Read the book: «Ziegelgold», page 2

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Samstag 10:05 Uhr

Als Alex am nächsten Morgen aufwachte, war es bereits nach zehn. Er ging in die Küche und fand auf seinem Frühstücksbrett zwei Brötchen und einen Zettel: Hallo Schatz. Papa und ich sind zum Einkaufen. Wir sehen uns heute Mittag. Kuss Mama. Hastig aß er die beiden Brötchen mit Nutella und trank dazu ein Glas Milch. Er wollte gerade den Sportteil der Tageszeitung durchblättern, als es an der Haustür Sturm klingelte. Stöhnend legte er die Zeitung zur Seite und öffnete kauend die Tür. Es war Tim. „Hi Alex. Ich habe meinem Opa versprochen, in seinem Garten die Blätter zusammenzuharken. Wenn du dir den Nutella von der Backe geschmiert hast, kannst du ja mitkommen.“ „Hi Scherzkeks, erwartest du wirklich eine ehrliche Antwort von mir?“ Tim grinste. „Aber ich darf vorher noch zu Ende frühstücken, oder?“, fragte Alex und zog seinen Freund in den Flur. Alex mochte Tims Opa. Er konnte interessante Geschichten erzählen und hatte immer eine gut gefüllte Blechdose mit Süßigkeiten für die Jungen da.

Tims Opa hatte ein großes Haus, das früher als Bauernhaus genutzt wurde. Es lag etwas außerhalb von Kleiborg. In dem angebauten Stall konnte man noch die Boxen für die Kühe erkennen. Nun stand dort allerhand altes Gerümpel. Als Alex und Tim noch kleiner waren, hatten sie gerne dort gespielt, was Tims Opa allerdings nicht so gerne sah. Das Haus hatte einen riesigen Garten, der mit den Jahren immer wilder wurde. Tims Oma war vor zwei Jahren gestorben und deshalb freute sich sein Opa nicht nur über die Hilfe der Jungen, sondern auch darüber, dass er jemanden zum Reden hatte.

Die Arbeit im Garten war schnell erledigt und als Alex und Tim in die Küche kamen, rochen sie bereits den heißen Kakao, den Tims Opa gekocht hatte.

„Danke Jungs! Das habt ihr aber wirklich schnell geschafft“, begrüßte er die beiden herzlich. Sie setzten sich auf das altmodische Sofa, während der alte Herr einen Schuss Rum in seinen Kakao goss. „Das ist gut gegen Erkältung“, grinste er und gab den Jungen ihre zwei dampfenden Becher. „Und was ist, wenn wir uns erkälten?“, fragte Alex frech. Der alte Herr schmunzelte. „Du bist ja nicht auf den Mund gefallen, junger Mann. Ich muss noch irgendwo eine Flasche Lebertran haben. Der ist auch gut gegen Erkältung. Du kannst gerne einen großen Löffel davon haben.“ Alex winkte lachend ab. Wohlig wärmte er seine Hände an der heißen Tasse und sah sich um.

Er war schon häufiger bei Tims Großvater, aber er entdeckte immer wieder skurrile Dinge in der Küche des alten Herrn. Auf der Fensterbank stand zum Beispiel in einem Meer von Kakteen eine Gondel aus Plastik mit dem Schriftzug 'Venezia'. Die ehemals schwarze Farbe war von der Sonne bereits völlig ausgeblichen und von dem einst stolzen Gondelier waren nur noch die Füße übrig. Alex Blick schweifte weiter über eine blau-weiße Porzellan-Windmühle mit nur drei Flügeln, die 'Tulpen aus Amsterdam' spielen konnte. Lustig war auch der komische weiße Hund auf einem roten Sack, der einen Knoten im Ohr hatte und einen Kussmund machte. „Guter Geschmack ist Glückssache“, pflegte sein Vater beim Anblick solcher Dinge gerne zu sagen. Während Tim mit seinem Großvater ein angeregtes Gespräch über seine letzte Lateinarbeit führte und sich Hoffnungen auf einen Zehn-Euro-Schein machte, betrachtete Alex gelangweilt eine Reihe von Familienfotos an der Wand. Es waren die üblichen Motive: Hochzeiten, Taufen, Einschulungen, Konfirmationen und so weiter. Tims Opa schien eine Menge Kinder und unzählige Enkel zu haben, dachte Alex. Anscheinend ließ sich aber außer Tim kaum ein Enkel bei ihm sehen. Plötzlich blieb sein Blick an einem Bild hängen, das so gar nicht in diese Reihe passte.

Das Foto war augenscheinlich sehr alt, denn es war schwarz-weiß, stark vergilbt und hatte einen altmodischen Holzrahmen. Es zeigte zwei junge Menschen mit Fahrrädern, die sich an den Händen hielten. Der junge Mann hatte eine merkwürdig aussehende Mütze auf dem Kopf und eine viel zu kurze Hose. Das Mädchen trug einen Rock und eine helle Bluse und hatte zwei lange Zöpfe. Aber es waren nicht die jungen Menschen, die Alex' Aufmerksamkeit erregten, sondern der Hintergrund des Bildes: Es war die alte Ziegelei! Sie sah völlig anders aus, als Alex sie als Ruine kannte, aber die beiden markanten Schornsteine erkannte er sofort.

Alex stand auf und betrachtete das Bild aus der Nähe. „Gefällt dir das Foto, Alex? Das ist mein Vater mit meiner Mutter, kurz bevor sie geheiratet haben. Also Tims Urgroßeltern. Das müsste so Mitte der zwanziger Jahre gewesen sein“, sagte Tims Großvater, als er sah, dass sich Alex für das Foto interessierte. „Das ist doch die alte Ziegelei im Hintergrund“, mischt sich Tim ein. „Ja, das ist sie, dort haben die beiden gearbeitet. Dein Uropa war dort als Brandmeister in der Ziegelei beschäftigt. Das war damals eine der besten Anstellungen im Dorf. Und deine Oma hat bis zur Hochzeit im Haushalt der Deependaals bedient.“ „Deependaal? Komischer Name“, murmelte Tim und betrachtete das Bild, das sein Opa jetzt von der Wand nahm und versonnen betrachtete.

„Tja, die Familie gibt es auch nicht mehr. Sie kam vor rund hundert Jahren aus Holland in unsere Gegend und baute die Ziegelei auf. Mein Vater erzählte uns als Kindern gerne von dieser Familie. Keiner wusste, woher genau sie kam und woher das viele Geld stammte, mit dem sie die Ziegelei gründete. Einige vermuteten, dass der alte Henk Deependaal ein reicher holländischer Reeder und Kaufmann war, der ein Vermögen mit Salpeter in Südamerika verdient hatte. Angeblich hatte er in Chile einen angesehenen Kaufmann um eine Schiffsladung betrogen und musste aus Holland fliehen, weil er die Ehre der holländischen Kaufleute beschmutzt hatte. Aber so genau wusste das niemand.“

„Hört sich nach einem interessanten Typ an“, meinte Tim. Sein Großvater schaute ihn an. „Typ? Ja, so sagt man heutzutage wohl. Die Familie Deependaal war immer sehr geheimnisvoll. Sie kam nicht in unsere Kirche, feierte nicht mit uns im Dorf und sie ließ sich überhaupt nur sehr selten blicken. Mein Vater erzählte immer gerne von dem Tag, als die Deependaals ein nagelneues Auto kauften. Das war im Sommer 1914, kurz vorm Ausbruch des ersten Weltkrieges, dein Uropa war gerade neun Jahre alt. In Kleiborg gab es damals kein anderes Thema. Ein weißer Mercedes mit einem Spitzkühler und außenliegenden, verkleideten Auspuffrohren. So etwas kannte man damals nur aus Berlin. Aber hier bei uns? Das wäre so, als wenn heute ein UFO in Kleiborg landen würde.“

Alex und Tim grinsten sich an. Tims Opa war schon etwas wunderlich. Was ist an einem Mercedes denn schon besonders, dachten sie. „Ja, ja, ihr lacht. Aber damals konnten sich das nur sehr, sehr reiche Leute leisten. Meine Mutter, also deine Uroma hat oft erzählt, dass sie viele Stunden mit dem Putzen des Silberbestecks verbracht hat und dass das gute Porzellan der Familie Deependaal aus Meissen kam. Das war die teuerste Porzellanmanufaktur der Welt“, sagte Tims Opa leicht verärgert und hängte das Bild wieder auf.

„Was ist denn aus der Familie geworden?“ Alex wurde neugierig. „Tja, die Sache ist genauso merkwürdig wie die Familie selbst. Den alten Henk Deependaal fand man Mitte der dreißiger Jahre erschossen in einem seiner Trockenschuppen, wo die Ziegelrohlinge vor dem Brennen getrocknet wurden. Die Sache wurde nie so richtig aufgeklärt. Wilde Spekulationen gibt es noch bis heute. Sein Sohn Cobus führte die Ziegelei weiter. Am Ende des zweiten Weltkrieges haben englische Soldaten dann die Ziegelei besetzt. Sie brauchten Hallen und Schuppen für ihre Soldaten und Fahrzeuge. Die Offiziere beschlagnahmten auch die Villa der Deependaals. Von der Familie hat nie wieder jemand etwas gehört. Wirklich vermisst hat sie aber wohl auch niemand. Die Ziegelei stand nach dem Krieg eine Weile leer und wurde dann von den Backsteinwerken Unterweser bis in die siebziger Jahre betrieben. Die Erdölkrise 1973 hat dann das Aus für fast alle Ziegeleien hier in der Umgebung bedeutet.“ Tims Opa zündete sich seine Pfeife an und verschwand kurz in einer Rauchwolke. „Aber das ist alles schon so lange her“, brummte er mit der Pfeife im Mund und schaute etwas wehmütig aus dem Fenster hinaus.

„Wir müssen weiter, Opa“, brach Tim das Schweigen und stand auf. Alex hätte gerne noch etwas von der geheimnisvollen Familie gehört. Seufzend stand er mit seinem Freund auf. Die beiden bedankten sich für den Kakao und verabschiedeten sich.

„Du, was ist eigentlich Salpeter?“, fragte Alex seinen Kumpel, als sie draußen waren. Der sah ihn fragend an. „Ein Gewürz, glaube ich.“ Alex schüttelte den Kopf. „Gewürze kommen doch meistens aus Asien und nicht aus Südamerika.“ „Na und? Wen interessiert's?“, gab Tim patzig zurück und lief zur Straße hinunter. Auf dem Weg zurück redete keiner ein Wort. Vor Tims Elternhaus trennten sich die Jungen. Tim wollte noch zu Onkel Theo, um ihm den Verlust des Familienerbstücks zu beichten.

Als Alex zu Hause ankam, saßen seine Eltern am Küchentisch und tranken Kaffee. Sein Vater las gerade in einer Fachzeitschrift für exklusive Uhren. Für den Fall, dass er mal im Lotto gewinnt, wolle er vorbereitet sein, sagte er mal aus Jux, als Alex sich einmal darüber lustig gemacht hatte. „Na Großer, wie sieht's aus?“, begrüßte er seinen Sohn jovial und schlug ihm dabei kräftig auf die Schulter. Alex Vater 'macht in Zähnen', wie er es selbst gerne ausdrückte. Er war Handelsvertreter für zahntechnische Werkzeuge und von Montag bis Freitag in ganz Norddeutschland unterwegs. „Gut, Sonntag ist das Spiel gegen die Bremer. Kommt ihr mit? Falke sagte, wir brauchen jede Unterstützung.“ „Klar! Ich hoffe, ihr gewinnt!“ sagte sein Vater. „Wie war denn deine Woche? Habt ihr Arbeiten zurückbekommen?“ Typisch Eltern, dachte Alex genervt, als würde das Leben nur aus zurückgegebenen Klassenarbeiten bestehen. „Ja, den Deutschaufsatz. War 'ne Drei“, nuschelte er, da er sich drei Amaretto-Kekse auf einmal in den Mund schob. „Na ja, das war ja nicht so toll. Was hat denn Tim?“, mischte seine Mutter sich in das Gespräch ein. Mit der Frage nach Tims Zensur war Alex' Bereitschaft auf ein Gespräch auf ein Minimum gesunken. „Weiß nicht“, war seine knappe Antwort. Natürlich wusste er, dass Tim nur knapp an der 'Eins' vorbeigeschrammt war. Aber das musste er seinen Eltern ja nicht auf die Nase binden. Außerdem fand er den ständigen elterlichen Vergleich mit den Leistungen seines besten Freundes einfach nur abtörnend.

„Was macht der Mustang?“, fragte er betont beiläufig. Alex wusste nur zu gut, wie man seinen Vater von unangenehmen Themen wie Schule, Gitarre üben oder Aufräumen abbringen konnte. Man musste ihn nur nach seinem 1966er Ford Mustang fragen, an dem er fast jeden Samstag mit seinem besten Freund Martin herumschraubte. Dabei könne er sich am besten entspannen, sagte er immer, wenn sich Alex' Mutter beklagte, dass man ihn kaum zu sehen bekäme.

Über das Gesicht seines Vaters huschte ein Lächeln. „Ich hoffe, dass wir morgen den Vergaser wieder einbauen können. Die Hauptdüse war völlig verstopft. Da war jede Menge Mist in der Schwimmerkammer, und das trotz des neuen Benzinfilters. Wenn du Lust hast, kannst du morgen ja mithelfen.“ Alex winkte dankend ab. Erstens interessierte er sich nicht für Oldtimer. Ihm war schleierhaft, wie man sich für so alte Kisten interessieren konnte, wenn es doch so viele neue, wesentlich interessantere Autos gab. Zweitens hatte er sein Ziel erreicht, seinen Vater von einer Diskussion über seine schulischen Leistungen abzulenken. „Nee danke, vielleicht ein anderes Mal“, lachte er und ging in sein Zimmer.

3

Samstag 14:37 Uhr

Alex schaltete seinen Computer an. Kurz nach dem Hochfahren tauchte mal wieder die nervige Frage des Lernprogramms auf, ob er jetzt Vokabeln lernen wolle. Das war die grandiose Idee seiner Mutter. Ihre Freundin hatte erzählt, dass sich die Lateinzensur ihrer Tochter schlagartig verbessert hatte, als sie anfing, mit diesem Programm zu lernen. Seitdem musste Alex jeden Tag mit dieser blöden Software Vokabeln üben. Der Erfolg war auch überwältigend: Alex hatte sich von einer 'Vier minus' auf eine 'Vier' verbessert. Trotzdem hielt sich die Begeisterung seiner Eltern in Grenzen. Eltern können schon recht komisch sein.

Nachdem Alex das Fenster seines Vokabeltrainers und die darauf folgenden zwei Fragen, ob er denn wirklich nicht Vokabeln lernen wolle, entnervt geschlossen hatte, rief er Wikipedia auf. Zum Glück konnte er seinen Vater davon überzeugen, dass der Internetanschluss in seinem Zimmer das goldene Tor zum erfolgreichen Abitur darstellen würde. Die Einwände seines Vaters, man könne dort aber auch Pornos, Nazi-Mist und Anleitungen zum Bombenbauen runterladen, konnte er dadurch entkräften, indem er auf sogenannte 'Jugendschutz-Filtersoftware' verwies. Somit hatte sein Vater keine Argumente mehr. Zum Glück war sein alter Herr so leichtsinnig, dass Alex bei der Installation durch seinen Vater das Kennwort ausspähen konnte und er so, natürlich nur bei Bedarf, den Filter wieder deaktivieren könnte. Für Wikipedia war das aber nicht notwendig.

Zunächst gab er 'Salpeter' ein. Er wollte wissen, womit Deependaal sein Vermögen gemacht hatte. Tims Opa hatte ihn neugierig gemacht auf den ehemaligen Ziegeleibesitzer. Außerdem könnte er Tim damit ärgern, wenn er wusste, was Salpeter ist, und Tim nicht. Er erfuhr, dass Salpeter eigentlich sal petrae heißt, was lateinisch ist und soviel wie Felsensalz bedeutet. Latein, na super, dachte Alex und hatte sofort seine wenig attraktive Lateinlehrerin vor Augen. Auch die Information, dass Salpeter sich in trockenen, heißen, vegetationslosen Gebieten bei biochemischer Oxidation stickstoffhaltiger organischer Stoffe bildet, haute ihn wenig vom Hocker. Er wollte schon abbrechen, weil er keine Lust hatte, schon zu Beginn der Herbstferien ein Chemie-Referat anzufertigen. „Können die das nicht so schreiben, dass das ein Vierzehnjähriger versteht?“, grummelte er vor sich hin.

Salpeter ist ein wichtiger Bestandteil für Sprengstoff und deshalb in der Handhabung sehr gefährlich, las er weiter. Na endlich, dachte er, jetzt wird es endlich interessant. Am 21. September 1921 explodierte in Oppau, einem Stadtteil von Ludwigsburg eine Lagerhalle mit Salpeter. Bei dem Unglück starben 561 Menschen. Alex schluckte. In Kleiborg wohnten wesentlich weniger. Er las weiter: 1892 machte sich ein Engländer namens Henry Brarens Sloman in Chile selbstständig mit einer Salpeter-Fabrik und kehrte 1898 als steinreicher Mann nach Hamburg zurück. Um seinen damals unglaublichen Reichtum zu zeigen, baute er 1924 das weltberühmte Chilehaus in Hamburg. Steinreich, überlegte Alex, das muss der Deependaal wohl auch gewesen sein. Er wollte sich gerade ein Foto des Chilehauses ansehen, da stürmte Tim ins Zimmer.

„Gute Nachricht. Ich habe ein neues Rad. Und das Beste: Es hat nur zwanzig Euro gekostet! Für die restlichen 80 Euro kann ich mir endlich das neue Handy kaufen.“ Tim war völlig außer Atem und strahlte. „Zwanzig Euro? Bekommt man dafür überhaupt schon einen Sattel?“, lästerte Alex. Tims Mundwinkel verzogen sich nach unten. „Schau's dir doch erst mal an, alter Motzkopf“, sagte er trotzig. Beide Freunde stürmten um die Wette die Treppe hinunter, wobei Tim beinahe die Vase von Tante Lotte umwarf. Alex hätte den Verlust der China-Kopie verschmerzt, doch Mama hing an dem hässlichen Monstrum. Sekunden später standen die beiden atemlos auf der Auffahrt vor Tims 'neuem' Fahrrad.

Es war ein altes Damenrad. Alex ging langsam um das Fahrrad herum. Der Sattel war aus braunem Leder mit rostigen Stahlfedern. Er war so breit und platt gesessen, dass die Vorbesitzerin mindesten 90 Kilo gewogen haben musste. Der Lenker war völlig verrostet und die Bremse wurde durch eine vorsintflutliche Stangenmechanik betätigt. Die dicken Ballonreifen waren fast so breit wie Kettcar-Reifen. Eigentlich wollte Alex ernst bleiben und Tim nicht schon wieder ärgern. Trotzdem brach er in brüllendes Lachen aus und schaute mit Tränen in den Augen auf den Rahmen des Rades. Der Schriftzug war schon arg mitgenommen, aber er konnte ihn noch lesen: HANNIBAL. Nun gab es für Alex kein Halten mehr: „Was ist das denn? Hast du das Landesmuseum überfallen und das letzte Exemplar von Hannibals Kriegs-Fahrrädern geklaut, mit dem die Karthager damals über die Alpen gezogen sind. Ich persönlich halte es ja für ein Gerücht, dass er dafür Elefanten benutzt hat...“ Alex konnte sich vor Lachen kaum beruhigen. Zumindest in Geschichte war er in der Schule gut. Seltsamerweise war Tim gar nicht beleidigt. Er kannte seinen Freund gut und hatte fast mit einer solchen Reaktion gerechnet. Er lächelte nur milde.

„Ich habe das Rad von einem Arbeitskollegen von Onkel Theo“, erklärte er Alex betont sachlich, als sich dieser etwas beruhigt hatte. „Er hat mir sogar die Orginalrechnung mitgegeben. Sie ist vom 19. April 1955. Und nun kommt's...“ Er machte eine kurze Pause, um die Spannung zu erhöhen. Alex sah ihn mit großen Augen an.

„Die Rechnung lautet auf den Namen Joseph Alois Ratzinger“, fuhr er fort, „der, wie du sicher weißt, heute als Papst Benedikt XVI. bekannt ist.“ Alex starrte seinen Freund an. „Und du weißt sicher auch, dass der alte Golf vom Papst 2005 für fast 190 000 € bei ebay versteigert wurde... Ich bin gespannt, was mein Fahrrad einbringt.“ Tim grinste sein breitestes Grinsen und genoss das dumme Gesicht seines Freundes, der die Sprache anscheinend noch nicht wiedergefunden hatte. Nach einigen Sekunden, die Tim voll auskostete, brach er lachend sein Schweigen: „April, April!“

Er klopfte Alex auf die Schulter und genoss den ungläubigen Gesichtsausdruck seines Kumpels. „Diese Verarsche hast du dir redlich verdient.“ Tim wischte sich die Tränen aus den Augen. Alex sah seinen Freund an und musste jetzt auch grinsen. Er wusste in diesem Augenblick genau, warum Tim sein bester Freund war. Er konnte ihn immer wieder überraschen. Und darin lag Tims Stärke, auch wenn die meisten aus ihrer Klasse ihn für einen farblosen Streber hielten.

„Komm, ich zeig dir was.“ Alex zog seinen Freund ins Haus zurück. Als sie wieder in seinem Zimmer waren, setzte er sich an seinen Rechner und zeigte Tim einige Fotos des Hamburger Chilehauses. „Sieh mal, wie viel Geld man vor hundert Jahren mit Salpeter verdienen konnte. Das Haus hier hat in den zwanziger Jahren 10 Millionen Reichsmark gekostet“, erzählte er begeistert. Tim schaute ihn verwundert an. „Seit wann interessierst du dich für Architektur?“ „Gar nicht, du Quatschkopf. Aber überleg mal. Dieser Sloman, der das Haus hat bauen lassen, hat ein Vermögen mit Salpeter verdient. Genauso wie dieser Deependaal. Sagte zumindest dein Opa. Wo sind denn seine Salpeter-Millionen geblieben. Die Ziegelei hat doch sicher nur einen Bruchteil von dem gekostet“, antwortete Alex und nickte zu dem Bild des Chilehauses. Tim überlegte. „Hast du schon mal nach Deependaal gesucht?“, fragte er. Alex hatte sein Interesse geweckt. Sein Freund schaute ihn an und tippte den Namen auf der Tastatur ein. Nach mehreren Versuchen wurde er fündig.

In Wikipedia fanden sich zwei Einträge:

Joost Deependaal, geboren am 19. August 1841 in Rotterdam/Niederlande und gestorben am 27. Mai 1920 in Valparaiso/Chile.

Henk Deependaal, geboren am 2. August 1871 in Amsterdam/Niederlande und gestorben am 13. Oktober 1936 in Kleiborg/Niedersachsen.

„Volltreffer, das ist unser Mann“, triumphierte Alex. Er klickte auf den zweiten Namen. Es erschien nur ein kurzer Text:

Henk Deependaal, (geboren am 2. August 1871 in Amsterdam/Niederlande und gestorben am 13. Oktober 1936 in Kleiborg/Niedersachsen) war ein niederländischer Kaufmann und Reeder und Mitinhaber der Deependaal & Zoons Zeevervoersonderneming B.V., kurz DZZ. Sohn von Joost Deependaal.

„Na toll! Das ist ja nicht viel“, meinte Tim enttäuscht; „Lass uns mal sehen, was unter Joost Deependal steht.“ Alex klickte auf den ersten Link, und nun erschien ein längerer Text:

Joost Deependaal, (geboren am 19. August 1841 in Rotterdam/Niederlande und gestorben am 27. Mai 1908 in Valparaíso/Chile) war ein niederländischer Großkaufmann und Großreeder des 19. und 20. Jahrhunderts. Er und seine zwei Söhne schufen mit insgesamt 87 Schiffen bis ins 20. Jahrhundert hinein eine der größten Segelschiffreedereien der Welt: Deependaal & Zoons Zeevervoersonderneming B.V. , kurz DZZ. Die seinerzeit bekannte Reedereiflagge zeigte die roten Initialen DZZ mit blauer Welle auf weißem Grund. Jost Deependaal stammte aus Rotterdam und war Sohn eines erfolgreichen Textilkaufmanns. 1856 ging er 15-jährig nach Amsterdam und begann dort bei einem Geschäftspartner seines Vaters eine kaufmännische Ausbildung. 1861 begab er sich auf eine Südamerikareise nach Chile, wo er als Vertreter des Bordeauxer Reederkapitäns Clemens Le Blanc arbeitete. 1870 wurden beide Partner, Sie lieferten Kohle nach Chile und im Gegenzug wurden Salpeter und Kupfer nach Europa eingeführt. Die Reisen dauerten damals bis zu 170 Tagen. 1886 verstarb Le Blanc in Bordeaux. Die Söhne Staas (damals 20 Jahre alt) und Henk (16 Jahre) stiegen in die Handelsgeschäfte ein. Dies war die Geburtsstunde der Deependaal & Zoons Zeevervoersonderneming B.V.. Die Deependaals gaben bis 1890 dreißig Schiffe zwischen 1200 und 2000 Bruttoregistertonnen in Auftrag und wurden durch den Salpeterhandel zu einer der reichsten Familien Hollands. 1895 ertrank Staas Deependaal bei einer Segelregatta vor der englischen Küste. Bis 1908 wuchs die Flotte auf 87 Schiffe, darunter befanden sich die größten Viermaster der Welt. Joost Deependaal verstarb auf einer Geschäftsreise am 27. Mai 1908 an einer Virusinfektion in Valparaíso/Chile. Sein Sohn Henk führte die Geschäfte weiter. Ende 1911 verkaufte er überraschend die Handelsgesellschaft für 750000 Goldpesos an einen ehemaligen chilenischen Geschäftsfreund seines Vaters und verließ die Niederlande mit unbekanntem Ziel.

„750 000 Goldpesos!“ Alex pfiff durch die Zähne. „Kein Wunder, dass er sich den teuren Mercedes und das Silberbesteck leisten konnte.“ Tim sah ihn an: „Wo ist wohl das viele Geld geblieben? Und wer hat 1936 Henk Deependahl erschossen? Wenn das überhaupt stimmt, was mein Opa erzählt hat. Und wo ist der Sohn von Henk geblieben? Wie hieß der noch?“ „Cobus“, antwortete Alex gedankenversunken und wunderte sich selbst, weil sein Namensgedächtnis sonst eher unzuverlässig war.

„Essen ist fertig!“, rief plötzlich Alex' Mutter die Treppe hoch. Alex sprang hoch. Samstags gab es immer Pfannkuchen mit Sirup, eine seiner Leibspeisen. „Bleibst du zum Essen?“, fragte er Tim. Der winkte aber ab. „Nee. Lass man. Treffen wir uns um vier bei der Ziegelei? Ich würde mich da gerne mal umsehen.“ Alex lachte. „Willst du nach den Goldpesos der Deependaals buddeln?“, fragte er seinen Freund. Tim sah ihn beleidigt an, denn nun kam ihm die Idee auch ein wenig naiv vor. „Okay, okay. Um vier vor dem Tor“, sagte Alex schnell, als er Tims enttäuschtes Gesicht sah und verabschiedete seinen Freund an der Tür.

Nach fünf Pfannkuchen konnte Alex sich nicht mehr rühren und räkelte sich zufrieden in der Küchenbank. „Was habt ihr denn so lange am Computer gemacht?“, fragte sein Vater, der nach dem Essen genüsslich einen Espresso trank. „Ich habe weder Schüsse noch Explosionen gehört“, spielte er mit einem leichten Grinsen auf die Computerspiele an, die Alex ab und zu spielte, und die sein Vater gerne als 'pädagogisch wenig wertvoll' bezeichnete. Typisch Papa dachte Alex. Eigentlich war sein Vater voll in Ordnung. Aber er hatte anscheinend immer noch nicht richtig verstanden, dass sein Sohn jetzt 14 war und nicht mehr mit Playmobil spielte.

„Wir haben recherchiert“, war seine knappe Antwort. „Re...“ Sein Vater verschluckte sich an seinem Kaffee und musste kurz husten. „Recherchiert? In den Ferien? Donnerwetter. Darf man fragen, was?“ fragte er interessiert nach. „Mensch, Papa.“ Alex war genervt. Erstens mochte er die permanente Neugierde seiner Eltern nicht und die ironische Art seines Vaters schon gar nicht. Er hatte schon öfter überlegt, dass es nicht immer von Vorteil war, als Einzelkind aufzuwachsen. Hätte er noch Geschwister, würde sich die elterliche Fürsorge auf mehrere Kinder verteilen. Und zweitens wollte er nichts über die Deependaals erzählen. „Ich muss noch Gitarre üben“, sagte er schnell und rannte aus der Küche. Seine Eltern sahen ihm entgeistert nach. „Erst Computerrecherchen in den Ferien, dann freiwilliges Gitarreüben. Höchst merkwürdig. Ist das jetzt die Pubertät?“, fragte sein Vater. Doch Alex' Mutter zuckte nur ratlos mit den Schultern.

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