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7. Dummer August
Hakala-Holappa. Endlich! Über zwei Stunden hatte Kempowski für die gut 20 Kilometer von Ahrenshoop bis zum Treffpunkt benötigt. Zwar war der Verkehr von Altheide aus über Ribnitz-Damgarten umgeleitet worden, doch Wilhelm wünschte ja, direkt abgeholt zu werden. Am Meilenstein. Dem Obelisken an der Bundesstraße. 2 Meilen nach Rostock. Früher hatte sich Kempowski manches Mal darüber gewundert, wie lange sich doch zwei Meilen hinziehen können. Auch wenn jene Meile aus alten Postkutschentagen etwa 7,5 Kilometer heutiger Messung entsprach. Doch noch nie hatte die Fahrt so lange gedauert wie heute. Nicht einmal in der Hochsaison oder bei besonderen Veranstaltungen in Karls Erlebnis-Dorf.
Inzwischen war wenigstens die vollständige Sperrung aufgehoben worden. Sämig quälte sich die Karawane voran. Von Polizisten auf der Gegenspur an der Unfallstelle vorbeigeführt. Glasscherben. Ein Außenspiegel. Abgestreute Lachen. Öl oder Benzin. Die Rettungswagen hatten inzwischen das Feld geräumt. Den Hubschrauber hatte Kempowski vor geraumer Zeit abdrehen sehen. Es musste mächtig gekracht haben!
Vorsichtig manövrierte Kempowski den Wartburg am Schauplatz des Schreckens vorbei. Hielt hinter Warnleuchten und Leitkegeln. Stieg aus. Sah, wie der Freund sich von Warnwesten verabschiedete. Hörte sein »Dann werde ich mal. Sie wissen ja, wie Sie mich erreichen können. Rufen Sie mich bitte sofort an, wenn Sie neue Informationen haben! Wenn …« Hörte das Zittern in seiner Stimme. Dabei sah er gar nicht so schlimm aus. Lediglich der rechte Arm schien etwas abbekommen zu haben. Das Handgelenk war bandagiert und nun von einer Schlinge getragen. Doch sehr blass, das Gesicht. Leichenblass. Er ging ihm entgegen. Stützte ihn. Half ihm beim Einsteigen.
»Danke, mein Freund. Danke, dass du so schnell gekommen bist.«
»Schnell? Nun ja. Aber erzähl doch mal, was genau passiert ist! Vorhin habe ich nur die Hälfte verstanden.« Kempowski startete den Motor. Versuchte zu wenden.
»Ja, sicherlich. Aber lass mir noch einen Moment! Vielleicht können wir da vorne irgendwo spazieren gehen. Ein Stückchen. Da bei diesem Jagdschloss. Das wollte ich ja schon immer mal sehen. Perkele. Vittu Saatana Perkele. Dieser gottverdammte Gurt.« Wilhelms Lieblingsfluch. Das R gerollt. Kempowski hatte das noch nicht so oft von ihm gehört. Erfüllte daher seinen Wunsch. Schnallte ihn an. Fuhr noch ein Stück. Bog ab. Schlängelte zur einstigen Sommerresidenz Großherzogs Friedrich Franz III. zu Mecklenburg. Malerische Mixtur aus englischem Landhaus und russischem Bojarensitz. Neogotik mit einer Prise Romanow. Eine stilvolle Kulisse für dramatische Szenen.
Hakala-Holappa zog es aber weiter in den Herbstwald hinein. Laubrascheln. Leichtes Frösteln. Im Hintergrund ein letzter Hirsch. Dabei war die Brunftzeit eigentlich schon vorüber.
Sie schlenderten stumm voran. Es dauerte beinahe eine halbe Stunde und etliche Zigaretten, bis Hakala-Holappa den Pfad zum Beichtstuhl fand und zu erzählen begann. »Ich habe wirklich Riesenmist gemacht. Einen richtigen Bock geschossen. Einen kapitalen. In jeder Hinsicht. Allein schon diese Idee mit der Katharsis. Der Konfrontation. Idiotisch!« Ausführlich schilderte er nun seinen Plan, wie er Hans von Wustrows Schweigen hatte brechen wollen. Holte aus. Erzählte von den Vorbereitungen. Den erfreulich wie erstaunlich leicht einzuholenden Genehmigungen. Der Fahrt. Der Exkursion durchs Ahrenshooper Holz. Ließ auch das Lied nicht aus. »Bajuschki baju …« Ebenso wie von Wustrows Reaktion. Das Scheitern des Experimentes. Den Rückzug. »Doch, einfaches Versagen reicht einem Hakala-Holappa ja nicht aus. Daher kam mir dann noch die absurde Idee, einen Abstecher zur Büdnerei in Niehagen zu machen. Weißt du, jenem verfallenen Häuschen … Doch auch das war ein Reinfall. Kein Wort hat er gesagt. Nur plötzlich gelächelt, als ob er eine Vorahnung haben würde. Als ob er schon gewusst hat, was wenig später passieren würde. Womöglich stand er ja mit dem Hund in Verbindung, Telepathie, Animismus, Totemismus, so etwas in der Art. Was weiß ich? Auf jeden Fall war er dann da. Wie aus dem Nichts tauchte dieser Höllenhund ein paar hundert Meter hinter Altheide auf und lief dann über die Straße. Direkt in den Gegenverkehr. Direkt vor den Sprinter. Irgendein Paketdienst. Hetzen ja allerorten durch die Gegend. Immer in Hektik. Und der Fahrer hat auch wirklich blitzschnell reagiert. Das Lenkrad herumgerissen. Ist ausgeschert. Anstatt den Hund einfach mitzunehmen. Und so in unseren Bus geknallt. Was für ein Geräusch! Das werde ich mein Lebtag nicht vergessen. Habe erst dadurch mitbekommen, was passiert ist. Die Büchse hat ja keine Fenster im Fahrgastraum. Auf jeden Fall hat der Niemann, also unser Fahrer, auch noch ausweichen wollen, was ihm nur bedingt geglückt ist. So sind wir dann nach rechts in die Böschung. Dann der Überschlag. Das Herumwirbeln. Arme. Beine. Körper. Herumgeschleudert. Gegen den Holm. Zu Boden. Zur Decke. Der Schmerz im Arm. Im Handgelenk. Der Schreck. Die Schreie. Das Jammern. Wimmern. Vom Schildknecht. Und im Kopf minutenlang ein schwarzes Loch. Minutenland. Schweben durchs Minutenland. Die Finsternis. – Bis die Seitentür geöffnet wurde. Die nun das Dach bildete. Durch die Celinski hereinschaute. Mit blutiger Stirn. Einer mächtigen Brusche, ansonsten aber erstaunlich wohlauf. Energisch. Entschlossen. Hilfsbereit. Was ihm zum Verhängnis geworden ist. Uns. Mir.« Hakala-Holappa brach ab. Setzte sich auf einen Baumstamm am Wegesrand.
Kempowski malte sich aus, was sich anschließend ereignet haben musste. Er konnte sich Celinskis Dilemma vorstellen. Zwei schwer verletzte Kollegen. Ein ebensolcher Unfallgegner. Eingeklemmt. Im Sprinterwrack. Ein leicht verletzter Hakala-Holappa. Der war aber keine große Hilfe in dieser Situation. Rauchentwicklung im Motorraum. Und – Hans von Wustrow. Anscheinend unverletzt. Verständlich also, dass Celinski ihn der Handschellen entbunden hatte, damit er ihn bei der Rettung Schildknechts unterstützt. Was von Wustrow auch tatsächlich getan hatte. Wer mochte es dem Mann von der JVA verdenken, dass er sich zunächst weiter um den Schwerverletzten gekümmert hatte? Vorrangig. Und darüber schlichtweg versäumte, den Gefangenen wieder zu fixieren …
»Und das ist ja das Fatale an der ganzen Situation. Dass Celinski mit seiner Entscheidung, seinem Eingreifen wahrscheinlich Schildknecht das Leben gerettet hat. Wie in einem griechischen Drama. Schicksal.« Hakala-Holappa hatte den Gesprächsfaden wieder aufgenommen. Bestätigte Kempowskis Mutmaßungen. Bestätigte dessen Befürchtungen. »Er hat ihn ja auch noch im Auge behalten und gesehen, wie sich der Alte um Niemann gekümmert hat. Der war da gerade kollabiert. Und von Wustrow hat sogar gute Arbeit gemacht. Erste Hilfe geleistet. Stabile Seitenlage. Die Zunge. Alles richtig gut. Doch dann …«
»Wollte Celinski auch dich noch aus der Büchse holen, weil der Qualm stärker wurde. Und statt zum Feuerlöscher …«
»… hat er in die Scheiße gegriffen. Den Finnen gerettet. Die Büchse der Pandora geöffnet. Woher wusstest du …?« Kempowskis Intuition überraschte Hakala-Holappa.
»Ich kenne das Leben, die Menschen, das Schicksal.« Bedeutungsvoll zog Kempowski an seiner Zigarette, ließ den Rauch aufsteigen und folgte dessen Auflösung.
»Dann weißt du sicherlich auch, wo von Wustrow jetzt ist. Wo er hinwill. Was er vorhat. Und ob er die Waffe benutzen wird. Niemanns Dienstpistole …«
»So gut nun auch wieder nicht. Leider. Aber wir sollten zurückfahren, um mit Zimmermann und den anderen Freunden zu sprechen. Außerdem muss ich dir auch noch etwas erzählen, eher beichten. Doch nun los! Es ist spät geworden. Dunkel.«
8. Oskar Matzerath
Er liebte das Dunkel. Die Nacht. Nachtfalter und Nachtgestalten. Nachtkerze und Nachtgetier. Seine Freunde. Gefährten. Schon als kleiner Junge hatte er sich im Finsteren zu Hause gefühlt. Oft auch am Tage die Augen geschlossen. Um daheim zu sein. Im Land der kleinen Blicke. Im Schattenreich. Wo er sich sicher war. Um die Schritte wusste. Die Spuren. Die Wege. Die zu beschreiten waren. Die Dinge, die zu tun.
Wie eben. Vorhin. Wie lange war es her, seitdem er den Wagen verlassen hatte? Die Männer. Den Unfall. Eine Stunde? Zwei vielleicht? Oder mehr? Es kam ihm vor wie Tage. So viel Freude hatte er seitdem empfunden. Glück womöglich. Laut gelacht, gesungen, gejuchzt, lauthals. Aber ganz leise, nur in seinem Kopf. Er wollte die Lippen nicht öffnen. Nicht sprechen, plaudern, quasseln, dummes Zeug quatschen. Wie der Doktor es wollte. Und der andere Mann. Der mit dem komischen Namen. Auch wenn er es konnte. Er war ja nicht krank. Nein, ganz und gar nicht. Aber er hatte ein Gelübde abgelegt. Vor seinem Vater. Für seinen Vater. Dass das keiner verstehen konnte? Warum ließ man ihn nicht einfach in Ruhe? Immer diese Gespräche, Fragen, Quälereien, Verhöre, Versuche. Wie diese Fahrt ins Holz, die dann zur Reise in die Welt werden sollte. Für ihn. Wie gut, dass der Hund gekommen war und sein Bitten, sein Flehen, seine Gebete verstanden hatte. Ein Freund, der ihn kannte. Schon immer gekannt hatte. So wie der Franck im Gefängnis. Und die Vögel. Davor. In der kleinen Freiheit. Sie machten sich auch nichts aus Worten. Hörten ihm trotzdem zu. Einfach so. Schauten ihn mit verständnisvollen Augen an. Verständnis, das auch die Hunde hatten, die ihm nun folgen sollten. Er hatte sie schon in der Ferne gehört, hatte gewusst, dass sie ihn suchen würden. Dass die Polizei unterwegs war. War daher den Weg der Wechsel gegangen. Nach Norden zunächst. In den Westen dann. Später gen Süden. Er war ein guter Läufer, ein Waldläufer, Lederstrumpf. Schon immer gewesen. Das Holz, der Darß – sein Revier. Und nun eroberte er die Rostocker Heide. Nein, er war kein Gejagter, kein Freiwild. Er war der Jäger, der Freischütz. Der auch um die Kanzeln wusste, die Ansitze fand, eine Hütte sogar. Und dort das Notwendigste: trockene Kekse, eine Wurst, Wasser, Wodka, Feuerzeug. Eine neue Garnitur: Lodenjacke und Kniebundbuxe. Bei ihm jedoch knöchellang.
Kurz hatte er überlegt, ob er die alten Sachen verbrennen sollte, sie dann aber doch im Stall versteckt. Dort, wo er das Rad entdeckt hatte, das er nun schob. Noch. Das Bellen der Hunde war leiser statt lauter geworden, kaum noch zu hören. Die Meute der Verfolger schien Richtung Norden zu ziehen. Zur Küste, wie er es gehofft hatte. Vielleicht glaubten sie ja, dass es ihn zum Fischland zog? Auf den Darß? Nach Ahrenshoop. Born. Bliesenrade. Prerow. Wieck. Täter und Tatort. Tatorte. Aber er folgte seinen eigenen Spuren, die ihn zunächst weiter in den Süden führten, wo der Wald sich lichtete. Aber noch nicht die Nacht, die ihn nun unter Schwarzhimmel empfing. Kein Mond zu sehen. Kein Stern. Finsterwolken. Pechrabenschwarz. Nur weiter voraus ein paar Lichter. Ein Dorf, klein. Rostocker Wulfshagen. Wie ihm die Karte verriet.
Nun stieg er aufs Rad, machte Strecke. Und einen Bogen um die Handvoll Häuser. Er hatte alles, was er brauchte. Genügend Proviant und einen Schlafsack auch. Nur ein passendes Quartier fehlte noch. Jetzt wäre es Zeit für einen weiteren Hochsitz. Geschlossen. Es fing zu regnen an. Er radelte schneller einem weiteren Waldrand entgegen. An einem Gehöft vorbei. Menschenleer. Weiter in Treckerfurchen. Der Regen wurde vom Wind getrieben zu Hagel. Einem Sturm. Er hielt an, suchte Schutz unter dem ersten Baum und hörte dem Tanz der Lüfte zu. Wunderte sich, dass Jacke, Hose, Haare trocken, ungeachtet, dass es wie aus Kübeln goss. Hörte Hufschlag. Galopp. Das Rollen großer Räder. Eisenbeschlagen. Eine Peitsche. Stimmen. Menschen. Das »Hü, hüja, hüh!« des Kutschers. Eine weinende Frau. Ein grobes »Koom bi mi, du Suddelmaars! Koom!« Männergrob. Dann wieder Gebrause. Getöse. Zerbrechende Äste. Das Weinen.
Ein mächtiger Schatten näherte sich ihm. Schoss vorbei in den Wald. Dann: Stille. Vollkommene Ruhe. Plötzlich, von einer Sekunde zur nächsten, kein Regen mehr, kein Hagel, keine Kutsche, kein Sturm. Nur ein ganz leiser Ton. Ein Schluchzen. Zu seinen Füßen ein Mädchen. Noch keine zwanzig Jahre alt. Zitternd. Das Haar blutverschmiert. Ebenso ihre Kleidung. Ihre? Er schaute genauer hin. Untersuchte den Stoff. Jacke und Hose. Erkannte das Zeichen der Haftanstalt. Das Wäschezeichen. Seinen Namen. Ja, es waren die Stücke, die er gestern Morgen in Waldeck angezogen hatte. Wie konnte das geschehen? Er hatte sie doch so gut versteckt. In der alten Plane eingewickelt. Und, was war mit der jungen Frau passiert? Wo war die Kutsche geblieben? Nur einmal hatte er Ähnliches erlebt. In einer Sommernacht. Vor Jahren auf dem Friedhof von Prerow. Dort, wo er ihr begegnet war. Dem kleinen Gretchen, das mit ihm spielen wollte. Verstecken. Zwischen den Gräbern. Und dann mit ihm zum Lied der Nachtigall getanzt hatte, bis sie zu husten anfing. Immer stärker. Bis sie verschwunden war. Sich in Luft aufgelöst hatte. Wortwörtlich. Vor seinen Augen. Wie Rauch. Ebenso wie eben das Fuhrwerk. Doch Gretchen hatte ein schönes Kleidchen getragen. Aus Kaisers Zeiten. Nicht seine alten Sachen aus der JVA. Und geblutet hatte sie auch nur ganz wenig, wenn sie husten musste. Sich das Taschentuch vor den Mund hielt. Ein schönes Taschentuch. Mit Spitze. Und Monogramm: G.Q.
Was sollte er tun? Die Unbekannte ansprechen? Fragen? Nein, sein Gelübde würde er nicht brechen. Aber helfen wollte er ihr. Ja, auch wenn er vermutete, dass ihr nicht zu helfen wäre. Nicht mehr. Dass sie eine Verwandte des Gretchens aus Prerow wäre. Eine Untote. Eine Wiedergängerin. Ein Nachtmahr. Die er ja mochte.
»Gretchen. Grete. Mein Name …« Das Mädchen hatte sich etwas aufgerichtet und schaute ihn an. Deutlich konnte er jetzt ihre Wunde sehen. Den Schädel. Das Loch. Wo ein Stück des Knochens fehlte. Beinahe faustgroß. »… ist Grete Adrian.« Sie reichte ihm ihre zierliche Hand zum Gruß.
Er ergriff sie. Wollte sie ergreifen. Griff ins Leere. Ein Rascheln wie von Federn, von Flügelschwingen. Erhob sich, zog an ihm vorbei. In das Waldinnere. Das Innerste.
Dort, wo eben noch die Blutende gelegen hatte, fing es nun zwischen Laub und Gezweig zu blühen an. Buschwindröschen. Blaustern. Maiglöckchen auch.
9. Rigoletto
Der Bote nimmt behutsam das Glöckchen. Es ist aus Glas. Zerbrechlich. Ziseliert. Ein Namenszug: Claudia. Ihr Taufgeschenk. Mit dem ihre Sammelleidenschaft begonnen hatte. Wie sie ihm vorhin erzählt, kurz nach der Begrüßung in ihrer Glockenwelt. »Fast 500 Stück. Aus aller Welt. Allen Epochen.« Eine einladende Geste. »Sogar aus der Römerzeit.« Stolzer Ton. »Große und kleine. Ganz kleine.« Ein anzüglicher Blick, den sie wahrscheinlich für neckisch hielt. Kokett. Ebenso wie die Bewegung, das Schaukeln des Oberkörpers. Das Spiel mit den Glöckchen, denen an den Ringen in ihren Ohren und jenen zum Schmuck der Brüste.
Schon beim Empfang an der Tür hatte sie nur wenig mehr getragen, war in Sinnlichkeit gewandet. Vermeintliche. Doch ihr Treffen wies auch eine gewisse Eindeutigkeit auf. Für sie.
Der Bote hat ein anderes Ansinnen. Doch die Möglichkeiten der neuen Zeit haben es ihm leicht gemacht. Den Weg geebnet. Entsprechende Seiten im Internet, ein bisschen Recherche, ein bisschen Spiel. Und sie bot schon einen schönen Anblick. Auch wenn es dem Boten nicht um Lust geht. Um Eros. Gier. Den Austausch von Körperflüssigkeiten. Ihre Nacktheit erleichtert ihm vor allen seine Arbeit, nimmt ihm das Auskleiden ab. Nackt musste sie ja sein. Und es gibt noch mehr zu tun. Viel mehr. Darum zögert er nicht lange. Zupacken. Noch im Wohnzimmer. Auf dem Teppich. Sie hat ihm gerade ihr erstes Glöckchen zeigen können. War für einen kleinen Wimpernschlag wieder Kind gewesen, beinahe zart, anrührend gar. Bevor ihr Kehlkopf eingedrückt wird. Das Genick gebrochen. Dens axis, der Zahn des zweiten Halswirbels, frakturiert.
Nun in den Flur. Den Rucksack geholt. Sie hatte ihn ganz neugierig betrachtet und gefragt, was denn da drin sei. Wahrscheinlich hat sie an ausgefallene Accessoires gedacht, etwas in Lack und Leder, mit Nieten, Reißverschluss. Masken womöglich. »Spielzeug«, hatte er geantwortet. Gelächelt. Es versucht.
Spielzeug, mit dem er nun zu spielen anfängt. Die Schwarte hat er bereits daheim vorbereitet. In Streifen geschnitten. Lange Streifen, etwa handbreit. Ein ganzes Tier hatte er dafür geopfert. Auch die Löcher waren schon gestanzt. Die Nadeln ausgewählt. Sie mussten ja eine bestimmte Stärke haben. Er hatte sich zu erinnern versucht, wie es seine Großmutter damals in der kleinen Küche gemacht hatte. Den Sonntagsbraten. Selten zwar, dafür unvergessen. Der Hirsch mit den weißen Punkten. Der Bote hatte als Kind »Fliegenhirsch« dazu gesagt. Gesungen: »Opa machte große Pirsch. Und Oma daraus Fliegenhirsch.« Schöne Zeiten, lange vergangen, doch unvergessen. Diese Zubereitungsart erwies sich für sein Vorhaben allerdings als ungeeignet. Er will ja kein Blut hinterlassen. Hier nicht. Keine Blutspuren legen, auch wenn es hübsch aussehen würde. Ihre gebräunte Haut. Und dann die weißen Flecken des Tieres. Dazwischen. »Fliegenclaudia.« »Fliegenippich.« Darum hat er sich für ein anderes Verfahren entschieden. Ein ähnliches mit vornehmeren Namen. Französisch. Er hofft, dass sie seine Botschaft auch so lesen und verstehen würden. »Lies, wenn du es verstehst! Prüfe, wenn es gefällig ist!«, wie Oma immer geraunt hatte.
Sorgfältig verteilt er nun die Schwartenstreifen und wickelt sie um die tote Frau. Nicht zu dicht. Nein, sie soll nicht zur Mumie werden, nicht zur Puppe im Kokon. Nur gezeichnet. Markiert. Zu etwas Besonderem gewandelt. Seiner Handschrift, seinem Werk. Anschließend fixiert er sie mit den Nadeln, verbindet Haut und Haut. Verändert dann ein wenig ihre Position. Wechselt sie erneut. Soll sie liegend gefunden werden? Sitzend? Oder gar hängend? Gleich einer ihrer Glocken? Eine schöne Idee, die der Bote aber schnell verwirft. Dafür ist er nicht vorbereitet. Und er hat auch noch anderes vor. Der zweite Teil wartet noch. Der zweite Teil seines Bilderrätsels.
So lehnt er den noch warmen Körper schließlich an eines der Regale, ihren gebrochenen Blick auf das große Fenster gerichtet. Den Garten. Knapp dahinter dann die Dünen. Das Meer. Eine gute Reise. Kleine Wolke. Leise lässt er das niedliche Glöckchen anschlagen, den kleinen Kordelklöppel mit der Perle daran. Armesünderglockenklang.
Leise verlässt er das Haus. Ein ansehnliches Anwesen, friedvolles Idyll auf dem »Millionenhügel«. Malerisch, im wahrsten Sinne des Wortes. Der Bote hatte schmunzeln müssen, als er ihre Adresse las. Die kleine Straße ist nach eben jenem Maler benannt: Alfred-Partikel-Weg. Welche Fügung!
Der Bote besteigt sein Rad. Fährt ins Dorf hinab zur menschenleeren Dorfstraße. Nachsaison. Nach Mitternacht. Dennoch geht er achtsam vor. Schaut, hält die Augen offen, bevor er die Tür ihres Ladens öffnet und die Alarmanlage ausstellt. Vor einigen Wochen hatte er das La Plateau schon einmal besucht, als Claudia in ihrem anderen Schuhgeschäft gleichen Namens in Stralsund war. Die Mitarbeiterin hatte ihn freundlich und zuvorkommend beraten. Ihn sogar für einige Minuten, die er zu nutzen wusste, allein gelassen. Daher braucht er jetzt kein Licht, orientiert sich schnell, atmet den Geruch des Leders ein und betrachtet das erste Fenster. Über die Sprossen hatte er sich zunächst geärgert, nahmen sie seiner Tat doch die Wucht. Die Wildheit der Zerstörung. Erforderten ein Umdenken. Die Besinnung darauf, dass weniger mehr ist. Denn nicht die Zahl der Scherben ist wichtig oder gar die Lautstärke des Zerberstens. Nein, die Stelle, wo sie niederfallen. Wo sie gefunden werden.
Der Bote holt seine Werkzeuge aus dem Rucksack: Glasschneider und Freund Plümper. Zieht seine Kreise über die Scheibe gleich einem Schlittschuhlauf. Wahrt Vorsicht. Holt den ersten Mond. Vollmond. Lässt ihn zu Boden fallen. Innen. Zerbrechen. In Scherbenfein.
Dann verlässt er das La Plateau, schließt ab und tritt an die zweite Scheibe. Sichert. Schaut die Dorfstraße entlang. Versichert sich, dass er allein ist und wiederholt die Operation. Die Prozedur. Nur dass nun der Mond aus Glas außen häufelt. Vor dem Geschäft.
Der Bote packt ein. Wirft einen Blick aufs Bühnenbild, öffnet dann wieder die Ladentür, dreht sogar das Schild um: Geöffnet. Eröffnet. Die Partie. Das Schachspiel. Das Spiel der Könige, das er vom Opa erlernt. Mit ihm gespielt. Bis jener närrisch wurde.
Ein vages Knurren unterbricht seine Betrachtung. Er dreht sich um und sieht einen Hund auf der anderen Straßenseite. Ähnlich dem vom Reitergut. Ähnlich? Oder aber? Auf jeden Fall auch ein großer schwarzer Hund, ein Dobermann, in der Finsternis der Nacht. Wie aus einer der Geschichten, die ihm Oma erzählt. Kreuzwege. Glühende Augen. Und ein sonderbarer Name, auf den der Hund hört. Der dem Boten entfallen ist. Er wird nachschauen. Ob er das Buch in Omas kleiner Wohnung noch finden wird?
Dann radelt er davon. Fährt ein kurzes Stück bis zur Strandhalle. Verstaut das Rad auf der Ladefläche seines Wagens, verlässt Ahrenshoop. Ohne Licht. Richtung Norden. Der Ruhe entgegen. Seiner Ruhe.
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