Der Junge am Strand

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Kapitel 3
Du bist mein Leben

Das Flugzeug überflog die Bergkette, die Lichter meiner Heimatstadt schienen unter uns auf. Mein Herz klopfte heftig.

»Ich kann gar nicht erwarten, dass wir landen und du deine Familie kennenlernst«, sagte ich zu Alan.

Die Flugzeugtüren wurden geöffnet, und ich roch es sofort: Jasminduft lag in der Luft. Kaum hatten meine Füße den Asphalt auf dem Rollfeld berührt, wollte ich mich niederwerfen und den Boden küssen. Bei der Zollkontrolle strahlte ich, als der Beamte zu mir sagte: »Herzlich willkommen in Ihrem Land.« Die Wartezeit am Gepäckband erschien mir unendlich lang, wusste ich doch, dass meine Familie mir so nah war. Als ich sie schließlich sah, konnte ich die Freudentränen nicht mehr zurückhalten. Ich stürzte auf sie zu und warf mich in ihre Arme.

Verdutzt nahm Alan hin, dass mehr als ein Dutzend Verwandte ihn herzten und küssten. Wir quetschten uns ins Auto und fuhren los. Der achtzehnjährige Abdullah hatte Alan auf dem Schoß und plapperte in seinem Pidgin-Englisch auf ihn ein. Völlig sinnloses Zeug, das niemand verstand, außer dem kleinen Alan, der mit seinem süßen Stimmchen in seiner eigenen Babysprache antwortete.

»Alan bringt mir Englisch bei«, sagte Abdullah auf Arabisch. Sie wurden schnell Freunde.

Als wir Damaskus erreichten, steckte ich den Kopf weit aus dem Wagenfenster. Endlich atmete ich wieder das magische Aroma meiner Stadt: Jasmin und Rosen, Gewürze auf dem Herd, Berge im warmen Licht der Sonne und das süßliche, kühle Nass des Barada-Flusses, der sich durch die ganze Stadt zieht. Zu Hause erfasste mich dann dieser andere betörende Duft – der Zauber des Zuhauses, des Heims der Familie, einzigartig wie ein Fingerabdruck. Ich spürte Liebe und Zusammengehörigkeit. Ich öffnete jede Tür, ging in jedes Zimmer, weidete mich an den Bildern und Fotografien, an den Möbeln, und genoss vor allem den Blick auf die Nachbarschaft. Jedes Fenster war ein Rahmen für ein lebendes Kunstwerk. Meine Liebsten ließen mich nicht eine Sekunde aus den Augen. Sie lachten. Alan hatte gerade Laufen gelernt. Abdullah nahm ihn bei der Hand und führte uns in die Küche: »Teta, deine Großmutter, hat das Lieblingsessen deiner Mama gekocht. Riech mal: warak inab, gefüllte Weinblätter.« Danach stiegen wir alle aufs Dach und bewunderten das Panorama.

»Das ist einmalig«, sagte ich. Ich fühlte mich, als schwebte ich auf seidenen Wolken.

Abdullah hatte sich nicht verändert. Er liebte immer noch derbe Scherze. Mein Mitbringsel für ihn bei meinem ersten Besuch in der alten Heimat war ein Furzkissen.

»Lass uns Baba einen Streich spielen«, flüsterte er Alan ins Ohr. Sobald sich die Gelegenheit bot, legte er das Kissen auf den Platz unseres Vaters. Erschrocken sprang dieser auf, als es plötzlich laut unter ihm hervortönte. Wir konnten uns kaum halten vor Lachen, als wir sein Gesicht sahen.

Nach sechs wunderbaren Wochen in der Heimat hieß es Abschied nehmen. Alan und ich kehrten nach Vancouver zurück, in unser ungleich tristeres Leben. Es gab zunehmend Spannungen in meiner Ehe. 1996 trennte ich mich von meinem Mann. Es war meine Entscheidung. Er war ein großartiger Vater für Alan und hatte auch versucht, ein guter Ehemann zu sein. Doch unsere Beziehung funktionierte nicht. Mein Vater war empört, als ich ihn anrief und sagte, ich würde mich scheiden lassen.

»Komm sofort zurück nach Damaskus«, befahl er.

»Das geht nicht«, antwortete ich. »Alans Vater möchte nicht, dass ich mit dem Kind so weit fortgehe, und ich gebe meinen Sohn nicht auf.«

Das wollte mein Vater auch nicht. Rückblickend ist mir klar, dass er sich um mich als alleinstehende Mutter sorgte. Damals jedoch verstand ich seine Order als autoritäres Ultimatum. Die Scheidung provozierte einen Riss zwischen mir und meiner Familie, der uns fünf lange Jahre trennte. Die Entfremdung von meinen Liebsten machte mir das Leben als frische Immigrantin noch schwerer. Von Zeit zu Zeit telefonierte ich mit meiner Mutter, doch es waren knappe, wenig entspannte Gespräche.

Ich lebte in einem heruntergekommenen Mietshaus in East Vancouver, zusammen mit mehreren anderen Alleinerziehenden und ihren Kindern. Meine Englischkenntnisse waren nach wie vor dürftig. Trotzdem suchte ich Arbeit. Ich brauchte einen Job. Kurdische Freunde meines Ex-Mannes trugen Zeitungen aus. Sie rieten mir, ich sollte mich beim Verlag bewerben, und tatsächlich bot man mir die Nachtschicht in der Druckerei an. Meine Aufgabe war die Platzierung der Anzeigen im Blatt. Wenn ich nicht zu Hause war, schlief Alan bei Iris, meiner chinesischen Freundin, die ebenfalls ein Kind hatte, oder bei Sirwan. Nun verdiente ich Geld, hatte aber zunächst noch stärker das Gefühl, fremd in einem fremden Land zu sein, als in der Zeit, als ich noch bei meinem Mann gelebt hatte. Ich war einsam, mittellos und müde. Mit meinen Kolleginnen sprach ich kaum. Die meisten waren Einwandererinnen wie ich. Sie kamen von den Philippinen, aus Indien oder Pakistan. Ihr Englisch war nicht besser als meins.

Nacht für Nacht stand ich am Montagetisch und sehnte mich nach dem Ende meiner Schicht. Es drängte mich nach Hause, zu Alan. Ich war für mein Leben gern Mutter, und jede Stunde, die ich von meinem Jungen getrennt verbrachte, erfüllte mich mit Schmerz, Angst und Schuldgefühl.

Eines Nachts überwältigten mich der Stress und die Müdigkeit. Ich begann zu weinen. Meine Tränen tropften auf die Zeitungsseiten, und die Druckerschwärze verwischte. Linda, die Schichtleiterin, sah es. Sie kam zu mir, und ich fürchtete, dass sie mich rausschmeißen würde. Doch sie stellte sich schweigend neben mich und arbeitete an meiner Seite weiter. Am nächsten Abend das Gleiche. Doch dieses Mal brachte sie mir ein neues englisches Wort bei und sagte, das würde sie von nun an immer machen: jede Nacht ein neues Wort.

Fast zwei Jahre lang blieb ich im Werk. Linda wurde eine gute Freundin und meine Verbündete. Manchmal kam sie mich zu Hause besuchen und brachte Spielsachen für Alan mit. Ein anderes Mal zeigte sie uns die Stadt. Bei einem ihrer Besuche erzählte ich ihr, dass ich in Damaskus Friseurin gewesen war.

»Ich brauche einen guten Haarschnitt«, sagte sie. »Kannst du mir die Haare schneiden?« Ich nahm sie mit in mein winziges Badezimmer.

»Wow«, sagte sie, als sie sich im Spiegel sah. »Hast du Zeugnisse?« – »Ich bin in Damaskus zur Schule gegangen und habe dort in einem Haarsalon gearbeitet«, antwortete ich. »Doch ich habe keinen offiziellen Abschluss in Kanada.«

Das sollte ich nachholen, schlug mir Linda vor. Mit ihrer Hilfe bewarb ich mich bei einem Ausbildungszentrum für Friseure in Vancouver, damit ich das nötige Zertifikat bekäme. Nachdem ich ein paar Monate den Einführungskurs besucht hatte, sprach mich eine der Dozentinnen an.

»Sie vergeuden Ihre Zeit und Ihr Geld hier«, sagte sie. »Ich kenne einen Italiener, der eine Mitarbeiterin für seinen Salon sucht. Sprechen Sie mit ihm. Vielleicht stellt er sie ein.«

»Ich habe keinen kanadischen Abschluss«, antwortete ich.

»Mit Ihren Fähigkeiten und Ihrer Erfahrung sollte das kein Problem sein. Rufen Sie ihn an«, empfahl sie und gab mir seine Telefonnummer.

Das war 1998. Ich bekam die Stelle bei ihrem Bekannten in einem schicken Friseursalon in der Robson Street in Vancouver. Die Kundschaft war edel und die Trinkgelder großzügig. Oft fragte man mich, woher ich käme. Wenn ich »Syrien« sagte, wussten die meisten nicht, wo das ist. Nur wenn ich ergänzte »das Land neben dem Libanon«, hatten sie eine Ahnung, wo sie meine Heimat auf der Karte finden könnten. Vielen fiel es auch schwer, meinen Namen – Fatima – auszusprechen. Als mein Chef neue Visitenkarten bestellte, kam er auf die Idee, dass ich mich Tima nennen könnte. Das gefiel mir, und seitdem bin ich für die meisten Englischsprechenden Tima. Mittlerweile nennen mich sogar meine Geschwister so.

Das Team im Salon war eine eingeschworene Gemeinschaft, die mich und meinen Sohn schnell in ihren Kreis aufnahm. Bald waren meine Kolleginnen und ich beste Freundinnen, und ich entwickelte mich zu der unabhängigen Frau aus dem Westen, die ich als Kind immer sein wollte. Ich war beliebt, und manch einen Freitagabend verbrachte ich in netter Gesellschaft in Restaurants und Cafés. Mir begegneten auch einige Männer, die sich gern mit mir verabredet hätten. Doch sie interessierten mich nicht. Mein Sohn war mein Ein und Alles, und ich wollte mich nie wieder mit jemandem zufriedengeben, den ich nicht liebte, und mich auch nicht auf einen Mann einlassen, der sich nicht ernsthaft und liebevoll meinem Sohn gegenüber verpflichtet fühlte.

Mein Gehalt war passabel und ich sparte einige Jahre, bis ich es mir schließlich 2002 leisten konnte, wieder nach Damaskus zu fliegen. Alan war mittlerweile neun Jahre alt. Diese Heimreise werde ich nie vergessen. Seit ich Syrien verlassen hatte, war meine Familie enorm gewachsen. Ich sah jede Menge fremde Gesichter in der Menge, die uns am Flughafen erwartete. Mohammad hatte Ghouson geheiratet, eine schöne, große, schlanke Frau aus Rukn al-Din. Sie lebten mit ihren zwei kleinen Kindern – ein Mädchen namens Heveen und ein Baby namens Shergo – in der dritten Etage unseres Hauses auf dem Berg. Maha reiste mit ihren sechs Kindern – Rodeen, Adnan, Barehan, Fatima (nach mir benannt), Mahmoud und Yasmeen – aus Kobane an. Meine Schwester Shireen hätte ich fast nicht wiederkannt. Sie war jetzt 23 Jahre alt und Ehefrau eines Zimmermanns namens Lowee. Die beiden wohnten ganz in der Nähe meines Elternhauses, auf halber Strecke zwischen unserem Domizil am oberen Ende und dem Fuß der steilen Straße, die ins Tal führte. Ihr Heim war perfekt für einen Zwischenstopp mit einem Glas Tee, wenn man sich mit schweren Taschen bepackt auf dem Rückweg vom Lebensmittelmarkt befand. Shireens und Lowees zwei kleine Söhne hießen Yasser und Farzat.

 

Und dann meine kleine Spionin Hivron. Jetzt war sie zwanzig, eine erwachsene junge Frau. Ahmad, der gleich nebenan wohnte, hatte ein Auge auf sie geworfen. Onkel Mahmoud war skeptisch: »Er ist so jung; er hat nichts. Du bist jung und schön«, warnte er meine Schwester vor ihrem Verehrer. »Du kannst jeden haben.« – Doch Hivron kämpfte für Ahmad: »Ich bin verliebt. Er oder keiner!«, waren ihre Worte. Sie war entschlossen, und wenn Hivron etwas will, dann bekommt sie es auch. Bei unserem Besuch 2002 hatte Hivron drei kleine Kinder, zwei Töchter mit Namen Rawn und Ghoufran und einen Sohn namens Abdulrahman.

Abdullah war längst nicht mehr der tolpatschige, unbekümmerte Junge, den ich von früher erinnerte. Mit 26 Jahren und Bartstoppeln in seinem fein gezeichneten Gesicht war er jetzt ein echter Mann. Sein freundliches und humorvolles Wesen hatte sich jedoch nicht verändert. Sein breites Lächeln war ansteckend wie eh und je. Abdullah hatte mehrere Länder im Nahen Osten bereist, aber Syrien war ihm das liebste. Jetzt arbeitete er in Mohammads Salon. Noch war er unverheiratet und lebte nach wie vor in der zweiten Etage des Hauses unserer Eltern.

Ein großer Schock für mich war jedoch meine Mutter. Meine schöne, lebhafte Mutter war alt geworden. Sie war erst 51, doch sie wirkte viel älter. Ihr Gesundheitszustand hatte sich über die Jahre dramatisch verschlechtert. Sie litt unter einer schweren Diabetes und hatte, wie viele Mitglieder ihrer Familie, Herzprobleme. Am Flughafen in Damaskus kniete ich vor ihr nieder und küsste ihre geschwollenen Füße. »Vergib mir, dass ich so lange fort war«, schluchzte ich. Doch meine Mutter antwortete auf ihre übliche liebevolle Art: »Du bist ein Teil meines Herzens. Du bist mein Leben.«

Wir fuhren nach Hause, in unser Heim, das immer noch seinen eigenen, uralten Duft verströmte. Meine Mutter war von ihrer Krankheit gezeichnet. Doch das hielt sie nicht davon ab, meine Lieblingsgerichte zu kochen: Dolma mit Rindfleisch, Mahshi (gefüllte Zucchini und Auberginen) und vor allem Kibbeh, eine mit köstlichen Zutaten gefüllte Bulgurteigtasche. Ich aß viel bei diesem Besuch, aber ich trainierte es mir gleich auch wieder ab bei meinen Spaziergängen durch die Stadt, die ich neu kennenlernen wollte. Und natürlich tanzte ich viel bei unseren abendlichen Partys. Ich filmte zahlreiche Stunden dieser Reise mit meiner Videokamera. Die Bilder zeigen uns, wie wir durch die Straßen von Damaskus schlendern, Kaffeepausen einlegen in den Cafés, und wie wir tanzen, immer wieder tanzen. Mohammads Frau Ghouson bewegt sich so anmutig, dass die Kamera ständig auf sie schwenkt. Hivron präsentiert sich stolz mit dem weißen Hausanzug aus Seide, den meine Freundin Iris mir in Vancouver gegeben hatte. Mahas Tochter Fatima ist noch nicht einmal in der Pubertät, und Alan noch ein kleiner Junge, doch er überragt seine Cousine Heveen und seinen Cousin Abdulrahman. Yasser und Shergo sind pummelige Knirpse mit dicken, rosa Bäckchen. Der einzige Unterschied zu der Zeit, in der wir jung waren, ist, dass mehrere von uns jetzt beim Tanzen ihre eigenen Kinder trugen.

Wir hatten eine wunderbare Zeit, doch der sich verschlechternde Gesundheitszustand meiner Mutter warf einen dunklen Schatten auf meine Wochen in Syrien. Bevor ich nach Vancouver zurückflog, hatten wir ein ernstes Gespräch. Sie hielt meine Hand und sagte: »Versprich mir, dass du dich um Abdullah kümmern und ihm helfen wirst, eine gute Frau zu finden.«

Ich wollte das nicht hören. »Du wirst eine Frau für Abdullah finden«, sagte ich. Traurig blickte sie zur Seite.

Den gleichen traurigen Blick hatte sie, als ich sie am Flughafen zum Abschied küsste und sagte: »Wir sehen uns nächstes Jahr.« An jenem Tag sah ich sie zum letzten Mal.


Bald nach meiner Reise erkrankte meine Mutter schwer und wurde bettlägrig. Es folgten viele Monate, die sie abwechselnd im Krankenhaus und zu Hause verbrachte. Meine Geschwister besuchten sie täglich. Abdullah war ihr näher als alle anderen. Er saß permanent an ihrem Bett. Ich litt an jedem Millimeter der zehntausend Kilometer, die uns trennten. Wir telefonierten jeden Tag. Ich nutzte Telefonkarten für Ferngespräche, sodass ich sowohl von der Arbeit als auch von zu Hause anrufen konnte.

Eines Morgens vor der Arbeit erreichte ich niemanden im Haus meiner Eltern. Also rief ich Onkel Mahmoud auf dem Handy an. »Ich kann jetzt nicht. Ich rufe zurück«, sagte er und beendete das Gespräch. Sein Ton verriet nichts, aber ich hatte das schreckliche Gefühl, dass etwas mit meiner Mutter war. Ich war dem Weinen nah. Doch ich riss mich zusammen, drängelte Alan ungeduldig, sich für die Schule fertig zu machen, und fuhr zur Arbeit.

Im Haarsalon hatte ich eine Kundin nach der anderen. Es ergab sich nicht einmal eine zehnminütige Pause. Erst am Nachmittag konnte ich mich in die privaten Räume im hinteren Teil des Geschäfts zurückziehen und brach in Tränen aus. Mein Chef und meine Kollegin fragten, was los sei. Ich gestand ihnen, dass ich mir Sorgen um meine Mutter machte und nicht arbeiten könnte. Sie waren sehr verständnisvoll und erlaubten mir, Onkel Mahmoud noch einmal anzurufen.

»Onkel, sag die Warheit: Was ist los mit Mama?«, schrie ich ins Telefon.

»Wir sind alle in Gottes Hand«, antwortete er.

»Was meinst du? Ist Mama tot?«

»Möge Gott ihrer Seele Frieden geben.«

Ich sank auf den Boden und jammerte laut. »Wartet mit der Beerdigung«, bettelte ich. »Ich will dabei sein. Ich will noch ein letztes Mal ihre Hand halten und ihre Wange küssen. Ich will mich verabschieden.«

»Das geht nicht, Fatima«, sagte Mahmoud sanft. »Komm zur Einjahresfeier an ihrem ersten Todestag.«

Ich wartete keine Sekunde. Ich verließ den Salon und ging nach Hause. Von dort rief ich meine Familie in Damaskus an. Baba meldete sich. Im Hintergrund hörte ich jemanden den Koran rezitieren. Ich weiß nicht mehr, ob wir überhaupt sprachen. Ich glaube, wir weinten nur. Irgendwann gab mein Vater das Telefon weiter an Abdullah.

»Wie soll ich weiterleben? Ich fühle mich so verloren«, sagte Abdullah. Ich versuchte, ihn zu trösten, doch das Guthaben auf meiner Telefonkarte war aufgebraucht und die Verbindung wurde unterbrochen.

In Syrien sagen wir, dass Allah zwischen den Toten und den Lebenden eine Mauer errichtet, die im Laufe der Zeit höher wird, damit die Familie ihr Leben fortsetzen kann. Doch das ist leichter gesagt als getan. Nach Mamas Tod fiel Abdullah in eine tiefe Depression. Um meines Vaters willen versuchte er, sie so weit wie möglich zu verbergen, und meine anderen Geschwister bemühten sich nach Kräften, Baba nicht allein zu lassen. Mohammads Familie wohnte ja im gleichen Haus wie er, Hivron und Shireen kamen jeden Freitag und verbrachten viele Stunden mit ihm. Doch meine Geschwister hatten auch noch ihr eigenes Leben und viel zu tun. Es war für Abdullah und meinen Vater eine einsame und schwere Zeit: zwei Männer allein in diesem Haus, beide bemüht, tapfer zu sein, wenn sie zusammen waren, und doch jeder für sich um die geliebte Frau und Mutter trauernd.


Im folgenden Sommer reiste ich nach Sham, um das Grab meiner Mutter zu besuchen und ihr die letzte Ehre zu erweisen. Das Haus war voll anlässlich meines Besuchs, und gleichzeitig war es leer ohne sie. Ein riesiges Loch gerissen mitten in unser Leben. Mein Vater hatte ein großes Foto von Mama rahmen lassen. Es hing so an der Wand, dass er und Abdullah sie bei jeder Mahlzeit sehen konnten. »Probier mal das Kibbeh«, sagte Abdullah dann zu ihr. »Ist aber nicht so lecker wie deines.«

Wenn ein geliebter Mensch stirbt, erwartet man in islamischen Kulturen, dass die Trauernden im Namen des Verstorbenen ein wohltätiges Werk tun und jemandem in Not helfen. Bei meinem Besuch in Sham bestellte ich beim Metzger vor Ort einhundert Hähnchen. Am nächsten Tag sollten die Kinder von Tür zu Tür gehen. Wenn jemand öffnete, würden sie sagen: »Unsere Tante schickt uns mit diesem Hähnchen zu Ihnen. Im Namen der Seele unserer Großmutter.« Die Beschenkten würden in aller Bescheidenheit das Geschenk entgegennehmen und antworten: »Möge die Seele eurer Großmutter in Frieden ruhen.«

Ich besuchte auch den Olivenhain unserer Familie in Kobane. Mein Vater und meine Brüder hatten ihn ein paar Jahre vor dem Tod meiner Mutter gepflanzt. Baba sagte damals: »Olivenbäume werden Hunderte von Jahren alt, sie sind winterhart und widerstehen der Trockenheit. Wenn wir Oliven anbauen, kann jeder von uns ein Jahr vom Ertrag leben.« Gewiss, es dauert gute fünf Jahre, bis ein Olivenbaum groß genug ist, um Früchte zu tragen. Doch mein Vater kann, wenn er will, sehr geduldig sein.

Zwischen 2000 und 2010 kehrte ich mindestens jeden zweiten Sommer nach Damaskus zurück. Die Stadt wuchs und veränderte sich, doch oben auf dem Berg, auf unserer Dachterrasse, schien die Zeit stillzustehen. Jeden Morgen weckte mich der Gebetsruf. Jeden Tag lief ich, nachdem ich meinen arabischen qahwah – Kaffee – getrunken hatte, ans Fenster, um die Händler und Verkäufer zu hören, die auf der Straße unterwegs waren, während Sham erwachte. Bei meinem Besuch im Sommer 2005 weckte mich überdies jeden Morgen der Klingelton meines Handys. Rocco rief an, ein italienischstämmiger Kanadier, den ich im Jahr zuvor kennengelernt hatte. Wir waren in den vergangenen Monaten mehrmals miteinander ausgegangen. Meine Kolleginnen spielten jeden Sonntag Volleyball am Kits Beach, und irgendwann kam Rocco regelmäßig vorbei. Er war ein ebenso schlechter Volleyballspieler wie ich, aber mein Sohn und er wurden bald Freunde. Alan war erst zwölf, aber weitaus reifer als andere Kinder in seinem Alter. Überdies verfügte er über eine grandiose Menschenkenntnis. Dass er Rocco mochte, war ein gutes Zeichen. Es war verführerisch, als Rocco mich kurz vor meinem Abflug nach Damaskus um ein Rendezvous bat. Doch meine Familie wollte mich lieber mit einem netten Syrer sehen. Meine Schwestern hatten ein paar Kandidaten im Kopf, die ich treffen sollte, wenn ich im Land wäre. Ich sagte Rocco, dass es sein könnte, dass ich vielleicht nicht mehr Single wäre, wenn ich nach Kanada zurückkäme. Doch er gab nicht auf.

»Darf ich dich in Syrien anrufen?«, fragte er. Ich sagte, das könne er tun. Rocco arbeitete im Verkauf, und bei unseren täglichen Telefongesprächen erwies sich, dass er ein Meister seines Fachs war.

Wir heirateten 2006 in seiner Heimatstadt Toronto. Es war eine große italienische Hochzeit. Leider konnte meine Familie nicht dabei sein. Der Weg nach Kanada war zu weit. Alan führte mich zum Altar, und meine liebe Freundin Iris war meine Brautjungfer. Damit wir einen Hauch von Sham bei der Feier hätten, heuerte ich eine Bauchtänzerin an. Ich vermisste meine Liebsten, doch ich genoss ein Stückchen Heimat während unserer Flitterwochen in Montreal. Die Stadt war der erste Ort in Nordamerika, der mich an Damaskus erinnerte: alte Gebäude, enge, mittelalterlich wirkende Sträßchen, soziales Leben im öffentlichen Raum, Cafés, Bars und all die fantastischen Restaurants, die köstliches Essen aus dem Nahen Osten servierten!

Zurück in Vancouver zogen wir in ein hübsches Terrassenhaus in Coquitlam, mit einer von der Küche aus begehbaren hinteren Veranda und einem Garten, in dem ich Gurken und saftige Biotomaten anbauen konnte. Ich fügte einen Hauch Damaskus hinzu und pflanzte Wein. Die Trauben sollten sich an einem großen Zedernholz-spalier emporranken, und ich wollte in ihrem Schatten sitzen, Kaffee trinken und mit meinen Freundinnen plaudern. Rocco und ich planten auch gemeinsame Kinder, doch es sollte nicht sein. Wir versuchten es immer wieder, letztlich sogar mit künstlicher Befruchtung. Vergebens. Ich war verzweifelt und traurig, dass ich keine weiteren Kinder bekommen konnte, doch ich musste es hinnehmen.

Mein Mann war viel unterwegs. Häufige Geschäftsreisen führten ihn quer durch Kanada und auch nach Fernost. 2011 kündigte ich meinen Job im Salon, um Rocco nach Shanghai zu begleiten, wo wir bis 2013 lebten. Zeitlich war ich in jenen Jahren flexibel, und ich genoss unsere zahlreichen Trips zu den exotischsten Orten dieser Welt – Philippinen, Hongkong, Singapur, Bangkok.

Vor unserem Umzug nach Shanghai hatte ich fast jeden Sommer in Syrien verbracht. Manchmal kamen Alan und Rocco mit, andere Male reiste ich allein. Meist blieb ich vier bis sechs Wochen. Zwischen den Besuchen telefonierte ich mindestens einmal wöchentlich mit meinen Lieben. Später kommunizierten wir via Internet und Videocall. Onkel Mahmoud war der Erste, der diese neuen Medien nutzte, und meine Familie meldete sich regelmäßig bei mir, wenn sie bei ihm war.

 

Bei meinen häufigen Aufenthalten in Damaskus blieb mir nicht verborgen, dass die Stadt von Jahr zu Jahr westlicher und moderner wurde. Mittlerweile gab es Vergnügungsparks und Internet-Cafés, Sushi-Restaurants waren angesagt, und viele trugen ein Handy mit sich. Doch auch die Altstadt lebte weiter und man konnte sich nach wie vor herrlich im Labyrinth ihrer Gassen mit den bezaubernden Schätzen verlieren. Die Orte, die ich in meiner Heimatstadt am meisten liebte, hatten sich nicht verändert. Und immer noch blühte überall wilder Jasmin. In Kaskaden rankte er sich von den Balkonen und auf den Innenhöfen, quoll aus den Blumentöpfen, ergoss sich über die antiken Steinwälle, blühte zwischen den Pflastersteinen.

Meine syrische Familie – überwiegend selbstständige Kaufleute und kleine Gewerbetreibende – genossen, wie auch frühere Generationen, eine Ära der Stabilität, des Wachstums und des zunehmenden Wohlstands. Mohammads Friseursalon florierte, und seine Frau Ghouson bekam zwei weitere Kinder. Shireen hatte jetzt drei Jungen. Maha lebte nach wie vor in Kobane, jetzt mit acht Kindern. Hivron war fünffache Mutter und wohnte noch bei den Schwiegereltern. Sie und ihr Mann hatten sich bei Jarmuk, einem Vorort von Damaskus, überdies ein Sommerhaus gebaut. Meine jugendlichen Nichten und Neffen in Sham organisierten sich Ferienjobs und verdienten genug, um Handys und Sneaker zu kaufen.

Abdullah hatte seine Unterkunft immer noch bei Baba in Sham. Er war nun 33 Jahre alt und nach wie vor alleinstehend. Keine Partnerin, die wir vorschlugen, gefiel ihm. Die Frauen, die wir nannten, interessierten ihn nicht. Er wollte selbst wählen. Er ließ sich auch nicht drängen oder sich von seinen liebevollen, doch sehr dominanten, nervenden Schwestern die Entscheidung abnehmen.

Im Spätsommer 2010, kurz nachdem ich von einer meiner Sommerreisen nach Kanada zurückgekehrt war, fuhr Abdullah mit unserem Vater und Mohammad nach Kobane, um sich um den Olivenhain der Familie zu kümmern. Die Bäume trugen schöne, reife Früchte – nicht allzu viele, doch es war ein Anfang. Diese ersten Ernten brachten unserer Familie tatsächlich etwas Geld ein. Eines Tages arbeitete Abdullah auf der Plantage, als ihm eine junge Frau mit dunklen Haaren auffiel. Ihre Familie rief sie Rehan, das arabische Wort für Basilikum. Andere aber nannten sie Rehanna. Sie war 22 Jahre und sehr schüchtern, doch Abdullah fand schnell heraus, dass sie eine Cousine zweiten Grades war. In Syrien ist es nicht ungewöhnlich, dass man den Cousin oder die Cousine zweiten Grades heiratet. Abdullah verliebte sich in Rehanna.

Im September rief er mich an und verkündete: »Rehanna und ich gehen heute unsere Ringe kaufen.«

Ich freute mich sehr für die beiden. »Mabrouk! Glückwunsch! Mama wird sehr glücklich sein«, sagte ich. Ich blickte auf zum Himmel und sagte zu meiner Mutter: »Ich habe deinen Wunsch erfüllt.«

Zur Verlobung von Abdullah und Rehanna konnte ich nicht in Syrien sein. Doch ich rief natürlich an. Ich musste brüllen, damit mein Bruder mich über die lauten kurdischen und Beduinenklänge im Hintergrund hinweg überhaupt verstand. Offenbar feierte die ganze Stadt Kobane.

Einen Monat später kehrte das glückliche Paar nach Sham zurück, wo meine Familie eine kleine, entspannte Hochzeit im eigenen Heim ausrichtete. Meine Geschwister schickten mir einen endlosen Strom von Bildern von Abdullah und seiner schönen Braut. Wenn ich mir heute anschaue, wie die beiden sich ansahen, weiß ich, dass Abdullah eine Seelenverwandte gefunden hatte.

Wiederum einen Monat später rief Abdullah an und sagte: »Rehanna ist schwanger. Ich weiß nicht, wie ich neun Monate Warten durchstehen soll. Das ist viel zu lang. Ich bin so glücklich. Ich kann gar nicht glauben, dass ich Vater werde.«

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