Valegazien: Der Brief des Onkels

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Valegazien: Der Brief des Onkels
Font:Smaller АаLarger Aa

Valegazien: Der Brief des Onkels

1  Titel Seite

2  Vorwort

3  Landkarte

4  Teil I

5  Kapitel 1

6  Kapitel 2

7  Kapitel 3

8  Kapitel 4

9  Kapitel 5

10  Kapitel 6

11  Kapitel 7

12  Kapitel 8

13  Kapitel 9

14  Teil II

15  Kapitel 10

16  Kapitel 11

17  Kapitel 12

18  Kapitel 13

19  Kapitel 14

20  Kapitel 15

21  Kapitel 16

22  Kapitel 17

23  Kapitel 18

24  Epilog

25  Schlusswort und Danksagungen

Valegazien: Der Brief des Onkels

Vorwort

Im Sommer 2015 entdeckte ich für mich die Leidenschaft für das Schreiben von Geschichten. In der Zeit von 2015 – 2018 entstanden dadurch meine ersten drei Kurzgeschichten. „ Elpiseira – Die Flucht vor Pandora “ (2015), „ Das Leben des Samuel Braaf “ (2016) und „ Das Segelboot im Datenmeer “ (2018). Ich trug seither den Wunsch in mir eine etwas längere Geschichte zu verfassen. Durch meine Faszination am Fantasy-Genre liess ich mich nun zu diesem neuen Werk inspirieren. Das Ausdenken einer eigenen Welt in „ Valegazien: Der Brief des Onkels “ hat mir eine kindliche Freude bereitet. Wenn ich durch das Teilen meiner neuen Geschichte diese Freude auf meine Leserinnen oder meiner Leser übertragen kann, dann ist jedes in diesem Buch geschriebene Wort gleich doppelt wert. Grund zum Feiern habe ich allemal, denn mit meiner neuen Geschichte erreiche ich mein persönliches 5-Jahre-Jubiläum als Hobby-Schriftsteller. In dem Sinne wünsche ich jetzt viel Vergnügen beim Lesen meiner vierten (etwas längeren) Geschichte.

Landkarte


Teil I

Teil I

Abseits des Pfades

Kapitel 1

Die kühle Morgenluft riecht nach frischen, saftigen Weiden. Die Tiere auf den umliegenden Höfen geben sich zu erkennen und begrüssen unter Grunzen, Gackern, Zirpen, Zwitschern, Tirilieren und ein leises verschlafenes Muhen den neuen Tag.

Toivo begibt sich mit der Mistgabel zur Scheune und stapelt das Heu zur Fütterung der Kühe in den Schubkarren. Nach ein paar gekonnten und routinierten Handgriffen füllt sich der Schubkarren rasch auf. Toivo transportiert die volle Ladung zu den Stallungen, worin die Kühe sehnlichst ihr Frühstück erwarten. Da diese bekanntlich nicht nur über einen Magen, sondern über deren vier verfügen, müssen immer mehrere Schubkarrentransporte absolviert werden. Als Toivo ausreichend Heu zu den Stallungen gebracht hat, ruft er seinen jüngeren Bruder herbei. „Veikko, das Heu steht bereit. Kannst jetzt mit der Fütterung der Kühe beginnen. Wenn du beim Melken der Kühe wieder Hilfe benötigst, dann rufe doch rasch nach Mutter. Ich muss mich jetzt um die Salatfelder kümmern.“

Mit der grossen Giesskanne begibt sich Toivo zum Brunnen und füllt sie mit Wasser auf. Die Salatfelder müssen heute reichlich gegossen werden, da Daeira das Land mit der gütigen Sonne bestrahlt. Bis zum Rand gefüllt, wiegt die Giesskanne gefühlt fast so schwer, wie ein junges Kalb. Doch Toivo ist sich dieser schweren körperlichen Arbeit auf dem Hof gewohnt. Besonders nach der Erkrankung seines Vaters, wurden ihm die schweren Lasten aufgetragen. Er musste zunehmend die Verantwortung des gesamten Betriebes übernehmen, da seine Mutter dies alles nicht alleine zu bewältigen vermag.

Die Wasserperlen tropfen sanft auf den Salatblättern ab. Der Boden scheint heute sonderlich durstig zu sein. „Hey Toivo!“. Er dreht sich um und erblickt Maditha vom Nachbarshof. Toivo winkt ihr zu. Maditha begibt sich zu ihm. „Schöner Tag heute, was?“. „Ja, Daeira meint es gut mit uns heute“, antwortet Toivo. „Wie geht es dir denn so? Und wie steht es um deine Hühner?“, erkundigt sich Toivo. „Mir geht es bestens, danke. Meinen Hühnern auch, sie sind alle vollzählig zum Futternapf angetreten“, sagt Maditha mit einem Lachen. „Hat es bei euch denn nun geklappt mit der Anschaffung eines Pferdes für die schweren Feldarbeiten?“, fragt Maditha nach. „Leider nicht“, entgegnet ihr Toivo etwas traurig. „Wir können uns dies derzeit nicht leisten. Nicht nach der schweren Erkrankung meines Vaters.“ „Wie geht es ihm denn jetzt?“, fragt Maditha besorgt. „Den Umständen entsprechend schlägt er sich wacker.“ „Maditha!“, schallt es vom Nachbarshof. „Ich muss dann mal weiter“, meint Maditha. „Sehen wir uns später wieder bei der alten Mühle, wie immer?“, fragt sie nach. „Ja, bis später“, antwortet Toivo.

Der Boden hat getrunken und nun steht das Pflügen der Felder für den Kartoffelanbau an. Wie froh Toivo doch um dieses eine Pferd wäre. Es würde die schwere körperliche Arbeit beim Pflügen merklich erleichtern. Nur Jammern hilft nicht, damit lässt sich nichts ernten. Somit bleibt ihm nichts weiter übrig, als wie gewohnt die Felder von Hand zu pflügen. Bei der Hitze wäre er auch froh, um ein bisschen Einsicht von Daeira. Es dauert nicht lange und schon sieht sich Toivo schweissgebadet vor. Er kommt gut voran, rund etwas mehr als die Hälfte hat er hinter sich. „Toivo!“, hört er hinter sich Rufen. Veikko läuft ihm humpelnd entgegen. „Toivo!“. Es schmerzt ihn immer wieder, seinen jüngeren Bruder so zu sehen. Seine angeborene Fussdeformität. Ein Leben lang zu humpeln. Dies, ohne einmal richtig gehen gelernt zu haben. Kein schmerzfreies Gehen. Veikko hält dadurch weniger Belastungen stand und benötigt immer wieder Pausen zur Einbalsamierung seines lädierten Fusses. Dies macht das Arbeiten auf dem Hof erheblich schwieriger. Die schwere Arbeit auf dem Feld nahezu unmöglich. Deswegen teilt Toivo ihm einfachere Aufgaben zu, wie etwa das Füttern der Kühe. Deren Dankbarkeit Veikko aufsaugt wie ein Schwamm. „Vater verlangt nach dir“, sagt Veikko schweren Atems. „Komme sofort“, antwortet Toivo mit ruhiger Stimme. Innerlich ist ihm alles andere als ruhig zumute. Hat sich der Gesundheitszustand weiter verschlechtert? Warum diese Dringlichkeit, dass seine Eltern Veikko übers Feld eilen lassen? Toivo unterbricht seine Arbeit auf dem Feld. Ein Pause täte mir ohnehin gut , beruhigt er sich selbst.

Im Wohnhaus seiner Familie angekommen, sucht Toivo das Schlafzimmer seiner Eltern auf. Sein Vater liegt hustend und nicht weniger schweissgebadet als er selbst auf dem Bett. Seine Mutter sitzt auf einem Hocker neben dem Bett und hält Vaters Hand. „Was ist passiert?“, fragt Toivo besorgt, da sein Vater auch schon bessere Tage gesehen hatte. „Alles in Ordnung“, antwortet sein Vater und verfällt in einen stärkeren Hustenanfall. „Keine Sorge mein Kind“, springt die Mutter ein, „die Hitze macht ihm nur etwas zu schaffen.“ „Lennja“, beginnt sein Vater wieder nachdem sich der Husten etwas gelegt hat, „zeige Toivo den Brief.“ Seine Mutter greift zu einem Umschlag auf dem Nachttisch. „Toivo, dein Vater hat einen Brief von seinem Bruder bekommen. Du weisst schon, Leevi. Du solltest den Brief lesen.“ Sie überreicht ihm den Brief. „Ich bete jeden Tag zu Daeira, meine Wünsche könnten nun endlich Gehör gefunden haben“, meint die Mutter. „Ach Lennja, das hat doch nichts damit zu tun“, entgegnet ihr sein Vater. „Toivo, bitte lies den Brief.“ Auf Wunsch seiner Eltern liest Toivo leise für sich den Brief seines Onkels:

Lieber Taavi

Mögest du dem Schutze und der Güte Daeira‘s wohlgesinnt sein. Hoffe mit ihrem Segen und unendlicher Weisheit, obsiegst du deiner schweren Krankheit.

Mir geht es gut in der Hafenstadt Trazhor. Die alltäglichen Vorkommnisse halten mich auf Trab. Ich weiss, dass ich lange nicht mehr bei dir zu Besuch war. Diesen Umstand bedaure ich zutiefst. Leider war es mir in den vergangenen Monden verunmöglicht, eine solche Reise nach Maiizala anzutreten. In meinen Gedanken bin ich stets bei dir.

 

Ich schreibe dir auch aufgrund eines mir sehr wichtigen Anliegens und hoffe daher, dass dieser Brief dich alsbald erreichen wird.

Es geht um mein altes Landgut in Roggast. Wie du weisst, hatte ich nie das Glück mit meiner Frau Apoya, eigene Kinder zu zeugen. Daher ist es mir ein grosser Wunsch, mein Landgut an deinen Sohn Toivo weiterzuvererben. Ich bitte dich hierbei um dein Einverständnis, und dass du Toivo zu mir sendest, um die benötigten vertraglichen Abklärungen formell abzuschliessen.

Ich bin mir sicher, du verstehst die immense Bedeutung der Bewahrung alter Familienvermächtnisse.

Alles Liebe

Dein Bruder Leevi

Toivo blickt auf und sieht seinen Vater fragend an. Willst du, dass ich diese Reise antrete? Sein Vater nickt, als ob er Toivo’s Frage von seinem Gesicht abgelesen hätte. „Und wer übernimmt dann die Arbeiten am Hof?“, fragt Toivo, ohne direkt jemanden anzusprechen. „Wir finden schon eine Lösung“, vergewissert die Mutter. „Jemand im Dorf wird uns bestimmt während deiner Abwesenheit aushelfen können.“ „Darum kümmere ich mich gleich selbst“, sagt Toivo entschlossen.

Eine Reise zur Hafenstadt Trazhor. Welch eine Vorstellung! Toivo war noch nie dort. Ja, geschweige denn überhaupt mal ausserhalb von Maiizala. Als Kind war er einmal bei einem der sehr seltenen Familienausflügen am östlich liegenden Pyhaevesi See. Bei einem Besuch seiner Grosseltern in Gerst, durfte er auch die atemberaubende Schönheit der Levkojen Hügel bewundern. Aber was ist der Pyhaevesi See schon im Vergleich zum gigantischen Elyrischen Ozean! Toivo beginnt, sein Proviant für die bevorstehende Reise einzupacken. Ausreichend Ersatzkleidung, Brot, Käse und einen Wasserbeutel. Wie viel ist denn ausreichend? , überlegt sich Toivo. Er weiss ja noch nicht einmal, wie lange er fort sein wird. Toivo geht strukturiert seine Gedanken durch, was er denn alles so mitnehmen soll.

Die alte Mühle , erinnert sich Toivo an die Abmachung mit Maditha, sich dort zu treffen. Ich muss mich ja auch noch von ihr verabschieden , wird sich Toivo in dem Moment bewusst. Er legt seine Sachen beiseite und begibt sich auf den Weg zur alten Mühle. Die alte Mühle liegt gleich am Fusse des Tanajoki Flusses. Dieser ist einer der beiden Zwillingsflüsse, welche aus dem Pyhaevesi See entspringen. Tanajoki und Tonojoki. Bei der alten Mühle angekommen, erblickt er sogleich auch Maditha, welche bereits auf ihn gewartet hat. „Ich liebe diesen Ort! Von hier aus kann man den Lichtwald in seiner vollen Pracht bewundern“, begrüsst ihn Maditha. „Entschuldige meine Verspätung!“, sagt Toivo schnaubend. „Keine Sorge, ich bin gut im Zeit vertreiben“, scherzt Maditha. „Besonders an einem so schönen Tag!“.

Während sich Toivo erholt und sich zu ihr hinsetzt, fragt Maditha, „Hast du das Buch von dem du mir beim letzten Mal erzählt hast, zu Ende gelesen?“. Das Buch trägt den Titel Der unerschütterliche Zigeuner von Valegazien . „Ja, ich habe das Buch fertig gelesen“, antwortet Toivo, dessen Puls sich inzwischen wieder auf Normalbetrieb eingestellt hat. „Ah, toll! Wie ging es aus? Denkst du, es gibt diesen Zigeuner wirklich?“, fragt Maditha neugierig weiter. „Oh, es war ein sehr packendes Ende! Dieses werde ich dir jedoch nicht verraten“, neckt Toivo und streckt ihr die Zunge raus. Maditha gibt sich empört „Das ist ja so gemein! Ich will unbedingt wissen, wie es ausging!“. „Ich schenke dir das Buch, dann kannst du es gleich selbst auslesen. Glaub mir, es wird dir sehr gefallen“, beruhigt Toivo sie mit einem Augenzwinkern. „Ah, vielen herzlichen Dank!“. Maditha umarmt Toivo kurz.

„Ich habe viel über das Buch nachgedacht. Du weisst schon, über das, was ich dir beim letzten Mal erzählt habe“, sagt Toivo. „Über die Art und Weise, wie der Zigeuner mit den Bewohnern von Valegazien umgeht?“, fragt Maditha sicherheitshalber nach. „Genau. Er ist richtig selbstbewusst und zugleich manipulativ, aber auch gefühlvoll und verletzlich. Wie das Buch sein Leben umschreibt, wie er sich immer wieder in heikle Situationen verwickelt und dadurch sein eigenes Leben ins Ungleichgewicht bringt“, erklärt Toivo. „Ja stimmt, du sagst es“, bestätigt ihm Maditha. Toivo führt weiter aus, „es kam mir so vor, als spiele der Zigeuner Theater und schlüpft immer wieder in eine andere Rolle. Entweder um das zu kriegen, was er benötigt, oder um seine eigene Haut zu retten. Diese Verflechtung seiner frei aufgesetzten Figuren macht seine Geschichte unglaublich spannend.“ Maditha hört gebannt zu. „Möchte dir aber an der Stelle nicht allzu viel verraten. Du sollst dies selbst erleben können“, besinnt sich Toivo wieder und lächelt. „Du machst mich ja ganz kribbelig auf das Ende“, lacht Maditha, „da bin ich aber mal sehr gespannt darauf.“

Toivo wirkt nachdenklich. „Wäre schon toll, wenn man kurz eine andere Person sein könnte.“ „Wie meinst du das?“, fragt Maditha nach. „Na, wie beim Zigeuner. Er als Feilscher, als Unterhalter, als Draufgänger“, erklärt Toivo. „Ja, vielleicht“, sagt Maditha. „Ich meine, was hält uns denn auf, eine andere Person zu sein? Unsere eigenen Grenzen“, beantwortet Toivo seine Frage gleich selbst. „Denn stell dir mal vor“, fährt Toivo fort, „du könntest für einen Tag jemand ganz Anderes sein. Jemand ganz nach deinen eigenen Wünschen. Es gäbe keine Regeln, keine Grenzen.“ „Was würdest du dann tun wollen?“, fragt Maditha. „Etwas ganz Verrücktes oder einfach etwas, was man sonst nie tun könnte, weil uns etwas Anderes aufhaltet oder man selbst nicht in der Lage wäre, dies zu tun“, entgegnet Toivo ihr verträumt.

„Nehmen wir ein Beispiel“, erläutert Toivo. „Stell dir vor, ich würde dich jetzt küssen. Einfach so.“ „Wie bitte?“, erstaunt sich Maditha. „Du würdest mir vermutlich eine Ohrfeige verpassen. Dein Freund würde mich vermutlich verachten. Obschon ich Letzteres wohl verkraften könnte“, scherzt Toivo. „Was ich damit sagen will, ist“, versucht Toivo seine Gedanken zu formulieren, „dass mich meine eigenen Grenzen aufhalten, dass ich nicht so tun kann, als wäre ich kurz jemand Anderes. Da ich wieder in mein eigenes Leben zurückkehren muss und dies dort Konsequenzen für mich mit sich tragen würde. Wenn ich kurz aus meiner Haut springen könnte, dann könnte ich dich theoretisch küssen und mich wieder in meine Haut begeben, ohne Auswirkung auf mein Leben.“ „Es hätte aber durchaus Auswirkungen auf mein Leben“, meint Maditha. „Genau, da du auch an deine eigenen Grenzen gebunden bist“, fühlt sich Toivo bestätigt. „Verstehe – Aber ist das nicht im Grunde genommen einfach nur die Flucht vor der eigenen Verantwortung?“, hinterfragt Maditha kritisch. „Es geht mir hier nicht einmal um die Verantwortung für deine eigenen Taten, sondern dass uns die eigenen Grenzen es verwehren, unseren eigenen Wunsch zu äussern, da wir die Konsequenzen fürchten beziehungsweise Angst vor der bevorstehenden Unsicherheit haben“, antwortet Toivo.

„Also, spielen wir das Beispiel nochmals durch“, sagt Toivo nach einer kurzen Denkpause. „Nehmen wir an, ich küsse dich jetzt. Nein halt, machen wir es umgekehrt. Das ist besser. Da du in einer Beziehung bist und ich nicht, somit bist du noch stärker an deinen Grenzen gebunden als ich an Meine. Gut, nun küsse mich.“ Jetzt ist es Maditha, welche eine kurze Denkpause benötigt. Schliesslich sagt sie etwas verwirrt von der Situation, „Ehm, ich weiss gerade nicht, was ich sagen soll.“ „Vielleicht kann ich dir helfen“, meint Toivo. „Ich stelle jetzt mal eine Behauptung auf, was gerade durch deinen Kopf gegangen ist. Du kannst mir dann anschliessend sagen, ob dies in etwa zutrifft oder nicht.“ „Nun gut, dann schiess mal los“, lacht Maditha. „Dir ist folgender Gedanke durch den Kopf. Du hast daran gedacht, was du sagen wolltest, aber es nicht geäussert, weil du nicht weisst, wie ich darauf reagieren würde. Deshalb hast du die defensivere Variante gewählt und mir gesagt, dass du nicht weisst, was du sagen sollst. Du wurdest somit von deinen eigenen Grenzen aufgehalten“, behauptet Toivo. „Du bist richtig gut!“, sagt Maditha ganz verdutzt.

Toivo scheint gedanklich vertieft zu sein. „Nachdem ich das Buch fertig gelesen hatte, ist mir aufgefallen weshalb man oft nicht das sagt, was man eigentlich sagen will. Es ist aufgrund der persönlichen Grenzen sowie der gesellschaftlich auferlegten Grenzen und deren Konsequenzen zurückzuführen. Kommen wir wieder zurück zu unserem Beispiel. Stell dir vor, du küsst mich, weil du gerade diesen Wunsch in dir trägst. Diese impulsive Handlung ist vielleicht im Moment des Geschehens unglaublich schön. Morgen könnte es aber schon sein, dass du dir an den Kopf greifst und denkst: Weshalb habe ich dies nur getan? So bin ich doch nicht, zudem bin ich in einer Beziehung. Ich hätte dies niemals tun dürfen . Unzählige Gedanken dieser Art strömen durch deinen Kopf, welche dich wieder zurückbinden an deine persönlichen Grenzen. Es könnte aber auch sein, dass du es morgen und übermorgen und noch ein paar weitere Tage toll findest, dass du mich geküsst hast. In diesem Falle erzählst du es vielleicht mit voller Freude deiner besten Freundin. Deine Freundin antwortet dir dann: Bist du verrückt? Das kannst du doch nicht tun! Du bist in einer Beziehung!Wiederum wirst du zurückgebunden an deine Grenzen, dieses Mal allerdings durch dein näheres soziales Umfeld. Es entspricht nicht der gesellschaftlich anerkannten Norm. Weil nun all dies irgendwo in unserem Hinterkopf festgehalten ist, neigen wir stark dazu, nicht das zu äussern, was wir eigentlich wollen.“

Maditha kehrt kurz in sich und meint, „Ja, da hast du wohl Recht. Wie erklärst du dir dann, dass es trotzdem Menschen gibt, welche dies tun? Menschen, die ihren Gemahlen oder ihre Gemahlin hintergehen, sie betrügen und ihnen nur etwas vorgaukeln. Oder Menschen, die schlicht ein neues Abenteuer suchen.“ Toivo versucht seinen Standpunkt zu erklären. „Ich denke, es gibt hierfür drei Hauptgründe. Einerseits lässt es sich in den Tavernen durch das Trinken von alkoholhaltigen Getränken leicht den eigenen Verstand vernebeln und wir denken weniger an die darauffolgenden Konsequenzen. Zudem wird dadurch auch häufig die eigene Hemmschwelle gesenkt. Dies bringt mich zum zweiten Grund. Vorausgesetzt der Wunsch nach der impulsiven Handlung ist vorhanden, braucht es immer eine gewisse Portion an Mut, diesen auch entsprechend zu äussern und die Bereitschaft, die dazu verbundenen eventuell negativen Konsequenzen in Kauf zu nehmen. Als dritter Grund, und womöglich leider auch der gravierendste Grund, sehe ich die Machtposition der jeweiligen Person. Denn ist eine Person äusserst mächtig oder hat sehr einflussreiche enge Freunde, dann sind die negativen Konsequenzen verschwindend klein, weil sie diese nicht selber tragen müssen.“

„Also fehlt dir der Mut“, schlussfolgert Maditha. „Wird wohl so sein, ja“, sagt Toivo. „Wo würdest du denn mich küssen wollen?“. Kaum hat Maditha ihre Frage beendet, küsst Toivo sie sanft auf ihre Lippen. Maditha erschrickt und schlägt reflexartig aus. Dabei trifft sie mit ihrem Schlag Toivo ins Gesicht und versucht sich sogleich zu entschuldigen. „Oh bei Daeira, das tut mir schrecklich leid! Das wollte ich nicht! Oh nein! Entschuldige tausendfach!“. Toivo lacht, „Nein, schon in Ordnung. Das ist eigentlich genau das, wovon wir gesprochen haben. Man muss den Mut haben, den Wunsch zu äussern, aber auch die dazugehörigen Konsequenzen in Kauf nehmen.“ Maditha immer noch etwas aus der Fassung, „Nein, entschuldige. Wirklich! Das wollte ich nicht. Es war nur so ein Reflex. Ich weiss auch nicht weshalb ich das getan habe.“ „Brauchst dich nicht zu entschuldigen. Ich habe es verdient. Schliesslich habe ich es auch etwas provoziert, somit habe ich mir dies selbst zuzuschreiben“, beruhigt Toivo sie. Maditha’s Blick wendet sich zur Stirne von Toivo. „Du blutest ja!“.

Blut tropft von Toivo’s Stirne auf seine Nase und verläuft von da an weiter abwärts auf seine Wangen. „Meine Güte! Da hast du aber deine Krallen ausgefahren“, scherzt Toivo. Maditha zieht ihr blaues Halstuch ab. „Hier, nimm das. Drücke es auf die Stirn, um die Blutung zu stoppen.“ „Danke“, sagt Toivo und nimmt ihr Halstuch. „Nein wirklich. Es tut mir aufrichtig leid! Ich weiss nicht, was in mich gefahren ist“, entschuldigt sich Maditha nochmals. „Naja“, meint Toivo, „vermutlich bin ich dir wohl einfach etwas zu nahe getreten. Ich habe dich ja auch überrannt damit. Kein Wunder, dass du mir da eine reinhaust.“ „Nein, das ist es nicht. Ich hatte vermutlich nur nicht den Mut, es zuzulassen“, sagt Maditha. „Heisst das, du wolltest es?“, fragt Toivo verwundert. „Ich weiss es nicht“, gibt Maditha ehrlich zu.

Nach kurzem Schweigen meldet sich Maditha wieder zu Wort. „Deine Blutung ist stark. Hoffe, mein Halstuch reicht aus.“ Das Halstuch erlebt soeben eine rein farbliche Metamorphose von blau zu rot. „Du hast mir eine ziemliche Schnittwunde verpasst“, scherzt Toivo. Maditha errötet, nicht vor Blut, sondern vor Scham. „Ja, das ist mir ja so peinlich.“ „Na hör mal“, sagt Toivo aufmunternd „das sollte wennschon mir peinlich sein. Schliesslich habe ich dich geküsst und dafür eine Ohrfeige einkassiert“. Beide beginnen lautstark zu lachen.

 

Toivo und Maditha blicken gemeinsam über den Tanajoki Fluss zum Lichtwald und ergötzen sich ihrer Schönheit. „Maditha“, beginnt Toivo auf einmal, „ich muss dir noch was erzählen. Mein Vater hat heute einen Brief von meinem Onkel bekommen. Darin ging es um eine familiäre Angelegenheit. Mein Onkel möchte, dass ich zur Hafenstadt Trazhor aufbreche. Mein Vater ist damit einverstanden. Ich habe vor, noch heute aufzubrechen, um keine Zeit zu verlieren.“ „Oh“, sagt Maditha erstaunt. „Wann wirst du denn wieder zurück in Maiizala sein?“. „Das weiss ich noch nicht so genau. Deshalb möchte ich dich auch um etwas bitten“, antwortet Toivo. „Klar, wobei kann ich dir behilflich sein?“, fragt Maditha mit einer Selbstverständlichkeit. „Kannst du während meiner Abwesenheit, meiner Familie bei den Arbeiten am Hof unterstützen? Du brauchst auch keine schweren Lasten zu tragen oder die Felder zu pflügen. Möchte nur, dass du hin und wieder vorbei gehst und nach dem Rechten schaust. Kurz prüfst, ob alle wohlauf sind und ob sie zusätzliche Unterstützung aus dem Dorf benötigen.“ „Natürlich, das mache ich doch sehr gerne!“, sagt Maditha und legt ihren Arm um Toivo. „Besten Dank! Das bedeutet mir sehr viel.“

You have finished the free preview. Would you like to read more?

Other books by this author