Eigentlich ganz einfach

Text
Author:
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Eigentlich ganz einfach
Font:Smaller АаLarger Aa

.

.

EIGENTLICH GANZ EINFACH

eine amüsante Erzählung von Tom Lewis

Vorwort

SORRY, dieses Buch sollte ursprünglich ein Fachbuch werden und grundsätzliche und wichtige Informationen zu Bankgeschäften und Geldanlage geben.

Doch dann kam dem schon etwas in die Jahre gekommenen, glücklich verheirateten Erzähler dieses hübsche, junge Ding dazwischen und brachte alles durcheinander.

Und so ist nun eine humorvolle Erzählung herausgekommen, die mehr von Lust und Leiden eines „Herrn im besten Alter“, dessen Entwicklungen und Verstrickungen, Gedanken- und Gefühlswelten berichtet.

Oft genug führen ihn ungeplante Testosteronschübe in Kombination mit evolutionsgeschichtlich angelegten Reaktionen des Stammhirns in peinliche Situationen und bestätigen, dass sich eben jeder so gut blamiert, wie er kann.

So ist es dann fast doch noch ein Fachbuch geworden, nur eben zu einem anderen Thema.

Hier bekommt Frau tiefe Einblicke in männliche Gefühlswelten und Mann erkennt, dass er damit nicht alleine ist.

Die semi-biographische Erzählung macht die Geschichte authentisch, aber man kann nie sicher sein, was tatsächlich passiert und was nur Fiktion ist.

Leichte Kost, ideal für Urlaub und Freizeit, witzig präsentiert und mit Happy-End-Garantie.

Sorry nochmals, etwas Wissensvermittlung in Sachen Geld ist dann doch noch geblieben. Schadet ja aber nicht, wenn dabei der Spaß nicht zu kurz kommt – oder ?

Viel Spaß Ihr Tom Lewis

Kapitel 1: Das Interview

„Das wollen Sie wirklich alles wissen?“

Ich schaute die junge Frau an, die auf der Couch meiner Besprechungsecke Platz genommen hatte. Auf dem Schoß hatte sie einen Schreibblock, einen Stift hielt sie locker in ihrer zierlichen Hand. Interessiert blickte sie sich in meinem Büro um. Frau Herold, meine Sekretärin, hatte bereits Kaffee serviert und wie immer ein paar Kekse dazu gestellt.

Als Regina Berger war sie mir vorgestellt worden. Eine gepflegte Erscheinung, ausgesprochen hübsch und mit einer wahnsinnig sympathischen Ausstrahlung. Sympathisch? Erotisch? Oder beides? Ich war mir da irgendwie noch nicht ganz sicher, man könnte es auch verunsichert nennen.

Etwa Mitte 20, blonde, halblange Haare. Fein geschnittenes Gesicht, dezent geschminkt, mit sinnlichen Lippen und funkelnden, stahlblauen, großen, lächelnden Augen. Schlank, aber nicht dürr - eine echt bombenmäßige Figur eben.

Sommerlich gekleidet im eleganten, aber legeren Businesslook. Schwarzer Rock, Länge aus puritanisch, moralischer Sicht in keinster Weise beanstandbar. Aber doch so, dass man die züchtig übereinander geschlagenen Beine als solche mit Model-Qualitäten erkennen konnte. Dazu eines dieser modischen Edel-Shirts, deren Sinn augenscheinlich erst in zweiter Linie darin besteht Blöße zu verdecken. Eher schien dieses Shirt den Inhalt, mit dem es schon die Natur auffällig gut gemeint hatte, noch äußerst reizvoll zu betonen.

Ein wirklich attraktives und nettes Wesen dachte ich, während ich mit einem halben Auge verstohlen hinüber blickte. Faszinierend welchen Charme sie versprühte, wie diese großen Augen lächeln konnten. Dabei machte sie gar nichts Besonderes. Sie wartete einfach geduldig bis ich das Papierdurcheinander auf meinem Schreibtisch in verschiedene Stapel sortiert hatte.

Das Mädel gefiel mir ausgesprochen gut. Sie war beides: sympathisch und irgendwie erotisch war sie auch, auf jeden Fall.

Wie gefallen?

Du bist über fünfzig – knapp zwar, aber immerhin - willst du etwa etwas mit ihr anfangen, sie womöglich heiraten oder – altersgerechter - sie adoptieren? Du alter Esel, hörte ich meine innere Stimme zu mir sagen.

In letzter Zeit hatte ich öfter solche Anwandlungen. Eigentlich fühle ich mich jung, so etwa wie noch mit 29. Was mich bloß immer wieder verstört, ist dass auch die Kinder schon Mitte 20 sind – etwa so alt wie dieses Wahnsinns-Mädel da auf meiner Besuchercouch.

Ich versuchte mich wieder zu konzentrieren, was angesichts des Anblicks gar nicht so einfach war.

Das Mädel mir gegenüber war Reporterin eines großen Lifestyle-Blattes. Sie wollte mich in meiner Funktion als Vorstandsvorsitzender einer großen regionalen Bank interviewen. Bestimmt hatte sie Publizistik studiert, vielleicht sogar noch Germanistik oder etwas Ähnliches dazu. Sie war sicher blitzgescheit und erwartete ein Gespräch auf allerhöchstem Niveau.

Frau Herold hatte hierfür mit ihrer Redaktion zwei Termine vereinbart. Den ersten für heute, genau eine Stunde.

Ich war mir schon jetzt sicher, dass Frau Herold peinlichst auf die Zeit achten und keine Minute zugeben würde. Sie wird in genau 60 Minuten wieder ihren roten Wuschelkopf zur Türe hereinstecken – garantiert, so wie immer.

Schade eigentlich, zumindest in diesem speziellen Fall.

Danach bleibt noch eine halbe Stunde für letzte Vorbereitungen zur Aufsichtsratssitzung. Dann kommen die anderen Herren Vorstände, Aufsichtsräte und Frau Meier, das einzige weibliche Mitglied des Aufsichtsrats. Die ganze erlesene Runde bringt es zusammen locker auf über tausend Jahre, wobei Kollege Peters mit Anfang vierzig und natürlich ich den Altersschnitt deutlich drücken.

Welch eine Augenweide war jetzt diese Frau Berger im Vergleich zu den alten Männern mit denen ich bald um einen großen, massiven Holztisch sitzen und über die immer gleichen Themen reden muss.

Auch Frau Meier besticht mehr durch ihr freundliches Wesen und ihre Erfahrung, denn durch ihre Optik. Das war bestimmt nicht immer so. Vor 30, 40 Jahren war wahrscheinlich auch sie ein ganz schön flotter Feger. Unwillkürlich dachte ich in diesem Moment, dass mein Sohn den Ausdruck ‚flotter Feger‘ für ganz schön altmodisch, stopp, uncool heißt dies heute natürlich, halten würde. Er würde wahrscheinlich sogar eher den Ausdruck ‚geil‘ benutzen, ein Begriff der wiederum für mich immer noch eine ganz andere Bedeutung hat.

Gut, dass niemand hört was man so denkt. Irgendwie wäre man immer blamiert – so oder so.

Ich mag Frau Meier und versuche immer extra charmant zu ihr zu sein. Ein dosiertes und humorvolles anflirten kommt nach meiner Erfahrung bei allen, besonders aber bei reiferen Frauen, meist gut an. Wer freut sich nicht, wenn ihm das andere Geschlecht Aufmerksamkeit entgegen bringt? Die Sympathie und Unterstützung, insbesondere erfahrener Frauen, zu genießen ist Gold wert. Aber das wissen Männer meist erst, wenn auch sie schon ein bisschen länger leben.

Wer Frau Meier einmal richtig in Fahrt erlebt hat, kann ein Lied davon singen. Da bleibt vom Mann, der sich gerne als Krone der Schöpfung sieht, nicht allzu viel übrig. Von keinem. Ich habe schon mehrfach beobachten können, wie nach ihrem Vortrag eine ganze Herrenriege unterm Teppich hätte Fallschirm springen können – inklusive meiner Wenigkeit.

Aufsichtsratssitzungen sind üblicherweise eine zähe Angelegenheit, vergleichbar mit Sitzungen in Vereinen. Jeder muss zu allem seinen Senf dazugeben, das gleiche Thema wird hundert Mal neu formuliert und dann nochmals und wieder, meist ergebnislos, durchgekaut. Anschaulicher kann man kaum sehen, dass Vereins- und Aktienrecht den gleichen Ursprung haben.

Karl Valentin hat zu dieser menschlichen Schwäche schon vor Jahrzehnten treffend bemerkt: „Es ist alles gesagt, nur noch nicht von allen!“

Na ja, so sind Sie halt. Es wird heute wohl wieder spät werden.

Umso entschlossener war ich die nächste Stunde zu genießen, locker zu gestalten und dafür zu sorgen, dass der spätere Artikel von Frau Berger meine Person und das öffentliche Image unseres Hauses positiv zeichnet.

Nachdem ich noch schnell einige Unterlagen auf meinem Tisch notdürftig sortiert hatte, ging ich zur Besprechungsecke, setzte mich in den Sessel gegenüber von Frau Berger und lächelte sie ebenso freundlich wie erwartungsvoll an.

Man sah es ihr nicht an, aber ich spürte, dass Sie aufgeregt war.

Mir ging es ähnlich, aber auch ich war bemüht selbstbewusst und überlegen zu erscheinen, so wie immer und ganz so wie man dies von mir erwartet. Normalerweise bekomme ich dies ganz gut hin. Kunststück, nach den vielen Jahren Training oder sollte ich besser Schauspiel-Erfahrung sagen. Dieses Mal war ich mir allerdings nicht so sicher.

Ich wusste nicht was mich mehr verwirrte, dieses adrette Mädchen, das auf mich so unanständig anziehend wirkte, oder diese ungewohnte Frage. Üblicherweise wurde ich in Interviews nach Bilanzen, Aktienkursen oder meine Meinung über die weitere Entwicklung der Weltwirtschaft befragt – meist von gestandenen, sogenannten erfahrenen Wirtschaftsredakteuren - alten Männern eben.

„Wollen Sie das wirklich wissen“, fragte ich nochmals nach.

„Ja, Herr Lewis, es interessiert nicht nur mich, sondern sicher auch unsere Leserinnen und Leser wie Sie zum Geldgeschäft kamen, so erfolgreich werden konnten und natürlich wie man selbst erfolgreich seine eigenen Geldgeschäfte managen kann. Betrachtet man Ihren Lebensweg, so war das ja wohl kaum vorgezeichnet“, hörte ich sie freundlich antworten.

Mit ihren großen, lächelnden Augen strahlte sie mich dabei an. Ihr Blick ruhte fest und fordernd auf mir. Sie ließ mich keine Sekunde aus den Augen.

„Ach wissen Sie, eigentlich war alles ganz einfach“, antwortete ich und machte dazu eine möglichst staatsmännische Geste.

Da war es wieder - sie hatte gleich auf Anhieb beide meiner heiklen Punkte getroffen. Erstens meine Herkunft, die wirklich nicht erwarten ließ, dass ich jemals das werden würde, was ich heute bin. Zweitens die Tatsache, dass ich, in der heutigen Zeit sehr ungewöhnlich, als einer der wenigen in vergleichbaren Positionen eine Hochschule nur von außen kennen gelernt hatte. Und, fast wieder vergessen, da war noch diese dritte heikle Stelle. Die blöde Floskel ‚eigentlich ganz einfach’. Dutzende Rhetoriklehrer hatten mich hunderte Male darauf hingewiesen diese Floskel nicht ständig zu gebrauchen. Ich musste innerlich lachen, als ich daran dachte wie ich nach einem Rhetorikseminar einen ganzen Schlussvortrag durchgehalten hatte ohne dieses ‚eigentlich ganz einfach’ auch nur ein einziges Mal zu verwenden. Der auf seine an mir vollbrachte didaktische Leistung stolze Seminarleiter fragte deshalb auch gleich vor versammelter Mannschaft wie ich es denn geschafft hätte mir meine so liebgewonnenen Unworte abzugewöhnen.

 

Meine Antwort war logisch, für ihn aber zutiefst niederschmetternd: „Ach wissen Sie“, sagte ich, „DAS WAR EIGENTLICH GANZ EINFACH!“ Und jetzt ist es mir schon wieder herausgerutscht, dieses blöde ‚eigentlich ganz einfach‘ – die Seminare waren wohl zwar nicht gratis, aber offenbar umsonst, ich lerne es wahrscheinlich nie.

„Wirklich von ganz von vorne“, fragte ich nochmals umständlich nach.

„Ja bitte, wenn Sie so freundlich wären“, formulierte die junge Dame höflich und behielt mich dabei weiter fest in ihrem zauberhaften Blick.

„Also gut, aber um 18.00 Uhr beginnt die Aufsichtsratssitzung und ein wenig vorbereiten sollte ich mich schon auch noch. Das wird knapp, wir haben genau eine Stunde.“

Das war Blödsinns-Regel Nummer 1: sie wusste ja ganz genau, dass 1 Stunde vereinbart war. Aber wer wichtig ist oder sich dafür hält, hat grundsätzlich keine Zeit und muss dies auch stets betonen - wer will schließlich unwichtig erscheinen?

Nachdem nun die Wichtigkeit meiner Person also nochmals unterstrichen war, begann ich zu erzählen – ganz von vorne, wenigstens fast von ganz vorne.

„Wie ja allgemein bekannt sein dürfte, kam ich erst im Alter von 6 Jahren hierher. Das größte Glück und die Basis für meine Entwicklung waren sicherlich meine Adoptiveltern. Einfache Leute, die trotzdem diese Welt oft besser kannten, als mancher, der sich für gebildet hält. Ich habe noch heute großen Respekt vor Ihnen und liebe sie über alles.“

„Darf ich hier gleich einhaken, Herr Lewis?

Sie sagen, dass Ihre Herkunft allgemein bekannt wäre. Bei meiner Vorbereitung zu dem Gespräch stieß ich aber immer nur auf irgendwelche geheimnisumwitterten Gerüchte Ihre Herkunft betreffend. Jetzt wäre doch eine gute Gelegenheit dies aufzuklären. Was für ein Landsmann sind Sie denn nun wirklich?“

„Ich bin Deutscher, wie Sie Frau Berger – aber yanomamischer Herkunft.“

„Nochmals langsam, welcher Herkunft ?“

„Y a n o m a m i s c h e r !”

Sie lächelte verlegen, legte ihr Kinn auf der Hand auf und hakte nochmals nach.

„Die Worte habe ich durchaus gehört lieber Herr Lewis – nur leider nicht verstanden.“

Sie machte dabei die typisch hilflose Jung-Mädchen-Geste, welche die Hilfsbereitschaft eines jeden Mannes ultimativ herausfordert und der man sich auch bei besten Willen nicht entziehen kann. Ich grinste sie frech an.

„Macht nichts, Frau Berger, das geht den meisten anderen auch so. Wahrscheinlich konnten Sie deshalb so wenig darüber herausfinden. Also, weil Sie es sind und weil ich Sie so sympathisch finde, will ich es heute etwas näher erläutern.

Ich bin von Hause aus ein Yanomami. Das ist ein Eingeborenenstamm, der, lange unentdeckt, in den Regenwäldern zwischen Orinoco und Amazonas im Grenzgebiet zwischen Brasilien und Venezuela lebt.“

„Das ist ja richtig spannend, dann sind Sie ein richtiger Indianer?“

„Könnte man so sagen. Allerdings trifft die allgemeine Vorstellung von Indianern a la Winnetou die tatsächlichen Verhältnisse ganz und gar nicht. Leider macht die Vernichtung des Lebensraums der Menschen dort immer größere Fortschritte, so dass ich fast eher die Chance hätte einmal der letzte Mohikaner zu werden. Sozusagen als Exemplar außerhalb der freien Wildbahn.“

„Und wie lebten Sie dort, waren Sie lauter stolze Krieger die mit ihren Zelten durch die Prärie zogen oder eher Großstadtindianer, wie die heute in den USA und Kanada?“

Ich musste laut lachen. „Nein, Frau Berger, dort wo ich herkam herrschte noch die Steinzeit.

Sie wurde abrupt beendet, als die Regierung eine Bundesstraße durch unser Stammesgebiet baute und Schürfrechte verkaufte. In dieser Regierung wusste man vermutlich nicht einmal etwas von der Existenz unseres Volkes in dieser Ecke des Landes, genauso wenig wie wir von dieser Regierung wussten. Was die sogenannte Zivilisation uns brachte war aber leider nicht Fortschritt, sondern Vernichtung und Tod.“

„Was ist denn mit den Menschen, mit ihrem Stamm, geschehen“, fragte Frau Berger sichtlich erschrocken zurück.

„Was aus meinen leiblichen Eltern, aus meinen Verwandten, dem ganzen Stamm wurde, weiß ich nicht. Wahrscheinlich wurden die meisten getötet.“

„Das ist ja tragisch!“

„Ja, das einzige, an das ich mich erinnere, war Chaos und Schrecken, Feuer und Lärm. Voller Angst bin ich, ein damals erst 6 jähriger Junge, nur gerannt.“

„Und dann?“

„Ich will es kurz machen.

Das Resultat war: ich wurde eingefangen, kam in verschiedene Heime und wurde schließlich weit weg von meiner ursprünglichen Heimat, in eine für mich fremde und angsteinflößende Welt, hierher zur Adoption vermittelt.

War Ihnen das bisher ausführlich genug“, fragte ich meine sympathische Interviewerin, nicht ohne den Versuch ein zwar überlegenes, aber freundliches Lächeln auf meine Lippen zu zaubern.

Wie oft an dieser Stelle bei Frauen beobachtete ich auch im Gesicht von Frau Berger, dass ihr die Geschichte nahe ging, obwohl ich mein schreckliches Kindheitserlebnis nur sehr grob skizziert hatte.

Trotz aller Emanzipation scheint der Mutterinstinkt auch in unserer modernen und kalten Gesellschaft noch wirksam zu sein. Frauen haben sofort das Bild des armen, kleinen, verlassenen Jungen vor dem geistigen Auge und fühlen mit ihm.

Männer sind in dieser Hinsicht meist weniger emphatisch – das war eben so, jetzt ist es ja vorbei, er ist ja trotzdem groß geworden, ging doch!

Dennoch, gerade diese sentimentalen Reaktionen geben mir Zuversicht für die Zukunft. Eigentlich sollten mehr Frauen in unserer Welt etwas zu sagen haben. Sie wäre dann wahrscheinlich besser, auf jeden Fall aber menschlicher.

Ein paar Frau Meiers im Aufsichtsrat und im Vorstand, dachte ich, würden sicher auch unserem Institut gut tun.

„Die Geschichte ist anrührend und sehr ungewöhnlich“, Herr Lewis. Sie kritzelte dabei etwas auf ihren Block, begann danach nervös mit ihrem Stift zu spielen und legte ihre Beine anders herum übereinander. Sie wusste sichtlich nicht so recht wie sie jetzt reagieren sollte.

„Nicht so ungewöhnlich wie Sie denken, Frau Berger. Die Schicksale tausender Kinder sind vergleichbar. Denken Sie nur an die vielen Konflikte auf der Erde, die Waisen hinterlassen haben. Auch in unserer Zeit, sogar in Europa, sogar direkt vor unserer Haustüre, z.B. vor noch nicht allzu langer Zeit in Bosnien.“

„Ja, es ist traurig, aber man stumpft durch diese vielen schrecklichen Nachrichten jeden Tag total ab“, antwortete sie mit belegter Stimme.

„Erst wenn man das Einzelschicksal vor Augen hat, erkennt man die Tragweite des täglichen Wahnsinns. Selbst fühlt man sich dann so machtlos. Man möchte helfen und dem unmenschlichen Treiben Einhalt gebieten, aber man weiß meist nicht wie. Vielleicht adoptiere ich auch mal ein solches Kind um ihm wieder eine Perspektive zu geben.“

„Keine schlechte Idee, Frau Berger, Sie wären sicher eine hervorragende und liebevolle Mutter.“

Sie nippte an ihrer Kaffeetasse und griff nach einem der Kekse. Genauer gesagt nach einem der Kekse mit Marmeladeklecks in der Mitte und Schokoladeüberzug. Meine Lieblingssorte. Ich wusste es schon zu Beginn, die Frau hat Geschmack. Als ich sie dabei beobachtete musste ich mir zu meiner Schande gestehen, dass ich in diesem Moment daran dachte gerne von ihr adoptiert zu werden – was für eine Mutti – leider bin ich dafür wohl ein kleines bisschen zu früh geboren worden, schade eigentlich!

„Nach dem wo sie herkommen und was sie erlebt haben musste die neue Situation für Sie doch der absolute Kulturschock gewesen sein“, fragte sie einfühlsam mit sanfter Stimme nach.

Ich lachte wieder, „mehr als ein Kulturschock war das. Ich hatte furchtbare Angst, war traumatisiert. In einer für mich absolut fremden Welt, unter lauter fremden Menschen – ein Kind mit ungewisser Zukunft. Alles stürzte auf einen Schlag bedrohlich auf mich ein.“

„Und wie haben Sie sich in dieser für Sie neuen, fremden Welt zurecht gefunden, wie lange hat es gedauert bis Sie Vertrauen fassten, Herr Lewis“, fragte Sie mit großen Augen.

Sie schien wirklich interessiert, lehnte sich im Sessel zurück und sortierte etwas verlegen ihre Luxus-Stelzen wieder neu.

„Ich war überaus neugierig, ein Wesenszug, der mir sehr half und - der mir bis heute geblieben ist“, antwortete ich verschmitzt.

„Wer nichts von der Welt weiß, in der er sich plötzlich wiederfindet und wer gleichzeitig von ihr fasziniert und neugierig ist, macht sich andere Gedanken und stellt andere Fragen, als jemand für den die ihn umgebende Welt ganz normal ist.“

„Und wie hat sich dies in Ihrem Fall geäußert, Herr Lewis“, war die fast logische Rückfrage dieser netten Reporterin mir gegenüber.

„Ich will Ihnen dies an einem Beispiel erläutern, das mit meinem heutigen Geschäft und meinem Verhältnis zu Geld zu tun hat.

Gott sei Dank haben meine neuen Eltern nie versucht mich ob meiner Herkunft besonders zu beschützen. Sie wussten intuitiv, dass ich ins kalte Wasser geworfen werden musste um schwimmen zu lernen. Und so kam es, dass ich von meiner neuen Mutter zum Beispiel schon bald alleine zum Einkaufen geschickt wurde. Sie erklärte mir, damals noch überwiegend mit Händen und Füßen, was ich einkaufen sollte – es stand auf einem Zettel den ich dem Kaufmann geben sollte – und sie gab mir noch ein paar weitere Fetzen buntes Papier mit gegen das ich das alles eintauschen könne.

Ich glaubte ihr zunächst nicht, dass der Kaufmann mir all diese wertvollen Dinge, die sie da wohl auf den Zettel gemalt hatte, geben würde, wenn ich ihm dafür nur das alte, zerknitterte, bunte Papier, das meine Mutter Geld nannte, dafür zum Tausch anbieten würde. Ich hatte dieses Geld genau angeschaut, heute würde man in meiner Branche sagen ich hatte es analysiert. Es war zu wenig, genau genommen zu fast nichts, zu gebrauchen. Man konnte es nicht essen, kein Werkzeug daraus fertigen, als Schmuck war es nur bedingt geeignet und als Köder zum Fang irgendwelcher Tiere, da war ich mir ziemlich sicher, war es ebenfalls untauglich.

Stellte sich also die Frage: Wieso in aller Welt sollte der Kaufmann all die aufgeschriebenen Sachen, die man essen konnte, dagegen tauschen.

Ich war nur ein kleiner Junge, aber weder ich noch irgendjemand von meinem Stamm hätte sich auf einen solch miserablen Tausch eingelassen – nie und nimmer, ganz sicher nicht, undenkbar.

Ich versuchte meiner neuen Mutter vergeblich deutlich zu machen, dass ich mit dem, was ich als Tauschmittel mitbekommen sollte, erfolglos bleiben werde, ja erfolglos bleiben muss. Damit würde ich all dies auf dem Zettel nicht beschaffen können – dieses Tauschmittel hat keinen praktischen Wert. Mit sanfter, aber durchaus bestimmter Stimme und mit zärtlichem Druck in Richtung einzuschlagendem Weg schickte sie mich dennoch los.

Ich war mir nicht sicher ob ich Gelächter oder Schläge ernten würde, wenn ich mit diesem Zeug, mit diesem komischen Geld, versuchen würde das aufgetragene Vorhaben zu realisieren. Ich war auf jeden Fall auf alles gefasst und neugierig auf die Reaktion meines Tauschpartners.“

„Und was ist dann passiert, Herr Lewis“, fragte sie und setzte sich wieder aufrecht hin.

„Zu meiner Verwunderung lief alles reibungslos. Ich legte den Zettel, einen Korb und dieses Geld auf den Tisch. Der Kaufmann packte alles in den Korb. Der Trottel bedankte sich sogar noch und gab mir darüber hinaus noch etwas für meine Mutter mit, was sie nicht einmal aufgemalt hatte. Münzen, die mir gleich viel wertvoller erschienen als dieses Papier, das meine Mutter Geld nannte. Erstaunlicherweise funktionierte dies nicht nur einmal, sondern in der Folge mehrere Male. Nicht nur bei diesem komischen Kaufmann, auch beim Bäcker und sogar – kaum zu glauben - im Spielwarengeschäft, das eine besondere Anziehungskraft auf mich ausübte.“

 

„Das hat Sie verwirrt?“ Sie lächelte dabei ziemlich ungläubig.

„Schlimmer! Ich konnte zunächst die Dummheit dieser Menschen kaum fassen. All die tollen Dinge, die sie immer wieder bereitwillig gegen ein paar völlig nutzlose, für nichts zu gebrauchende, oft noch ziemlich abgenutzte, bunte, stinkende Papierfetzen eintauschten und manchmal sogar noch tolle Münzen dazu legten. Natürlich machte ich mir meine eigenen Gedanken über dieses komische Tauschmittel aus Papier. Warum wollten es die Menschen, obwohl es doch offensichtlich so nutzlos ist?“

„Zu welchem Schluss sind Sie dabei gekommen, Herr Lewis?“

„Für mich stand bald fest, dass es wohl so etwas wie eine Religion sein muss. Die Leute glauben offensichtlich fest an dieses nutzlose Stück Papier und sind bereit fast alles dafür zu geben oder zu tun – mein neuer Vater ging dafür sogar zur Arbeit, jeden Tag – das muss man sich mal vorstellen“, erklärte ich spitzbübisch grinsend.

Mein Mädel auf der Couch kritzelte wieder etwas, lächelte mich gewinnend an und ich fuhr fort.

„Jetzt begriff ich, dass dieses bunte Papier doch einen praktischen Wert hatte. Man konnte es als Köder benutzen, nicht um Tiere zu fangen, aber Menschen. Auch ich begann an dieses Geld zu glauben. Ich begriff, wenn alle daran glauben für dieses Geld, welches sie bekommen, von jemandem anderen wieder Waren oder Dienstleistungen zu erhalten, funktioniert dieses System.“

„Wollen Sie damit sagen, Herr Lewis, Geld sei quasi eine Reliquie unseres Wirtschaftssystems?“

„Sicher etwas überspitzt formuliert, aber genauso ist es - und eine praktische Reliquie dazu. Der Wert des Geldes liegt in seiner allgemeinen Akzeptanz als leicht zu handhabendes Tauschmittel. Derjenige, der Geld als Tauschmittel akzeptiert glaubt fest daran, dass dies andere ihrerseits ebenfalls - auch zukünftig - tun werden, wenn er selbst es wieder gegen etwas Wertvolles eintauschen möchte.“

„Deswegen möchte ja jeder möglichst viel Geld haben und die meisten arbeiten sogar dafür“, warf Frau Berger etwas belustigt ein und schaute mich dabei mit einem gekonnten Wimpernaufschlag an.

„Ja sicher, aber genau genommen spielt es keine Rolle wie viel Geld ich besitze, sondern welchen Gegenwert ich damit eintauschen kann.“

„Wie meinen Sie das“, unterbrach Frau Berger meinen Redefluss.

Sie schaute mich dabei zwar freundlich lächelnd an, ihr Ton war jedoch erstaunt und fast fordernd.

„Die großen Inflationen des 20. Jahrhunderts haben dies praktisch und deutlich vor Augen geführt. Mancher Enkel staunt heute nicht schlecht, wenn ihm der Großvater oder Urgroßvater erzählt, dass auch er bereits mehrfacher Millionär, Milliardär oder gar Billionär gewesen ist und zum Beweis alte Scheine mit aufgedruckten astronomischen Ziffern hervorzieht.

Das schlimmste, was einer Volkswirtschaft passieren kann, ist, dass die Menschen das Vertrauen in ihr Geld verlieren.“

„Aber dies gibt es doch heute höchstens noch in Drittweltländern, nicht in den großen Industriestaaten – oder“, stellte Frau Berger fragend fest und nippte wieder an ihrer Tasse.

Ich nutzte diese kurze Pause ebenfalls um mir etwas Kaffee einzuflößen. Schlagartig wusste ich jetzt warum Frau Berger so vorsichtig nippte. Furchtbar heiß – oh, oh. Der Kaffee war so heiß, dass ich instinktiv meine Lippen zurückzog. Dies war ganz schön clever. Der Schmerz ließ sofort nach. Dafür breitete sich ein feiner brauner Fleck auf meinem weißen Hemd aus. Na prima. Vermutlich geht es doch noch cleverer! Schnell stellte ich die Tasse auf den Tisch, weg damit.

Zu schnell, wie ich sofort feststellen konnte. Ich war etwas ungeschickt, zugegeben. Jetzt floss die braune Soße auf den Besprechungstisch und – wie sollte es anders sein – mein Hosenbein hinunter.

Wenn’s läuft, dann läuft’s, dachte ich. Scheint ein Naturgesetz zu sein.

Frau Berger bemühte sich mit der Serviette zumindest wenigstens den Tisch einigermaßen trocken zu legen.

An mich traute sie sich nicht. Schade!?

„Entschuldigen Sie, Frau Berger, wie ungeschickt.

Zurück zum Thema, wir sind dem Ertrinken ja gerade nochmals entkommen“, versuchte ich mich mit einem vermeintlich lustigen Spruch aus der Affäre zu ziehen.

Täuschen Sie sich nicht, Frau Berger! Sie können jeden Tag in der Zeitung lesen, dass der Glaube an unser Geld derzeit durchaus wankt und was im Moment geldpolitisch so getrieben wird erhöht das Inflationsrisiko durchaus. Wir wollen hoffen, dass Hyperinflationen bei uns tatsächlich der Vergangenheit angehören. Aber, auch wenn dies in Zeiten niedriger Inflationsraten oft vergessen wird, hatten auch wir in den letzten, volkswirtschaftlich überaus erfolgreichen Jahrzehnten, eine beträchtliche Geldentwertung.“

„So schlimm war es wohl nicht“, unterbrach das junge, unerfahrene Mädel mit selbstbewusster Stimme.

Unbeirrt von ihrem Einwand fuhr ich fort.

„Deutlich wurde dies, als in Europa der Euro als Gemeinschaftswährung eingeführt wurde. Aus diesem Anlass hat man sich einmal angeschaut wie wertbeständig die einzelnen Währungen seit dem Krieg waren. Dabei hat man festgestellt, dass einzelne Währungen, die durch den Euro ersetzt wurden, mehr als 90% ihres einstigen Wertes eingebüßt hatten. Selbst von der als so ‚hart’ gerühmten DM, erst im Juni 1948 eingeführt, war kaufkraftmäßig weniger als 1/3 ihres einstigen Wertes übrig geblieben.“

Sie senkte kurz den Kopf und kritzelte eifrig auf ihren Block.

„Das ging natürlich alles schleichend. Bewusst wird dies jedoch vor allem etwas älteren Menschen“ – ich machte eine kurze Pause um ihr an dieser Stelle Gelegenheit zu geben gedanklich ein ‚wie Ihnen zum Beispiel’ einfügen zu können, vervollständigte den Satz aber schnell, bevor sie dies sagen konnte – „wenn die sich zurück erinnern was Dinge des täglichen Lebens früher so gekostet haben. Als ich beispielsweise zur Schule ging, Mitte der 70er Jahre, verkaufte der Bäcker im Schulhof seine Brezel für damals 20 Pfennige – wissen Sie was Sie heute dafür bezahlen müssen, Frau Berger?“

„Ja schon, um die 60 Cent.“

„Umgerechnet damit etwa das 6-fache. Also eine Preissteigerung von stolzen 600% in ca. 40 Jahren, Frau Berger.“

„Aber entsprechend sind doch auch die Einkommen der Menschen gestiegen, so dass im Verhältnis der Aufwand z.B. an notwendigen Arbeitsstunden, um sich so eine Brezel zu verdienen, eher gefallen ist. Ist es nicht so, Herr Lewis?“

Wir waren jetzt bei einem Thema angekommen mit dem ich mich täglich beschäftige. Das machte mich gegenüber dieser Frau Berger sicherer.

„Schon, Frau Berger, aber was ist mit meiner Mark, die mir meine Großeltern zu dieser Zeit zugesteckt hatten und die ich in mein Sparschwein geworfen habe? Anstatt 5 Brezeln bekomme ich heute nicht einmal eine Brezel dafür – der Hunger ist aber nicht kleiner, sondern größer geworden.“

Um meine Aussage zu unterstreichen strich ich mir langsam über meinen in Hemd, Weste und Jackett verpackten Bauch. Sollte ein Mann ohne Bauch tatsächlich ein Krüppel sein, wie vorzugsweise ‚stattliche Herren‘ behaupten, dann war ich jedenfalls offensichtlich keiner.

„Ich hoffe doch, Herr Lewis, dass Sie sich in der Zwischenzeit noch die eine oder andere Mark oder den einen oder anderen Euro hinzuverdienen konnten und so viele Brezeln kaufen können, dass Sie auch heute noch satt werden. Unterernährt sehen Sie ja, Gott sei Dank, nicht aus.“

Frau Berger schaute mich dabei keck mit ihren großen blauen Augen an und beugte sich, damit offensichtlich Vertraulichkeit signalisieren wollend, weit zu mir vor. Ein Hauch ihres Parfüms umschmeichelte meine Nase. Sehr dezent, kaum merklich, aber doch so, dass mir in diesem Moment zumindest nicht kälter wurde.