurden zu Dampf, noch bevor sie auf den heißen Boden trafen …

»Da!«

Volpi deutete auf den schwarzen Fleck in der Mitte des Raumes, nahe beim Schornstein, der aus Lehm gefertigt war. Pfeifende und fauchende Feuerschlote brachen überall auf wie Geysire, wo immer neue Luftlöcher im qualmenden Grund entstanden. Jetzt sah Bartholdi, was Volpi meinte. Eine Art dunkles Podest … Ein Floß auf dem Styx. So schien es zu schwimmen auf lauter Glut und Asche, auf einem in Flammen aufgehenden schwarzen See … das einstige Bett!

»Was willst du da?«, fragte Bartholdi fassungslos. »Bis dahin kommen wir in diesem Leben nie!«

Er schüttelte entsetzt den Kopf und wollte zurück, das sah man deutlich. Mit Volpis Neugier aber war es ein eigenartiges Ding … Unmöglich, sie zu bezwingen! Schon war er dabei, sich nach vorne zu tasten. Sein Fuß suchte die Festigkeit des Untergrundes zu erproben. Es knirschte, alles unter ihm schien in Bewegung zu geraten. Aber noch hielt die Decke. Wenn erst die Tragbalken durchgebrannt wären, würde sie abstürzen. Aber da dies keinesfalls überall gleichzeitig geschähe, suchte er sich zu trösten, drohte wohl mehr ein Absacken … Knack – knack – knack! … Das war der Tanz auf einem feuerspeienden Berg. Volpi kam über den Punkt hinaus, an dem es noch ein leichter, sicherer Schritt zurück gewesen wäre. Dann ließ er die Vorsicht fahren und sprang zu dem schwarzen Sockel hin. Heilfroh, es lebend bis dorthin geschafft zu haben, begriff er im ersten Moment gar nicht, was er zu Gesicht bekam …

Wird ein Stück rohes Fleisch dem Feuer ausgesetzt, überzieht sich seine zuvor rosa oder violett wirkende Oberfläche zuerst mit einem weißgrauen Schleier. Volpi dachte an den herrlichen Duft, der in diesem Moment entsteht, und sah und roch das große Stück Lamm, das seine Mutter überm offenen Feuer garte … Es folgen Bräunungen, einzelne Stege, fahnenartige Felder, flächige Braunstellen … die Höhen werden schon muskatbraun, während sich das ursprüngliche weißliche Grau in ein dunkleres verwandelt und mehr und mehr vom durchgehenden Hellbraun verdrängt wird … Und so geht es weiter, bis die Stege sich schwärzen, dann die Flächen dunkelbraun und schließlich auch gänzlich schwarz werden. Dies geschieht etwa, wenn man ein Stück Fleisch überm oder im Feuer vergisst … Volpi fühlte eine merkwürdige Veränderung der Wahrnehmung … Die Bilder verschwammen kurz, fluktuierten … Das musste am Rauch liegen, dachte er, genauso wie die Beschleunigung des Atems. Zugleich fühlte er, wie sein Herz zu rasen begann. Erregung am ganzen Körper … Vergiftung durch die feindliche Atmosphäre … Nimm dich zusammen …

Von der Bettstatt war nur ein verkohltes Nachbild übrig geblieben, und von den beiden Menschen darin auch … denn es waren Menschen gewesen! Wie schwarze Stelen lagen sie nun vor Volpi, nahe beieinander, als wären sie im Liebesakt vereint … Falsch, es sah nicht bloß so aus – sie waren vereint gewesen … Nun war es das äscherne Nachbild ihrer Vereinigung bloß … Volpi nahm es wahr wie ein Naturwunder, wandte sich nicht ab, sondern blickte weiter wie gebannt auf die beiden Körper – gleichsam zwei schwach gekrümmte, aneinandergeschmiegte dickere Äste. Diese verbrannten Leiber, in ihrer fragilen Starre, wie aus Holzkohle geschnitzt, waren so absonderlich anzusehen, dass es ihn weder grauste noch verwunderte. Wo ihre Köpfe gesessen hatten, blähten sich kegelförmige Blasen, verkohlten, gestauchten Brotlaiben ähnlich. Haut und Haar waren verschwunden … Nur eine hellere Schmauchspur, vielleicht vom brennenden Baldachin des Bettes, lag um die schwarzen Schädel. Das Knochenwerk war fast ganz weg oder geschrumpft. Hie und da stach noch etwas davon durch die bröckelige Kruste. Unter der verbrannten Haut gähnte ein Hohlraum. Das Leben war in heiße Luft aufgegangen. Volpis Geist mühte sich, Boden zu gewinnen. Es gab keine Bilder in seinem Kopf, die dem gleichkamen. Von Opfern eines Vulkanausbruches hatte er gehört, die einst geröstet in der Lava gefunden worden waren. Aber die Holzschnitte und Kupfer davon, soweit er sie kannte, waren undeutlich gewesen. Bei öffentlichen Verbrennungen hatte er wohl Menschen brennen sehen, doch stürzten diese stets im Feuerkegel zusammen, bevor das Spektakel zu Ende ging. Man sah später nichts mehr von ihrer Gestalt. Diese dort lagen nun unmittelbar vor ihm … Die Frau … musste die Schwalbe gewesen sein … dagegen der Mann?

 

Wieder wurde Volpi schwummerig, und die Bilder gerannen zu reiner Schwärze. Er vernahm Bartholdis Stimme neben sich: »Einer ihrer Liebhaber!«

Der Kleine hatte es also doch gewagt, ihm zu folgen. Doch – wie sah der andere aus? Das geschwärzte Gesicht Bartholdis verzerrte sich zu einem Kürbis, dann wurde es wieder klein wie eine Birne. Als Volpi kurz die Augen schloss, um sie anschließend auf die beiden Verkohlten zu richten, schrie er auf: »Oh, mein Gott!«

Da grinsten ihn zwei lebende Verkohlte an! Schnitten Grimassen! Und redeten zu ihm! Waren das nicht der Leib und das Antlitz Johannas? Ihn grauste, denn so war es! Und neben ihr – Jacopo, ihr Amant, der ihm Hörner aufgesetzt … Ganz deutlich vernahm er ihre einschmeichelnden, rauchigen Stimmen: »Den großen wie den kleinen Mann – uns alle kriegt er irgendwann!«

»Nein!«

Jetzt schrie auch Bartholdi … Sah er die Untoten ebenfalls? Wie sie mit schwarz-kohligen Händen nach ihnen langten, mit fahrigen länglichen Klauen? Wie ihre Köpfe zu großen schwarzen Schädeln wurden, deren Deckel aufgingen, sodass man in die Esse zweier Feuerschalen blickte … inkohlte Kalebassen mit glühenden Kernen … Wie es in ihren leeren Augenhöhlen brannte? Wie ihre Münder sich öffneten und sie beide, Volpi und seinen gleichsam zitternden Nebenmann, mit Höllenrachen zu umschließen suchten? … Das alles musste Bartholdi doch auch sehen? Hoffentlich! Denn wenn der andere es auch sah, war er – Pietro Paolo Volpi, Doktor der Philosophie, in Logik wohlerfahren – … noch nicht verrückt!

»Aaaaaaaaah… !«

Ihr beider Schrei galt der plötzlich spürbar werdenden Bewegung unter ihnen: Die Decke begann abzusacken! Mit lautem Knall war der mittlere Tragbalken gebrochen … Es ging doch ganz anders vonstatten, als Volpi es innerlich vorausberechnet hatte, als er noch mehr bei Sinnen gewesen war: Die Decke bekam einen eklatanten Knick, der durch die Mitte des Raumes lief, sodass die Fahrt zunächst einfach abwärts ging. Dann aber, nach kurzer Absenkung, rissen die beiden Hälften am Knick auseinander. Da, wo Volpi und Bartholdi eben noch gestanden und gestarrt hatten, war plötzlich ein Loch, durch das zunächst der Schlot des Rauchabzuges zusammenkrachend verschwand. Und dann kamen sie an die Reihe … Es ging alles so rasend schnell … Der Boden wurde zum Trichter. Ihre Anstrengungen, dem sich vergrößernden Loch zu entfliehen, kamen zu spät, nirgends bot sich ein Halt. Die schwarzen Astgerippe der Toten und ihr kohliges Totenbett rutschten zusammen. Im eigenen Abstürzen konnten Volpi und Bartholdi sehen, wie sich die beiden Kohlekörper samt ihrem Lager raspelnd in Stücke spalteten. Die Knochenreste, zuvor nur noch durch die brandige Kruste gehalten, vereinzelten sich. Und schon befanden sie sich inmitten eines Strudels aus Funken, heißen Kohlestücken, Asche, brennendem Holz und Grus, Staub und Knochensplittern, Stroh und Lehmbrocken …

Im Moment der Überraschung die Tatsache vergessend, dass vielleicht gleich alles vorbei wäre, krampfte Volpi das Gesicht zusammen und fasste rasch an die Stelle, wo gerade noch die Hand des Toten als schwarzes Nachbild ins Rutschen geriet. Er bekam in die Finger, was er dort hatte blinken sehen. Dann rasselte alles … sie mittendrin … im Mahlstrom nach unten. Direkt vor Volpis Augen passierte etwas mit Bartholdi. Er wurde zu Kohle, zu einem dieser Totenäste … Knoten von verkohltem Holz wölbten sich da, wo eben noch rußgeschwärzte Haut gewesen war … Aber das wollte sein Geist nicht mehr wahrhaben … Seine Ohren hörten noch die Stimme des Feuerreiters, der draußen eben zum dritten Mal vorbeikam. Er spürte Schmerzen im Nacken und auf der Brust, fühlte einzelne Punkte an sich, die bereits zu brennen schienen … Laute Geräusche, als würden Knochen unter großer Anspannung brechen, wie dicke spröde Hölzer … Dann wurde es schwarz vor Volpis Augen und in seinem Geist.

»Ich gebiet dir, Feuer,

Du wollest legen deine Glut,

Bei Jesu Christi teurem Blut,

Das er für uns vergossen hat,

Für unsre Sünd und Missetat,

Das zähl ich dir, Feuer, zur Buß,

Im Namen Gottes, des Vaters,

Des Sohnes und des Heiligen Geistes!

Im Namen der heiligen Dreifaltigkeit!

Im Namen der allerheiligen Dreieinigkeit!«

Jesus Nazarenus, Rex Judaeorum,

Hilf uns aus diesen Feuersnöten

Und bewahre Land und Grenz

Vor aller Seuch und Pestilenz …«

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