Read the book: «Die heilige Henni der Hinterhöfe», page 2

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Der Heeresbericht

Leere Wohnungen gab es in den nächsten Jahren allerdings noch viele. Von den drei Salomon-Söhnen zum Beispiel kehrte kein einziger wieder: Einer blieb in Galizien, einer in Sibirien, einer habe, hieß es, aus dem Krieg weglaufen wollen und sei an der holländischen Grenze erwischt worden, der wurde gehenkt. Bald danach zogen auch die übrigen Salomons fort, die Eltern und zwei Mädels, mit denen Henni nie gern gespielt hatte, weil sie nach Salmiak rochen.

Es gab noch mehr Verluste, und Henni war immer froh, wenn die Hinterbliebenen wegzogen, denn ihre langen Gesichter konnten einem den Krieg verderben. Der war nämlich im Großen und Ganzen sehr lustig, alles geriet drunter und drüber, überall wurde improvisiert, und das führte dazu, dass den Kindern viel mehr erlaubt war. Zum Beispiel waren die meisten Lehrer an der Front, zur Aushilfe kamen ein paar pensionierte zurück, außerdem wurden Frauen angelernt, die mit den Mädchen vor allem strickten. Am Morgen wurde Abgetragenes aufgedröselt, am Nachmittag wurde gestrickt. Das war langweilig, zugegeben, umso langweiliger, als auch Hennis Mama strickte. Sie schloss sich sogar einer Strickgruppe vom Roten Kreuz an, und natürlich wollte sie, dass Henni sich nach der Schule gleich zu ihr setzte. Dafür wurden dann in der Schule Frontpäckchen gepackt. In der ersten Lieferung, schön verziert, schickten sie hundertfünfzig Paar Pulswärmer, achtzig Paar Socken, zwölf Leibbinden und zwölf Paar Kniewärmer in den Krieg.

Das Abgetragene sammelten sie in der Nachbarschaft, und nicht alles wurde aufgedröselt, vieles ging direkt an die Armen und Kriegsinvaliden, Hosen, Westen, Joppen und Überzieher. Die durften sie einmal selber zur Verteilstelle bringen, und so konnten sie zusehen, wie die Krüppel sich eindeckten. Sie sammelten noch viel mehr: Gummi, Papier, Laub, Kirschkerne, Brennnesseln, Weißdorn, Kastanien, sogar Knochen, aus denen wurde Seife gekocht, leider auswärts, nicht in der Schule. Später wurden auch Zettel verteilt, in denen die Leute aufgefordert wurden, Kriegsanleihen zu zeichnen, damit der Kaiser neue Kanonen und Flugzeuge kaufen konnte, weil die alten nicht reichten, so viel Krieg wurde geführt.

Über das Gesammelte wurde Buch geführt, und manchmal erkor die Schule eine Sammelsiegerin, die gewann dann eine Murmel, die Oberschulleiter Menke gestiftet hatte – und nicht irgendeine Murmel, sondern eine, die er noch vor dem Krieg gekauft hatte und die ganz tief in Flaschengrün oder Kobaltblau oder einem unbeschreiblichen Lila leuchtete und gleichzeitig fast durchsichtig war. Muranomurmeln hieß die Sorte. Henni gewann nie eine, aber das war ihr nicht wichtig, schließlich brachte Kuddl immer mal wieder eine nach Hause.

Während nämlich die Mädels dröselten und strickten, durften die Knaben den Heeresbericht studieren, der täglich am Polizeirevier angeschlagen war. Das heißt, jeden Morgen, nachdem die ganze Schule sich im Hof getroffen und entweder gesungen hatte: »Der König rief: Mein Volk, wach auf« oder »Die deutsche Flagge, sie soll wehn« (mit der Zeile »Tot lieber, als kein Deutscher sein«, die Henni so liebte, dass sie sie regelrecht brüllte), durften zwei Jungen los und den Heeresbericht abschreiben, kamen atemlos zurück ins Klassenzimmer gerannt, weil natürlich die Ehre verlangte, dass sie blitzschnell zurück waren, und dann wurde bei Lehrer Wuppke analysiert und diskutiert, was es bedeuten mochte, wenn da stand: »Zwischen Narew und Bug hielten die Russen in der gestern gemeldeten Linie hartnäckig stand. Der Nurzecübergang ist am späten Abend von unseren Truppen erzwungen. Die Armee des Generals v. Gallwitz nahm 3550 Russen gefangen (darunter 14 Offiziere) und erbeutete 10 Maschinengewehre. Der Ring um Nowo-Georgiewsk schließt sich enger. Auf allen Fronten wurde Gelände gewonnen.«

Außerdem führte jeder Knabe Buch darüber, wo wie viele Gefangene genommen, wie viele feindliche Schiffe versenkt, wie viele Flugzeuge abgeschossen worden waren und wie viel Kriegsgerät man erbeutet hatte. Auch da gab es nämlich wieder einen Wettbewerb: Wer zum Jahresende der amtlichen Statistik am nächsten gekommen war, gewann wieder eine von Menkes Muranomurmeln. Das war besonders knifflig, weil die amtlichen Zahlen zum Jahresende nochmals ganz andere waren, als die Arithmetik erwarten ließ, und meist gewann einer, der gar nicht gut rechnen konnte, deshalb wurde der Wettbewerb dann auch eingestellt.

Wie Kuddl (der ziemlich gut rechnete) zu seinen Murmeln kam, erfuhr Henni erst im zweiten Kriegsjahr. Sie hätte auch lieber den Heeresbericht studiert als Pulswärmer gestrickt und kaufte sich von dem Groschen, den die Frau Professor Hein ihr jede Woche dafür zahlte, dass sie ihren Dackel Winnie Gassi führte, sonntags die Deutsche Kriegszeitung. Dort erklärte ein alter preußischer Offizier, der ungenannt bleiben wollte, immer sehr ausführlich, wie der Kaiser den Krieg zu gewinnen gedachte und was in der letzten Woche dafür getan worden war. Und wenn Kuddl sich sonntagabends mit seinen Kameraden bei Wertheim traf, weil dort in einem der Schaufenster auf einer großen Landkarte mit Zinnfiguren und Pappschildern der Kriegsverlauf nachgestellt wurde, und darüber philosophierte und fachsimpelte, wie die Russen oder Franzosen sich aus der Patsche hätten befreien können, in die ihre Dämlichkeit sie immer wieder ritt – denn die Deutschen gewannen natürlich alle Schlachten oder gingen höchstens auf »taktischen Rückzug« und nahmen jede Woche ein paar zehntausend Russen und Franzosen gefangen, sodass es ein unerklärliches Wunder blieb, wieso der Endsieg noch immer auf sich warten ließ –, dann bestürmte Henni ihn jedes Mal, sie mitzunehmen, damit sie überprüfen konnte, was sie gelesen hatte. Und oft wusste sie besser Bescheid als die Jungen.

Manchmal ließ Kuddl sich erweichen. Das heißt, eigentlich ließ er sich dafür bezahlen, entweder mit Nachtisch oder mit sogenannten »Diensten«, zum Beispiel übernahm Henni das Ofenputzen für ihn.

Erst als sie zwölf war, hörte das auf. Eines Sonntagabends quetschte sich vor dem Schaufenster bei Wertheim nämlich einer der Kameraden aus Kuddls Klasse, Matze, dauernd von hinten an sie, als könnte er sonst nichts sehen, dabei war er ein so langer Lulatsch. Erst als sie ihm eine schmierte, rückte er ihr von der Pelle, und so bekam sie auch heraus, dass Kuddl doppelt abkassierte. Kuddl verprügelte Matze nämlich danach, und erst dachte Henni, es sei wegen der Bruderehre. Doch Tatsache war, dass Matze Kuddl eine Murmel dafür schuldete, dass er Henni mitgebracht hatte, und die wollte Matze jetzt nicht mehr rausrücken. Offensichtlich nahm Kuddl Henni also immer genau dann mit, wenn wieder einer der Jungen in Henni verknallt war, und dafür ließ er sich bezahlen.

Wogegen Kuddl danach die Murmeln eintauschte, verriet er ihr nie. Aber jedenfalls bezahlte Henni ihn danach nicht mehr dafür, dass er sie mitnahm.

Hendrik

Im dritten Hinterhaus über dem Leierkastenmann wohnte Hendrik zur Untermiete beim Schuster Klapp. Wie Kuddl im Kleinen, handelte Hendrik im Großen. Er war ein kantiger Schlaks mit schwarzem Wuschelhaar, den sie als Kinder immer abgepasst hatten, weil er selbst noch ein halbes Kind war und außerdem so schön erzählen konnte. Zum Beispiel behauptete er, sein »Alter« sei in China beim Boxeraufstand und »Muttchen« samt Hendriks kleinem Bruder Max anno 09 in der Petersburger Choleraepidemie umgekommen, und das habe ihm nicht nur ein nettes Erbe eingebracht, sondern dazu noch Vollwaisenrente. Ob das stimmte, war nicht zu sagen, aber tatsächlich hatte er 1910, mit siebzehn Jahren, Geld genug, um eine ganze Fuhre Gasmasken zu kaufen, fabrikneu, weil gerade der Halleysche Komet im Anflug war und alle damit rechnen mussten, an giftigen Gasen zu sterben. Auf der Straße verschacherte er sie zum vierfachen Preis, außerdem verkaufte er Flaschen mit »Höhenluft«, die hatte er über Nacht einfach geöffnet unters Dach gestellt. Kuddl, der damals acht war, durfte ihm für einen Fünfer helfen, die Etiketten aufzukleben. Als der Komet dann vorbeigerauscht war und kein Mensch vergiftet, kaufte Hendrik die Gasmasken um einen Pappenstiel zurück und lagerte sie seither unterm Dach. »Der nächste Komet kommt ooch noch«, sagte er, wenn der Leierkastenmann Paul Pauli schimpfte, es stinke an den heißen Tagen bis in seine Bude hinunter nach verbranntem Gummi.

Hendrik machte andauernd Geschäfte. Als der Krieg kam, konnten Frontsoldaten auf Urlaub, die nicht gleich wieder einrücken mochten, bei ihm »Jeschlechtskrankheiten koofen«. Eine Mark kostete eine erfolgreiche Ansteckung mit Tripper, damit landete man für vier Wochen in der Charité – das Honorar der beteiligten Dame wurde separat verrechnet. Für zwei Mark gab es weichen Schanker und sechs Wochen Charité, fünf Mark kostete die Syphilis, dafür war das »jeschlechtliche Vergnügen« gratis, weil die Dame angeblich froh über Besuch war, und mit dem lustigen Soldatenleben war’s ziemlich sicher für immer vorbei.

Als Hendrik selber einrücken sollte, waren die ungesunden Huren vom Reichsgesundheitsamt leider gerade aus dem Verkehr gezogen worden. Er versuchte sich erst mit Geschenken und »guten Kontakten« zu drücken, da war sein Geld aber schnell alle. Deshalb seifte er den linken Arm dick ein, wickelte ihn über Nacht in nasse Tücher und rannte am Morgen, als er einrücken sollte, mehrmals gegen den Türrahmen. Er hatte sich sagen lassen, dass man sich so sehr zuverlässig den Arm brechen konnte. Der brach und brach aber ums Verrecken nicht, also rückte er notgedrungen ein.

»Lass ich mich eben durchlöchern wie mein Alter«, rief er alle paar Meter, während er zur Kaserne marschierte.

Stattdessen war er jedoch schon im Sommer darauf wieder zu Hause, und der linke Arm nicht bloß gebrochen, sondern ganz weg, Handgranate. »So jehts ooch«, sagte er.

An der Front war er schon wieder reich geworden, er hatte mit Sexcoupons gehandelt. Das deutsche Heer hatte nämlich so ein System, damit die Soldaten »nicht den Feind schwängern«. Dazu gehörte neben Dienstbordellen und ärztlich kontrollierten Damen ein Büchlein mit Coupons, die jeder Frontsoldat bekam, das war seine Ration an Vergnügen. Die Dauer der Bordellbesuche, Tageszeit und Güteklasse der Huren errechnete sich aus Dienstgrad, Heereseinheit und Zahl geleisteter Kampfeinsätze. Wie gut sich mit diesen Coupons handeln ließ, begriff Hendrik, als er selbst im Lazarett war, da lagen Hunderte Rationen brach. Er organisierte sich ein Startkapital und einen, den er »Steher« nannte. Der stand im Heerescasino auf der Matte, denn dort verkehrten die, die ihre Ration Sex bereits verfrühstückt hatten, und verkaufte ihnen Extrarationen. Damit der »Steher« Hendrik nicht behumpste, besorgte der ihm Morphium vom Lazarettarzt.

Beim Lazarettarzt wiederum, der ebenfalls mit seinen Coupons nichts anfangen konnte, weil er auf »Knabenliebe« stand, legte Hendrik selber Hand an. »Eene hab ick ja noch.« Darüber kicherten Henni und Kuddl am meisten, und »Eene hab ick ja noch« wurde für eine ganze Weile ihr Spruch.

Hendriks Untergang war, dass er zu ungern ein lohnendes Geschäft ausließ. Er besaß ja noch die Fuhre Gasmasken, die in der Hitze unterm Dach litten, die mussten endlich weg. So schaltete er denn in der Kriegszeitung ein Inserat, wies die »werte Bevölkerung« darauf hin, dass die Franzosen mittlerweile »Giftgas gegen unsere Truppen schleudern«, und riet dazu, den Männern neben dem üblichen Taschenöfchen Marke Vaterland, Kaiser’s Brustcaramellen und Altenhofer Punsch aus der Tube auch eine »Vollgesichtsmaske mit Aktivkohlefilter aus dem Hause Hendrik M.« ins Feld zu schicken. Das Inserat wurde nie gebracht, dafür wurde Hendrik wegen »verleumderischer Volksverhetzung« und Hochverrat verhaftet und doch noch durchlöchert wie weiland im Boxeraufstand sein Alter.

Justus Karnerich fasste den Auftrag, die Gasmasken zu konfiszieren. Henni hätte zu gern eine zum Andenken behalten.

»Sind doch schon ganz morsch«, sagte sie und zog an einem Riemen, der auch gleich brach, dabei zwinkerte sie ihm zu.

Doch Justus nahm ihr noch die kaputte Maske ab, packte sie zu den anderen und sagte: »Nichts da, die kriegen unsere Jungens an der Front.«

Der Krieg geht aus

Mit jedem Kriegsjahr war der Hunger schlimmer geworden. Schließlich gab es nur noch Steckrüben satt, falsche Buletten aus Heringslake und Kartoffelmehl und zu den Geburtstagen Kuchen aus Kunsthonig, mit Sägespänen versetztem Mehl, reichlich Vanillin und Backpulver – die beiden waren immerhin nie knapp – sowie blauer Milch. Bei Papa war jeweils noch eine Prise Kaffeeersatz drin, das hieß dann »Herrentorte«. Ach ja, und einmal ergatterte Mama um einen Wucherpreis ein Kuheuter, anderes Fleisch war sowieso nicht mehr bezahlbar.

Viele starben an der Grippe oder am Hunger, auch in der Mietskaserne. Und weil die Ärzte schlecht zu besserer Ernährung oder wärmeren Zimmern raten konnten, hieß es nun einfach: »Kinder an die frische Luft.« Das war Hennis Glück, denn endlich wagte auch Mama nicht mehr, sie in der dusteren Küche stricken zu lassen. Stattdessen schnappte Henni sich ein paar von Kuddls abgetragenen Hosen und Papas Schirmmütze für die Sommerfrische, schob ihr Haar darunter und zog mit Kuddl und seiner »Bande« um den Block.

Kuddl war es recht, denn die maßgebliche Währung waren immer noch Murmeln, und Henni hatte eine Art, die Jungens zu missachten, dass fast jeder seine beste Murmel gab, damit sie ihn mit ihren moosgrünen Augen mal ansah und so richtig schön fassungslos sagte: »Mensch, hast du eine schöne Murmel – und die ist für mich?!« Die Murmel gab sie dann Kuddl, und der tauschte sie gegen Tabak oder Zucker.

So wurde das Leben immer bunter, je länger der Krieg dauerte. Nicht nur der Krüppel wegen, von denen es immer mehr gab, und der malerischen Gefangenen, die ab und zu durchs Brandenburger Tor getrieben wurden. Alles fand nun in den Höfen und auf der Straße statt, die Leute verkauften erst ihre Erbsachen, dann klauten sie, zuletzt verkauften sie sich selbst. Je höher der Fleischpreis stieg, desto billiger wurde alles andere. Da waren auf einmal Frauen guter Hoffnung, die ihren Mann seit einem Jahr nicht gesehen hatten, und in vielen Witwenwohnungen wurde die Nächte durchgetanzt. Die alte Frau Meisel meinte ja, es liege alles daran, dass der Schnauzbart aus der Mode sei: »Wirken die Männer nicht viel appetitlicher?« Daran freute sie sich wie Bolle.

Im Winter 17 gab es keine Kohle mehr zu kaufen, und so schliefen die Binneweisens zu viert in einem Bett, Mama noch in der Krinoline. Frau Meisel fanden sie eines Morgens verhungert und erfroren auf dem Etagenklo und mussten sie so in der Hocke zu Grabe tragen, es war nirgends im Haus warm genug, dass man sie hätte auftauen können.

Deshalb nahmen Henni und Kuddl und seine Bande im Frühjahr dann auch an einem Streik gegen den Hunger teil, eine tolle Masse Menschen kam da zusammen. Trotzdem war es keine gute Idee gewesen, denn tausend, hieß es, wurden verhaftet und an die Front geschickt, darunter auch zwei Jungens aus der Bande. Danach war für kurze Zeit sogar Henni nicht mehr national gesinnt.

Im Herbst wurde dann aber in Frankreich Mata Hari erschossen. Frau und Gesellschaft brachte einen achtseitigen Artikel, der sehr romantisch war, und Henni hatte wieder Träume. Spionin wäre sie ja immer noch zu gern gewesen, und mit ihren moosgrünen Augen und ihrem »und die ist für mich?!« rechnete sie sich gute Chancen aus.

Doch ganz plötzlich, ohne jeden Tusch, ohne Endsieg, ohne auch nur wenigstens eine Rede vom Kaiser war der Krieg vorbei. Die Deutsche Kriegszeitung war wegen Papiermangels schon vor ein paar Monaten eingestellt worden, und an einem nasskalten Novembermorgen blieb auch der Heeresbericht plötzlich aus. Am nächsten Tag war bei Wertheim das Schaufenster mit dem Frontverlauf verhängt, und es hieß, der Kaiser habe abgedankt und sei in Holland. Jemand rief anscheinend die Republik aus, jemand anderer widerrief. Es hieß, auch die Deutschen machten jetzt Revolution, und vor dem Schloss wurde erstmals geschossen. Später hörten sie, Revolution sei nun doch nicht, die Revolutionäre hätten sich gegenseitig niedergemacht. (Das hieß es noch mehrmals.) »Waffenstillstand« stand in fetten Lettern auf den Sonderausgaben, und darunter eine ellenlange Liste mit Bedingungen, die das Deutsche Reich zu erfüllen hatte.

Zu erfüllen hatte, damit was nicht geschah? Henni begriff überhaupt nichts. Was konnte denn passieren? Die deutschen Armeen hatten doch dauernd gesiegt! Und was war mit den Millionen Kriegsgefangenen und den abertausend Kilometern Landgewinn? Die konnte man doch tauschen! Oder war das alles nichts wert?

»Wir führen doch!«, rief sie verärgert, und an dem Abend heulte sie richtig dicke Tränen in ihr Kissen.

Als sie am anderen Tag noch mal zu Wertheim ging, weil dort der Krieg ja vielleicht doch weiterging, war das Schaufenster schon neu dekoriert. Wertheim verkaufte jetzt Schnittmuster, und an Puppen wurde vorgeführt, was sich aus Soldatenuniformen so alles »für Mutter und Kind« schneidern ließ.

Noch ein paar Wochen lang hing über der Eckbank am Küchentisch ein Blatt, auf das Kuddl in Schönschrift geschrieben hatte:

Die deutsche Kriegsbeute im vierten Kriegsjahr.

Berlin, 30. Juli 1918.

Die Leistungen des deutschen Heeres während des vierten Kriegsjahres kommen in folgenden Zahlen zum Ausdruck: Den Feinden wurden entrissen und von deutschen Truppen besetzt: im Osten 198’256 Quadratkilometer, in Italien 14’423 Quadratkilometer, an der Westfront 5’323 Quadratkilometer (geräumtes Gebiet an der Marne ist abgerechnet), im Ganzen 218’002 Quadratkilometer. Ferner halfen unsere Truppen vom Feinde bzw. von räuberischen Banden säubern: in Finnland 373’602 Quadratkilometer, in der Ukraine 452.033 Quadratkilometer, in der Krim 25’727 Quadratkilometer. An Beute wurden eingebracht: 7’000 Geschütze, 24’600 Maschinengewehre, 751’972 Gewehre, 2’867’500 Schuß Artilleriemunition, 102’250’900 Schuß Infanteriemunition, 2’000 Flugzeuge, 200 Fesselballons, 1’705 Feldküchen, 300 Tanks, 3’000 Lokomotiven, 28’000 Eisenbahnwagen, 65’000 Fahrzeuge. Die Zahl der im vierten Kriegsjahr gemachten Gefangenen beläuft sich auf 838’500, somit hat die Gesamtgefangenenzahl die Höhe von nahezu 3 ½ Millionen erreicht.

Doch da Klopapier inzwischen rar geworden war, nahm auch die stolze Heeresbilanz 18 bald den Weg alles Irdischen.

Berlin macht sich frei

Nachdem der Krieg vorbei war, floss in Berlin erst richtig Blut. Nun ging es nicht mehr gegen die Franzosen, Engländer oder Russen, sondern gegen die Nachbarn. Zu Hause borgte man sich immer noch Wasser für die Toilette, aber auf der Straße war man einander spinnefeind. Justus Karnerich hielt es mit den Roten, Kalle Grafenhuber, der über ihm wohnte, mit den Freischärlern. Professor Hein regierte eine kurze Zeit als Sozialdemokrat mit (dann wollte seine Leber nicht mehr).

Auch in der Schule gab es welche, die trugen das Abzeichen vom Deutschnationalen Jugendverein oder vom Bismarckbund. Kuddl und seine Bande Gott sei Dank nicht, die wollten nur Spaß, und Kuddl konnte sich herrlich aufregen. Aber er hatte auch recht: Wenn Freikorpskämpfer, das waren die Rechten, sich als Truppen der Regierung verkleideten, die wiederum sozialdemokratisch war (»das Ganze is ja nun ne Republik«), und so am Montag die Kommunisten niederschossen und am Dienstag ein rivalisierendes Freikorps, am Mittwoch wiederum von der Regierung in Dienst genommen wurden, um hochoffiziell einen Streik aufzulösen, weil Polizei und Truppen das nicht »jebacken« kriegten, dann konnte man nur noch für die Kommunisten sein. Andererseits hieß es, die wollten, schlimmer noch als die Siegermächte, alle deutschen Werte zerstören und russische Verhältnisse einführen, und doch, kaum waren Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg glücklich erschossen und der Spartakusbund aufgelöst, ging halb Berlin auf die Straße und trauerte um die Leute, und die Regierung erschoss gleich noch mal tausend von ihnen. Das sollte jemand verstehen!

Dazu fiel, seit Frieden war, andauernd etwas aus, mal die Straßenbahn, mal der Strom, das Wasser oder die Post. Das bedeutete meist, dass irgendwo wieder eine Regierung gestürzt und die nächste an der Macht war, aber trotzdem ging alles gleich weiter.

Und weil ja nun kein Krieg mehr war und kein Endsieg mehr winkte, wurde es schwer, sich im Alltag zu amüsieren. Kuddls Bande gab dennoch ihr Bestes, und Henni trug weiter seine Klamotten auf, nannte sich Henri und war mit von der Partie.

Im Frühjahr 19 spitzte sich das »Tohuwabohu«, wie Frau Professor Hein es nannte, zu: Schulen wurden besetzt, Direktoren erschossen, auf den Pausenplätzen wurde gekämpft, und die Bande machte sich einen Sport daraus, durch Hinterhöfe und über Dächer in die abgesperrten Straßen zu kommen und im Rücken der Kampfverbände wieder raus.

Trotzdem war irgendwie Frieden, Frieden mit Aprilwetter sozusagen.

Zum Beispiel spazierten Binneweisens mit zehntausend anderen Unter den Linden entlang (am Sonntagmorgen ging sogar Mama an die frische Luft), als plötzlich Panzer auffuhren, alles rannte und sich versteckte, ein bisschen geschossen wurde, mal von vorn, mal von hinten. Doch schon nach ein paar Minuten war alles vorbei, die Leute kamen wieder aus den Torbögen hervor. Wer sich hingeschmissen hatte, dem klopfte man den Staub ab, dann flanierten alle weiter.

»Wir lassen uns den Frieden nicht vermiesen«, sagte Mama bei der Gelegenheit und steckte seelenruhig das Hütchen neu, und Henni musste lachen, weil Mama so verdreht dachte, denn in Wahrheit hatte doch der Frieden den Krieg vermiest.

Das fand jedenfalls – mal abgesehen von den Eltern Binneweis – ganz Berlin, und damit es nicht zu langweilig wurde, war jetzt jeden Abend Vergnügen angesagt. Alle rannten dauernd zum Tanzen, und zwar zu amerikanischer Musik.

»Die enthemmt so herrlich«, sagte sogar Hennis Lehrerin Frau Kannegießer, die ging auch.

Und mit der Musik kamen Kleider, die das Knie frei ließen, Seidenstrümpfe waren der letzte Schrei, und bei so einem Seidenstrumpf will man ja immer auch wissen, wo er denn aufhört. So war für Aufregung gesorgt, und wenigstens nachts war das Endziel wieder klar: Der Feind war erlegt, wenn er Stielaugen machte. Im Nu war Berlin »sexualisiert«, wie Kuddl es nannte, wobei er das Wort lutschte wie einen Bonbon.

Auch Henni wurde »sexualisiert«, allerdings nicht beim Tanzen. Sie waren als Bande unterwegs gewesen und hatten ein Sperrgebiet hinterm Alex »erobert«, dabei waren sie in ein Gefecht geraten und wurden versprengt. Henni rettete sich in einen Kohlenkeller, zusammen mit Herbert, einem Hageren mit Bürstenschnitt aus Kuddls Jahr, der immer schnell rote Flecken ins Gesicht bekam. Dort saßen sie erst mal fest, denn oben wurde immer wieder geschossen. Eine Weile lehnte jeder an seiner Wand und hörte nach draußen, dann sagte Herbert ganz aus dem Nichts: »Glotz mich nich so an.«

Henni erschrak, weil seine Stimme sonderbar kollerte, außerdem hatte sie gar nicht ihn angeglotzt, sondern ihren Fingernagel, den sie sich auf der Kohlerutsche eingerissen hatte. »Ich glotz dich doch gar nicht an«, sagte sie und sah hoch, »du bist der, der glotzt.«

»Siehste«, sagte Herbert und grinste, »jetzt glotzte mich doch an.« Dann räusperte er sich.

»Ich seh nur deine roten Flecken an«, antwortete Henni und lutschte Blut.

»Die hab ich wegen dir.«

»Blödsinn, die hast du vom Rennen. Du kriegst immer so rote Flecken.«

»Ja, aber von dir«, beharrte Herbert und wurde immer heiserer, da half alles Räuspern nichts.

Henni sagte dann nichts mehr, und wäre draußen nicht mehr geschossen worden, wären sie wohl aufgestanden und wieder raus.

Aber es wurde noch, und Herbert holte tief Luft, hustete und verriet: »Ich kriege von dir nicht bloß rote Flecken.«

Henni tat, als interessierte sie nur ihr Nagel, obwohl sie schon neugierig war, was jetzt kam.

»Willste nich wissen, was ich noch krieg?«

»Nee«, sagte Henni, »von mir kriegste jedenfalls nüscht.« Gleichzeitig hörte sie draußen wieder eine Salve und freute sich, denn sie wollte hier so schnell nicht wieder weg.

»Weißt du, wasn Harter is?« Diesmal überschlug Herberts Stimme sich sogar.

»Nee, weiß ich nicht«, antwortete Henni, obwohl sie das sehr wohl wusste, seit sie im Winter 17 zu viert in einem Bett geschlafen hatten und Kuddl sich hatte an sie quetschen müssen, um nicht rauszufallen. »Aber ich wette, du wirst es mir zeigen.«

»Was wettest du?«, fragte Herbert. Offenbar bekam er Angst vor der eigenen Courage.

Aber Henni lachte nur. »Hast du Heftpflaster?«, fragte sie und leckte an ihrem Finger, der wieder blutete, weil sie zu sehr daran herumgefingert hatte.

Herbert schüttelte den Kopf. Danach wusste er nicht weiter und sah stumm zu, wie sie am Nagel lutschte.

»Nu, dann zeig mal deinen Harten«, sagte sie irgendwann, »solange sie noch schießen.«

Ein paar Sekunden lang war er stumm, dann sagte er: »Vielleicht ist er nicht mehr so hart.«

»Hm«, sagte Henni und schob die Mütze aus der Stirn, sodass er ihre Augen gut sehen konnte und die nackte Stirn, dazu blickte sie ihm fadengerade ins Gesicht. Das reichte. Als sie fragte: »Nu, isser hart?«, nickte Herbert. Die Flecken auf den Wangen und am Hals wurden noch dunkler, ansonsten war er wahrscheinlich bleich wie Schneewittchen, jedenfalls schimmerte er ganz wunderbar im Halbdunkel, und endlich knöpfte er die Hose auf und zeigte seinen Harten.

»Darf ich anfassen?«, fragte Henni, und als Herbert nickte, fasste sie seinen Harten mit zwei Fingern, so, wie man eine Blindschleiche fasst. »Und nu?«, fragte sie.

»Wenn du«, sagte Herbert und musste schlucken, »wenn du vielleicht die Mütze ausziehen und deine Matte …«

Mehr brachte er nicht heraus, und so nahm Henni die Mütze ganz ab und beugte sich vor und schüttelte das Haar aus. Dabei streifte es seinen Harten, und gleich spritzte er. »Jetzt hast du gespritzt«, stellte sie fest.

»Weiß ich selber.« Er klang plötzlich sauer und wollte wieder einpacken.

Aber Henni sagte: »Lass mal noch, sie schießen ja noch.« Danach fasste sie mit beiden Händen zu und untersuchte seinen Johannes, der jetzt aussah wie die Spritztüte beim Bäcker. »So was sieht man ja nicht alle Tage.« Sie schnupperte und tippte einmal mit der spitzen Zunge. »Wird er jetzt nicht mehr hart?«

»Weiß nicht.« Herbert flüsterte inzwischen nur noch. »Vielleicht, wenn du ihn richtig in den Mund nimmst.«

Henni überlegte kurz, dann richtete sie sich aber wieder auf. »Nee, Herbert.« Sie wickelte ihr Haar wieder auf und suchte nach der Mütze. »Pack mal wieder ein. So weit geht unsere Freundschaft noch nicht.«