Wien!

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Till Angersbrecht

Wien!

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Dr. Brohh

Die Verengung der Welt

Elli Koschinsky

Die schöne Leich

Rosen, Rosen, Rosen

Auch das noch!

Es brodelt in meinem Kopf

Ein Loblied auf Forchtel

Thomas Bernhard war hier zu Gast

Die Zureiterin

Zwei Araber am Gürtel

Todessehnsucht

Kein Server!

Im Stephansdom

Kaiser Konny

Im Demel

Dr. Pittorius

Der Handaufleger

So etwas dulde ich nicht!

Dreht sich der Erdball noch?

Hinter den Butzenscheiben

Die Gürtel-Rose

Bin ich ein Spinner?

Muezzin raus aus Wien!

Quälende Überlegungen

Der Naschmarkt

Ich beginne meinen Bericht

I bin dei Präsident, Schani

Albert

Zur Salztorbrücke

Die Insel der Seligen

Lisa ist aufgelöst

Werft euren Schmuck ab, der verführt zur Sünde!

Die Kraft der Netsukes

Böse Gedanken

Die letzte Brücke

Kräfte der Selbstheilung

Der Gescheiterte

Schlägerei im Café Demel

Ich spreche das erlösende Wort

Gusti Semmelweiß

Er hat uns alle verhext

Gott will es, du Schlampe!

Entführt

Der Wiener Polizeipräsident

Alles völlig normal

Die Ironie der Natur

Der Hengst im Dom

Die übrigen Araber wurden verspeist

Die Unterwelt

Sehr geehrter Herr Chefredakteur!

Ich bin allein

Schreie aus einem Festsaal

Die Verheißung

Es geschah auf dem Heldenplatz

Der Tag des Heiligen

An der Marienbrücke

Der Fall

Eine schwankende Menge

Abstieg in die Hölle

Der Spielberg

Die Frau mit dem Messingschopf

In der Himmelpfortgasse bei Gusti

Der Plan

In die Furche gestreut

Conditio humana

Der Leutnant

Im leopoldinischen Trakt

Die kleine Ewigkeit einer verströmenden Zeit

Der Mann auf der Estrade

Unendlichkeit aus der Enge

Wien!

Impressum neobooks

Dr. Brohh

Wien!

Till Angersbrecht

Jeder Morgen ist im Nachhinein hell, strahlend hell. Umso lichter, je weiter er in der Vergangenheit liegt. So war es auch damals, ich in diese Stadt gelangte, ein Morgen, wie er nicht schöner sein konnte. Denn natürlich habe ich meine Verpflanzung an die Ufer der Donau als einen Aufstieg erlebt – und als ein großes Kompliment noch dazu, denn ich hatte mit meinen zwei, drei Feuilletons die Aufmerksamkeit meines Chefs erregt. Gelungen waren sie schon, aber was will das schon heißen? Meiner Unzulänglichkeiten bin ich mir, offen gestanden, nur zu deutlich bewusst. Dass jemand ein paar halbwegs zusammenhängende Zeilen zustande bringt, ist ja wirklich keine besondere Leistung. Das gelingt beinahe jedem, der das Alphabet in der Schule gemeistert hat. Doch war es nun einmal so, dass mein lieber Chef, Erbrecht Ebenholzer, einen Narren an mir gefressen hatte. Und verständlicherweise war ich der Letzte, ihn deswegen zu tadeln. Aber dass ich seit einiger Zeit an nichts anderes mehr dachte als an meine künftige Rolle in Wien, dieser einzigartigen und noch dazu einzigartig seltsamen Stadt, ist zweifellos richtig. Denn Sonderbares gibt es dort wirklich zu Hauf. Von glaubwürdigen Augenzeugen war mir manches berichtet worden, z.B. von Herren der alten Schule, die einer Frau mit den Worten „Küss die Hand, meine Gnädigste“ ihre Aufwartung machen.

Welch ein Märchenreich, dachte ich. Dort lebt sie noch, die überall sonst längst versunkene Zeit! Und die Reichen und Schönen, so wusste ich ebenfalls, strömen dort alljährlich auf dem Opernball in einem unglaublich vornehmen Bauwerk mitten im Herzen der Stadt zusammen, nur um ein Fest des Eros zu zelebrieren, das außerhalb dieser Insel der Seligen nur in lausigen Techno-Discos gefeiert wird. Als Student hatte ich die Donaumetropole schon mehrfach, wenn auch immer nur kurz, besucht. Ich liebte sie auf den ersten Blick, diese Stadt im vornehmen Frack: wo im ersten Bezirk um die Hofburg noch immer der Kaiserlook der alten Habsburger Monarchie die Besucher in ehrfürchtiges Staunen versetzt. Unsereiner kommt doch gewöhnlich aus Städten, wo man sich fühlt wie unter einer Motorhaube: links und rechts pochende Kolben, Filter, Dynamos - kurz alles, was für das mechanische Funktionieren notwendig ist. Wien dagegen lebt die ganzen sieben Tage einer Woche in poetischem Festgewand, davon hat man bei uns gar keine Ahnung. Die meisten heutigen Städte tragen das ganze Jahr ja nur die prosaische Kleidung von Alltag und Arbeit, Arbeit und Alltag.

 

Wie schön diese Stadt doch ist – das war es, was meinen Kopf wie ein Fusel in angenehme Verwirrung versetzte. Und ihn auch jetzt noch in diese belebende Stimmung versetzen würde, wenn sich nicht inzwischen etwas ereignet hätte, das mit dem Wort ‚ungeheuerlich’ völlig unzureichend benannt ist, aber an dieser Stelle nur angedeutet sein kann.

Zu der Stadt an der Donau, wo meine Tätigkeit nun beginnen soll, gehört für mich auch Dr. Brohh, der Geheimnisvolle! Seine Aufsätze hatte ich natürlich schon vorher gekannt und war bei ihrer Lektüre jedes Mal ins Schwärmen geraten. Labyrinthisch erscheinen sie mir, diese überaus klugen Essays, so verschlungen, so voller unerwarteter Veduten. Manchmal sind es Ausblicke ins Weite, manchmal Pfade, die in die Tiefe wie in Abgründe führen. Logik spielt für Dr. Brohh nur eine untergeordnete Rolle, dennoch versteht ihn jeder gleich auf den ersten Blick. Der Mann denkt in Gefühlen. Ich war so angetan von seinen Stücken, dass ich mich sogar zu drei, vier Zeilen einer Lobeshymne verstieg.

„Jede Stadt hat ihre Besonderheiten, Shiras seine Rosen, Venedig seine Kanäle, Rom das Kolosseum, aber Wien brüstet sich mit ganz anderen Dingen: Es hat seinen Geist, der sich regelmäßig in sterblicher Hülle verkörpert, und zwar in keinem Geringeren als Dr. Hieronymus Brohh. Der ist seines Zeichens Orakel, genauer gesagt, ein Kaffeehausorakel, dessen Verlautbarungen über Gott und die Welt unter den führenden Kreisen der Stadt einen hervorragenden Ruf genießen. Dr. Brohh schreibt über alles: über Gott, den Teufel, den letzten Kaiser und den Anstieg des Meeresspiegels. Natürlich ist er nirgendwo kompetent, wie es Fachleute sind, die nur von ihresgleichen gelesen werden. Nein, Dr. Brohh wird gerade deswegen von allen verstanden, weil er aus der Tiefe des Bauches redet.“

Glücklicherweise habe ich diese pathetischen Zeilen über den Bauchredner Brohh gar nicht erst abgeschickt, sondern sie dem Papierkorb zu fressen gegeben. Brohh – Brohh mit Doppel-H, bitte schön, wie er stets zu betonen pflegt – hat mein Lob nun wirklich nicht nötig: Er ist eine Wiener Institution. Ich würde sagen, dass man ihn aus Wien so wenig wegdenken kann wie den Stephansdom, die Lippizaner, das Burgtheater, den Parteienproporz oder die Kapuzinergruft. Deswegen gab es unmittelbar nach meiner Ankunft für mich auch gar keine andere Wahl, als mich um ein Treffen mit dem stadtbekannten Mann zu bemühen. Wie sollte ich Wien und seine Menschen ergründen, ohne dabei aus dem hierzu berufensten Munde belehrt zu werden?

Brohh imponiert mir sogleich durch seine Körperfülle. Stattlich, geht es mir durch den Kopf, diese großzügige, imponierende, geradezu einschüchternde Leibesmasse. Als literarischer Anfänger dürfte man sich, so wollte es mir scheinen, eine solches Volumen nicht leisten. Das will verdient und erarbeitet sein.

Brohh lächelt mir skeptisch, wenn auch keineswegs unfreundlich zu, als ich ihm meinen Vorsatz eröffne, in die Tiefen der Wiener Seele vorzudringen. Deswegen sei ich hier.

Na servus, junger Mann, tollkühn sind Sie, wirklich tollkühn. Typisch deutsche Naivität, das muss ich Ihnen schon sagen.

Brohh schnippt mit den Fingern, als hätte ich ihm soeben eine Sensation offenbart.

Übrigens haben das schon viele Ihrer Landsleute versucht, sind aber alle kläglich gescheitert. Wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf. Trinken Sie erst mal drei Jahre lang in einem von unseren Heurigenbeisln. Ich gebe Ihnen da gerne eine Empfehlung im Hinblick auf die zu inhalierende Flüssigkeit. Es muss nicht unbedingt der beste Jahrgang sein, den Sie sich inkorporieren. Wichtig ist nur, dass Sie regelmäßig im Vollrausch sind, Wien ist nämlich mit Vernunft nicht zu fassen, schon gar nicht mit kantischer Vernunft, wie Sie als Deutscher sie im Gepäck bei sich führen. Darf ich Ihnen als Kind dieser Stadt ein Geheimnis unter vier Augen anvertrauen?

Brohhs Blick verengt sich, wird intensiv, als wollte er mir die Botschaft nachhaltig in den Schädel brennen.

Wien steht jenseits und über aller Vernunft! Hier blüht nicht der kategorische, sondern der Imperativ von Seele und Gefühl.

Er legt eine Kunstpause ein, dann fährt er fort, wobei er mich weiterhin mit zusammengekniffenen Augen mustert.

Aber, was sage ich da, in Ihrem jetzigen durchaus unerleuchteten Zustand werden Sie mich gar nicht verstehen. Dazu müssen Sie sich zunächst einmal häuten, Ihre ganze Vergangenheit als Deutscher erst einmal vergessen - radikal vergessen.

Seine Reden verfehlen nicht, einen gewaltigen Eindruck auf mich zu machen. Ich war ja soeben erst eingetroffen. Dr. Brohh beeindruckt mich, wenn er so nach Art eines gelangweilten Weisen von oben herab zu mir und seinen vielen Bewunderern spricht, die ihn regelmäßig solange umringen, bis er sie mit einer müden Bewegung der linken Hand plötzlich entlässt, weil der schöpferische Impetus über ihn kommt – von irgendwoher aus der Höhe fällt er gleichsam auf ihn herab. Dann zückt Brohh Bleistift und Papier, richtet den Blick auf ein vor ihm liegendes Heft und macht im selben Augenblick allen Anwesenden klar, dass er nicht länger gestört zu werden wünsche.

Sich selbst überlassen und der vor ihm stehenden Tasse Melange, bringt Dr. Brohh dann seine Aphorismen oder jüngsten Erkenntnisse über die Wien- und Weltpolitik zu Papier, die regelmäßig in einer Kolumne der ‚Presse’ und anderen Wiener Zeitschriften erscheinen. Mein erster Eindruck ist der eines Buddha. Ich glaube, er selbst fühlt sich auch ganz wie der indische Heilige, denn was er seiner Umgebung dozierend übermittelt, trägt er stets im Ton der Beglückung vor. Die Wirkung ist unverkennbar – alle jene, denen er eine Audienz gewährt, scheinen seinen Dunstkreis in geläuterter Stimmung und innerlich gestärkt zu verlassen. Mir steckt er bei unserem ersten Treffen, sozusagen als besonderen Vertrauensbeweis, einen Artikel aus seiner Feder zu: Der sei kürzlich im Wiener Tag- und Nachtfalter erschienen.

Die Verengung der Welt

Von Dr. Hieronymus Brohh

„So ist er nun mal der Herr Karl, unser Zeitgenosse auf der Insel der Seligen: Eng angekettet an den Pflock seiner Augenblickswünsche und unbedeutenden Tagessorgen, blickt er fast nie über den Tellerrand der gerade fälligen Aktualität. Während die vier Wände seiner Mietwohnung im ersten Bezirk für ihn die Grenzen des Kosmos bilden, entgeht es ihm ganz und gar, wie der große, runde durch das All trudelnde Globus unter ihm gleichsam schrumpft und verschrumpelt, ganz so als wollte der spielende Knabe, der unser Schicksal nach der Vorstellung der alten Griechen in seinen Händen hält, sich einen besonderen Spaß daraus machen, den Erdball auf einer heißen Herdplatte auszudörren. Die Welt wird eng, ja sie wird sogar jeden Tag etwas enger, ganze Teile sind bereits extraterritorial – Feindes- und Niemandsland, wo sich Herr Karl nicht mehr hintrauen würde. Da sind die neuen Kopfjäger unterwegs, die neuen Kannibalen, die neuen Lösegelderpresser, die neuen Vergewaltiger, Henker und Schlächter, die nicht einmal davor zurückschrecken würden, einem braven Wiener aus dem ersten Bezirk den Kopf abzuschneiden. Die Welt wird eng - und Herr Karl hier in Wien bekommt das nicht einmal mit.

Es ist kaum zu glauben: Schnelle Autos hat fast jeder von uns, bei manchen sind es schon zwei oder drei pro Familie, aber inzwischen gibt es ganze Regionen, die wir ohne Gefahr für Leib und Leben nicht länger befahren dürfen. Flugzeuge fliegen jedes Jahr in größerer Menge, aber es gibt immer weniger Plätze, auf denen wir unbesorgt landen können. Davon aber will unser Herr Karl gar nichts wissen. Er bildet sich immer noch ein, auf einer Insel zu leben, einer Insel der Seligen, wie er das nennt. Ungerührt, als wäre nichts geschehen, schlürft er allmorgendlich seinen Espresso in sich hinein, ungerührt, als gäbe es die weite Welt nicht einmal. Dann verbringt er den restlichen Tag damit, den aufgestauten Grant auszuschwitzen.“

Solche Worte perlen dem Dr. Brohh mühelos aus der Feder. Andeutungen, Anspielungen und geistreiche Pirouetten scheinen ihm zuzufliegen, aber manchmal treibt er es doch zu arg, so jedenfalls kam es mir damals vor. Erst sehr viel später sollte es dann gerade der Schluss dieses Aufsatzes sein, der mir nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte. Ist Brohh da etwa selbst zum Sprachrohr für jenen Würfel spielenden Knaben geworden, den er in seinem Artikel erwähnt (zweifellos mit der bekannten Eitelkeit eines Literaten, der ganz gern die Pfauenfeder seiner humanistischen Bildung spreizt)? Dr. Brohh beendet seinen Artikel mit folgenden Worten, die ich jetzt, wo ich diesen Bericht niederschreibe, nicht ohne Erschütterung lese und wiederhole:

„Und wenn in unserer Zeit, wo auf einmal alles möglich erscheint, selbst das Unmögliche geschähe? Ich meine, wenn Wien selbst schrumpfen würde, weil wir nun einmal im Zeitalter der Globalisierung leben, und kein Ereignis vor den Toren der eigenen Stadt nur deswegen stehen bleibt, weil wir die Ampel auf rot gestellt haben? Angenommen, Wien würde enger und enger werden, angenommen, wir würden in der Stadt nur noch zu Fuß gehen können, weil nur noch der Erste Bezirk und vielleicht noch der Naschmarkt übrig bleiben? Eine absurde Vorstellung, hält mir der ungeneigte Leser entgegen? Gewiss doch, das gebe ich bereitwillig zu, aber aufgepasst: Wir leben in einer Zeit der Absurditäten, die uns wie die apokalyptischen Reiter von allen Seiten bedrängen.“

Elli Koschinsky

Das Café Griensteidl liegt im Schatten der Hofburg gleich neben dem großen Eingangsportal. Ich betrete es in aller Früh und nicht ohne Grund: Im Gegensatz zu den meisten intellektuell knisternden Köpfen der Stadt gehört Brohh zu den seltenen Morgenmenschen. Dass er mich nicht wiedererkennt, wundert mich keinesfalls. Es ist doch klar, dass ich für diesen Geistesriesen nur ein Piefke unter vielen bin, eine Spezies, die ihm nicht sonderlich gefällt, auch wenn er ihr gern seine Belehrungen erteilt. Heute allerdings betrete ich das Café am Michaelerplatz so zeitig, dass ich nur eine einzige Person ihm gegenüber bemerke, und von dieser nur den Rücken und das rostbraune Haar. Erst als ich mich auf der Höhe der Sitzecke befinde, erkenne ich Elisabeth Koschinsky. Ich zucke zusammen, kein Zweifel, sie ist es. Schon zweimal habe ich sie auf der Bühne des Burgtheaters gesehen und auf Anhieb bewundert, zuletzt in Horvaths „Geschichten aus dem Wiener Wald“, wo sie die unglückliche Marianne spielte.

So verblüfft bin ich im ersten Moment über diese Begegnung aus nächster Nähe - bis dahin hatte ich sie ja nur aus der Ferne mit stark geschminktem Gesicht gesehen -, dass es mir die Sprache verschlägt und Dr. Brohh mich mit einem Ausdruck mustert, in dem sich abweisende Skepsis und Mitleid mischen: das Mitleid mit einem offensichtlichen Tollpatsch.

Es ist ein Glück, dass mir die Koschinsky mit einem Lächeln entgegenkommt, einem Lächeln, das ich, um es gleich hier zu Beginn meiner Chronik wahrheitsgemäß zu verzeichnen, von keinem anderen Menschen kenne. Sie hilft mir aus der Verlegenheit, kaum dass ich meinen Namen ausspreche.

Also Sie sind der Carsten Reddlich, dem ich das Loblied auf unsere Aufführung in der Frankfurter Allgemeinen verdanke! Bitte setzen Sie sich doch. Brohh, dieser junge Mann hat ein Gespür für Horvath und unser Burgtheater wie sonst kein anderer Deutscher.

Dr. Brohh nickt ihr zu und legt ihr die Hand auf den Arm.

Liebe Elli, wie schön ich es finde, dass Sie so begeisterungsfähig sind! Glauben Sie mir, die Begeisterung, das ist eine beinahe metaphysische Qualität, die den Ausnahmemenschen von bloßen Kopien unterscheidet. Ich glaube Ihnen sofort, dass der junge Mann Sie Ihren Verdiensten entsprechend gewürdigt hat, alles andere würde ja eine totale Verkennung Ihrer Talente bedeuten. Aber, bitte schön, das heißt noch lange nicht, dass der junge Mann Horvath, Wien oder gar die Wiener Seele wirklich versteht. Lobreden halten, Verrisse schreiben, kurz, halbwegs intelligente Gedanken über dieses und jenes sekretieren, das bringt jeder von uns Federfuchsern ohne viel Geistesaufwand zustande.

Schicken Sie mich zum Beispiel, na sagen wir, unter die Eingeborenen nach Papua-Neuguinea. Sie werden sehen, mit welcher Kunstfertigkeit und Überzeugungskraft ich die Leistungen der dortigen Einheimischen beschreibe, die es neuerdings fertig bringen, von der Jagd auf menschliche Köpfe auf die von Kasuaren umzusteigen, und dass anscheinend mühelos, ohne seelischen Schaden zu nehmen. All das würde ich sozusagen aus dem Ärmel schütteln. Geistesflüge solcher Art gehören nun einmal zu den Hausaufgaben aller halbwegs literarisch gebildeten Menschen. Jeder von uns hat seinen sprachlichen Instrumentenschrank mit allerlei Gerät vollgestopft, das uns in allen erdenklichen Lagen über die Runden hilft.

 

Aber heißt das schon, dass ich die Einheimischen Papua-Neuguineas wirklich verstehe? Nein, natürlich heißt es das nicht, obwohl ich auf dieser Pazifikinsel doch nur in das Innenleben von Wilden eindringen muss. Aber jetzt machen Sie bitte einen Sprung über mehrere Tausend Jahre Zivilisation zu unseren unendlich viel raffinierteren Wienern mit ihrer hochgezüchteten Seele. Wie soll ein Fremder das begreifen?

Ich kann mir ein heimliches Lächeln nicht verkneifen. Dieses Phantasieren über die Kasuare von Neuguinea und die hochgezüchtete Seele der Wiener, das ist schon der ganze Brohh: witzig, amüsant und alles so leicht dahingesprochen, dass er seine Anhänger zur Not Tage lang auf diese Art zu unterhalten vermag. Und dennoch ziehen seine Worte in diesem Augenblick an mir vorbei. Sie strömen sozusagen ins Leere, weil ich meine Augen nicht von Ellis Gesicht losreißen kann. Ich glaube, ich brauche mich nicht näher zu erklären. Jeder hat in seinem Leben irgendwann diesen Moment erlebt, da ein Funke überspringt, er innerlich sozusagen in Brand gerät. Mein Verstand ist nahezu kalt gestellt, nicht völlig ausgeschaltet natürlich, denn ich gebe mir alle Mühe, meine innere Verfassung unter Verschluss zu halten. Es gibt nun einmal Konventionen, über die man sich nicht hinwegsetzen kann. Doch dass ich von dieser Frau nicht mehr loskommen werde, das ist mir augenblicklich auf eine beinahe schmerzhafte Weise klar. Ihre Stimme, ihr seltsam schwebendes Lächeln, ihr rostbraunes fast bis auf die Schultern fallendes Haar - alles an dieser Frau fesselt mich.

Wissen Sie übrigens, wendet sich Elli mir zu, als hätte sie etwas von meiner inneren Erregung bemerkt und wollte mich von sich selbst und den Witzeleien Dr. Brohhs ablenken, wissen Sie, dass alle Welt ganz wild nach diesem Handaufleger aus Deutschland ist? Forchtel heißt er und hat einen Blick, einen sehr seltsamen, ich würde sogar sagen, einen Blick, vor dem man sich fürchten muss. Er dringt unter die Haut und zieht die einen magnetisch an, während er bei den anderen im Gegenteil Widerstand oder sogar Widerwillen hervorruft. Nur gleichgültig bleibt keiner in seiner Gegenwart. Dieser Mann lässt niemanden kalt.

Brohh bekräftigt ihre Worte mit einem Nicken.

Es scheint, dass gerade unter den Damen der besseren Gesellschaft viele seiner Anziehungskraft erliegen. Ja, in diesem Handaufleger sehe ich eine Art wiederauferstandenen Rasputin, ein Phänomen zweifellos. Man könnte auch sagen, ein Hand-werker im besten und überhaupt ganz wörtlichen Sinne, der ein nahezu ausgestorbenes Gewerbe von neuem belebt. Die meisten benutzen ihre zwei Pranken doch nur, um in Wirtshäusern damit Radau zu machen oder zu anderen mehr oder weniger banalen Verrichtungen. Ich finde diesen Mann – Forchtel heißt er? – zunächst einmal aufregend und durchaus kompatibel mit unserer alten und neuerdings etwas kraftlosen Vindobona. Ich würde sogar sagen, er passt nach Wien, auch wenn er ein Deutscher ist, aber immerhin kommt er aus Rosenheim in Bayern, woher viele unserer fernen Ahnen stammen.

Wissen Sie, spricht Dr. Brohh jetzt zu mir hinüber, wir Österreicher lieben das Immaterielle, wir sind geradezu süchtig nach Geist. Und dieser Mann gebraucht seine Hände, um damit Geist auszusenden, einen feurigen Strom sozusagen, der unsichtbar auf andere überfließt, wie es scheint, vorzugsweise auf den weiblichen Teil unserer Stadt. Energie, nennt er das.

Also Energie, meinetwegen! Energie haben wir hier dringend nötig. Der einzige Fehler des typischen Einheimischen unserer Stadt besteht doch darin, dass ihn unsere zweitausendjährige Zivilisation schlaff und müde machte - manche von uns sind geradezu Defätisten. Wenn da jemand aus dem von roher Kraft immer noch strotzenden Bayern kommt, vollgeladen mit Energie, dann soll er willkommen sein.

Mitten in seiner Tirade bricht Brohh plötzlich ab, räuspert sich. Seine Augen nehmen einen sinnenden Ausdruck an, genauer gesagt, schaut er über Elli Koschinskys und meinen Kopf hinweg irgendwohin in die Leere. Schluss! Das Zeichen ist unverkennbar. Elli begreift so gut wie ich, dass der besondere Moment gekommen ist, wo der schöpferische Geist sich auf Dr. Brohh niedersenkt, mit schnellem Flügelschlag sozusagen. Die Audienz ist vorüber. Wir dürfen gehen.

Wir stehen vor dem Griensteidl auf dem Michaelerplatz.

Nach der Lektüre Deines schönen Artikels, sagt Elli zu mir, hatte ich sofort den Wunsch, Dich irgendwann zu treffen.

Die Wirkung dieser Worte vermag ich im Nachhinein nur schwer zu beschreiben. Diese Zeilen notiere ich sehr viel später, und ich verfüge natürlich über genug Erfahrung als Feuilletonist, um zu wissen, dass ein Autor sich hüten sollte, seine Gefühle auf allzu offensichtliche Art auszudrücken. Deshalb erlaube man mir die ornithologische Verfremdung. An diesem Tag glaube ich über den Kohlmarkt mit weit geöffneten Schwingen zu schweben und dabei nur ein einziges Bild vor meinen Augen zu sehen, das Bild dieser Frau. Ein oder zweimal wurde ich auf dem Graben angesprochen, aber ich fliege weiter, nehme niemanden der an mir Vorbeiströmenden wahr. Wie im Traum gelange ich zu meiner Wohnung in der Seilerstätte.