Nixentod

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Nixentod

Impressum

Personenregister

Prolog

Melusines Schuld

Der Wassermann – Tod im Landwehrkanal

Melusine – Tod in der Oder

Undines Tod

Undine – Tod in der Havel

Die Spur der Nixen

Zwei Winternächte im Jahre 1969

Eine Sommernacht im Juli 1997

Der Nixenschatz

Ein Nixenrätsel

Die Zauberin vom See

Chronik einer Nixe

Rusalkas Tod

Rusalka – Tod in der Spree

Schattengeister

Altslawische Forschungen

Galatheas Tod

Galathea – Tod im Rhin

Der Moorteufel

Furioso

Peregrinus

Epilog

Über den Autor

Thomas L. Viernau

Nixentod

Linthdorfs 1. Fall

Kriminalroman

XOXO Verlag

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Print-ISBN: 978-3-96752-013-2

E-Book-ISBN: 978-3-96752-513-7

© 2020 XOXO Verlag

Umschlaggestaltung: Grit Richter

Coverbild: Thomas L. Viernau

Buchsatz:

Alfons Th. Seeboth

Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

XOXO Verlag ein IMPRINT

der EISERMANN MEDIA GMBH

Gröpelinger Heerstr. 149

28237 Bremen

Alle im Roman vorkommenden Personen sind rein fiktiv. Sollte es zufällige Ähnlichkeiten mit lebenden Personen geben, so ist das nicht beabsichtigt.

Personenregister

In Potsdam:

Theo Linthdorf, KHK beim LKA Potsdam

Dr. Nägelein, Kriminaloberrat, Dienststellenleiter im LKA Potsdam

Regina Pepperkorn, Profilerin (operative Fallanalytikerin)

Der junge Moser, Kriminalanwärter aus Schwaben

Dr. Eugen Wigbert Kupfer, Staatssekretär und Kunstsammler

An der Oder:

Hansi Kraeft, ein Oderdeichläufer

Herbert Wenske, der Wirt vom „Alten Oderschiffer“ in Kienitz

Kalle, ein Treckerfahrer im Oderbruch

Werner Cholynski, Feuerwehrmann aus Kienitz

Ronny Kraeft, ein alkoholabhängiger Fischer

Brunhild Kraeft, dessen Frau und Mutter von Hansi Kraeft

Der alte Cholynski und der alte Minckwitz, zwei Saufkumpane

An der Havel:

Louise Elverdink, KHK bei der Kripo in Brandenburg/Havel

Alfred Stahlmann, KHK bei der Kripo in Brandenburg/Havel

Dr. Haberer, Kriminalrat, Dienststellenleiter in Brandenburg/Havel

Das Wirtspaar vom Alten Fährhaus in Plaue/Havel

Minna Quittenburg und Alice Krapp, Witwen aus Plaue/Havel

An der Spree:

Jan Terpin, KHK bei der Kripo in Cottbus

Margret Alpan, KOK bei der Kripo in Cottbus

Der junge Pepusch, ein eifriger Polizist

Oksana Usumbayeva, eine Offizierstochter aus Adygien

Roger Fuhrmann, Geschäftsmann aus Cottbus

Am Rhin:

Roderich Boedefeldt, Dorfpolizist in Linum

Anne Hirschfänger, Gemeinderätin in Linum

Professor Dr. Horst Rudolf Diestelmeyer, Ornithologe

Kehl, KOK bei der Kripo in Neuruppin

In Berlin:

Bernd Voßwinkel, KHK bei der Berliner Kripo

Karolin Brakel, eine revoltierende Lebenskünstlerin

Arvid Zach, ein Berliner Kaufmann

Bärbel Zabelthau, Rentnerin, Mutter der Karolin Brakel

Dr. Wendelstein, Inhaber eines Berliner Auktionshauses

Griseldis Blofink, Sekretärin bei Wendelstein

Marek Kowalerowicz, Assistent von Prof. Reginald Kupfer

Bettina Khorff, Kunsthistorikerin und Karrierefrau

Diethart Kunze, Pensionär, Vater der Bettina Khorff

Freddy Krespel, Fotograf, Freund von Linthdorf

In Polen:

Frau Kwiatkowska, Rentnerin aus Dabroszyn

Jadwiga Olynska, Polizistin bei der Kripo in Gorzow

Weitere wichtige Personen (ortsungebunden):

Martin Peregrinus, Freischaffender

Daniel Peregrinus, dessen Bruder

Professor Reginald Kupfer, Koryphäe für Altslawistik

Alle im Roman vorkommenden Personen sind rein fiktiv. Sollte es zufällige Ähnlichkeiten mit lebenden Personen geben, so ist das nicht beabsichtigt.

Prolog


Nixen

... bringen den meisten Menschen Tod und Verderben. Der Name »Nixe« kann in zweierlei Hinsicht gedeutet werden. Zum einen gibt es im Althochdeutschen den »Niccus«, einen Wassergeist, der auf dem Grund von Flüssen und Seen lebt.

Eine weitere Deutung ist mit dem lateinischen »Necare« verbunden, das schlicht und einfach mit »Töten« übersetzt werden kann. Ihr meist schönes Äußeres kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Umgang mit diesen zwielichtigen Wesen für normal Sterbliche stets riskant ist.

Oftmals bezahlt man das Spiel mit den Nixen mit seinem Hab und Gut, nicht selten sogar mit dem Leben.

Samstag, 31. Dezember 2005

Berlin – Mitte

Die Frau lag reglos auf dem Bürgersteig. Die Arme waren weit ausgebreitet, als ob sie fliegen wollte. Das Gesicht zeigte nach unten, man konnte nur das braune, lockige Haar sehen. Ein paar Meter entfernt lag das Fahrrad, der hintere Reifen war stark ramponiert.

Das Auto, das direkt neben dem Fahrrad parkte, hatte inzwischen die Warnblinkanlage angemacht. Die nervös aufblinkenden Lichter warfen ein unwirkliches Licht auf die Szenerie. Erhellt von immer wieder aufblitzenden Silvesterraketen, konnte man ein gespenstisches Kabinettstück beobachten.

Der Fahrer stieg aus und lief zu der am Boden liegenden Frau. Die dunkle Gestalt blieb abrupt stehen, rannte wieder zurück zum Auto, machte die Blinker aus und fuhr in hohem Tempo davon.

Langsam kam Leben zurück in die Frau. Ein Bein bewegte sich, der Kopf wurde angehoben, das andere Bein wurde ebenfalls bewegt. Ein Stöhnen durchbebte den geschundenen Körper. Sie wollte sich auf ihren Armen abstützen, um aufzustehen. Die Arme hingen jedoch leblos an ihr herab. Vom Sturz waren ihre Hosen arg in Mitleidenschaft gezogen worden. Die orangefarbene Thermojacke hatte ebenfalls gelitten. Der Boden war mit nassem Schneematsch bedeckt. Die Frau schien vollkommen durchnässt zu sein.

Vielleicht hatte sie schon über zehn Minuten dagelegen, vielleicht auch länger. Sie hatte kein Zeitgefühl mehr. Der Versuch, den gröbsten Schmutz abzuwischen, misslang. Die Arme gehorchten ihr nicht mehr. Hilflos schaute sie sich um. Aber auf dieser stillen Nebenstraße fuhr nur selten ein Auto entlang, vor allem in dieser Nacht.

Leute waren auch nicht zu sehen. Gleich neben dem Trottoir war eine alte Backsteinmauer, dahinter befand sich ein Friedhof. Jetzt, am späten Nachmittag der Silvesternacht waren da natürlich keine Menschen mehr. Weit weg knallten die ersten Böller.

 

Eine tiefe Niedergeschlagenheit ergriff sie. Sie spürte die Nässe und die aufsteigende Kälte. Der Schmerz in den Armen hatte bisher das Gefühl von Kälte überdeckt. Sie wusste, wenn sie hier liegen blieb, würde sie erfrieren. Egal wie, sie musste auf die Beine kommen.

Langsam robbte sie Richtung Backsteinmauer. Dort wollte sie sich mit dem Rücken abstützen, um aufzustehen. Der Weg bis zur Mauer war nicht weit. Vielleicht zwölf Meter. Alter Schnee, verharscht mit scharfkantigen Eiskrusten, türmte sich kurz vor der Mauer. Irgendwie musste sie da drüber hinweg. Vorsichtig begann sie, sich mit den Füßen abzustützen und am Boden entlang zu kriechen.

Sie spürte einen stechenden Schmerz in der Unterleibsregion. Irgendwas schien da auch von dem Sturz zerstört zu sein. Sie blickte an sich herab. Blut war nirgends zu sehen. Also konnte es nicht ganz so schlimm sein. Sie biss die Zähne zusammen und versuchte, sich in Richtung rettende Backsteinmauer zu bewegen.

Der stechende Schmerz im Unterleib schien ihr alle Sinne zu rauben. Halb ohnmächtig vor Schmerz hielt sie inne. Sie musste tief durchatmen, kalter Schweiß perlte auf der Stirn, sie spürte die Erschöpfung und die totale Hilflosigkeit. Langsam dämmerte ihr, dass ihre Lage ziemlich trostlos war.

Tränen schossen ihr in die Augen, verschleierten den Blick. Sollte so ihr Ende aussehen?

Oftmals hatte sie sich ausgemalt, wie das sein sollte. Alles hatte sie sich dabei vorstellen können, nur hilflos in einer kalten Winternacht mit gebrochenen Armen und anderen Blessuren auf einer einsamen Straße zu erfrieren, das hatte sie sich nicht einmal in ihren schlimmsten Alpträumen ausgemalt.

So lag sie frierend und zitternd vor Schmerz bestimmt noch ein paar Minuten. Dunkelheit umfing sie. Langsam spürte sie, wie die Wärme aus ihrem Körper entwich, die leblos an ihr herabhängenden Arme waren sowieso gefühllos, so lange sie nicht versuchte, sie zu bewegen. In der Ferne sah sie einen flackernden Lichtschein.

Mit der letzten noch verbliebenen Kraftreserve hob sie den Kopf. Ein Auto, ja, wirklich, ein Auto kam langsam auf sie zu gefahren und hielt an ...

Melusines Schuld


Sturmwarnung für die Region Berlin-Brandenburg

Der Deutsche Wetterdienst gibt für die Großregion Berlin-Brandenburg eine Unwetterwarnung. Für die Kreise Prignitz, Ostprignitz-Ruppin, Havelland, Potsdam-Mittelmark und für das gesamte Stadtgebiet von Berlin werden Windgeschwindigkeiten von über Neunzig Stundenkilometern erwartet. Begleitet wird der Wind von starken Niederschlägen.

In den späten Nachmittagsstunden sind sie noch als Regen möglich, später auch als Schnee. Es wird ein Temperatursturz für die Abendstunden von über 15° Celsius erwartet. Vereinzelt kann es daher auch zur Bildung von Glatteis auf den Straßen kommen. Es wird dringend davon abgeraten, mit dem eigenen Auto zu fahren, es besteht akute Unfallgefahr.

Soweit möglich, sollten öffentliche Verkehrsmittel benutzt werden. Der Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg stellt für die betroffenen Regionen zusätzliche Kapazitäten zur Verfügung.

Anzeichen für das Sterben von Menschen auf unnatürlichem Wege - aus dem wendischen Zauberbuch »Koraktor«

Der Tod kündigt sich an, wenn:

nachts ein Käuzchen schreit,

ein Hund den ganzen Tag heult,

morgens auf dem Schornstein eine große Eule sitzt,

ein Maulwurf seinen Haufen direkt an der Hausmauer auswirft,

auf dem Grab eines nahen Angehörigen ein Maulwurf gräbt,

man nachts von schlechten Zähnen träumt,

nachts weiße Wäsche auf der Leine hängen geblieben ist,

wenn zwei Messer gekreuzt auf dem Tische liegen.

Freitag, 30. Dezember 2005

Berlin-Wedding

Wieder hatten sie gestritten. Immer machte ihr die Mutter Vorwürfe. Jetzt schon wieder! Als ob sie sich dauernd in ihr Leben einmischen dürfe. Jedes Mal begann sie mit dieser weinerlichen Stimme und dem vorwurfsvollen Blick auf sie einzureden.

Und sie wusste, dass sie davon nur noch eigensinniger wurde und alles ignorierte. Ihr ganzes Leben lief dieser Ritus nach demselben Muster ab. Mutter begann mit einem tiefen Seufzer ihr Lamento. Karolin hatte diesen Seufzer innerlich schon so oft verflucht und sich vorgestellt, ihrer Mutter einen Knebel in den Mund zu stecken, damit sie endlich schwieg.

Karolin wusste, dass ihre Mutter eine schwache Frau war, total überfordert mit der Aufgabe, eine große Familie zu organisieren und zu leiten.

Der Vater war nie da. Der musste das Geld heranschaffen, was für den Hausbau und den Unterhalt der fünf Töchter benötigt wurde. Er war ständig unterwegs, von Baustelle zu Baustelle. Manchmal kam er nur einmal im Monat nach Hause, manchmal, und das war selten, jedes Wochenende. Je nach dem, wie weit seine Baustelle vom Wohnort entfernt war.

Und wenn er dann da war, trank er. Mutter schloss sich dann in ihrem Zimmer ein, bis er wieder verschwunden war. Manchmal tat sie Karolin leid. Aber dann war da wieder dieser unterschwellige Hass. Sie sehnte sich so nach Normalität, bekam aber immer mehr Chaos.

Ihre vier Schwestern waren da irgendwie immun. Sie waren ja auch schon viel älter und verkrümelten sich, wenn dicke Luft war. Sie musste als Nesthäkchen dableiben und bekam die ganzen Spannungen natürlich mit.

Und jetzt waren Mutter und sie wieder eine Schicksalsgemeinschaft. Lange Zeit hatte Karolin ihre Mutter aus den Augen verloren gehabt. Die hatte nach der Flucht aus dem Hause wieder geheiratet. Aber auch diese Ehe hielt nicht lange. Wahrscheinlich lag es doch an ihrem etwas labilen Charakter.

Plötzlich war Karolin einfach bei ihr aufgetaucht. Nachdem auch ihr Versuch, eine Ehe zu führen, schon nach nur zwei Monaten gescheitert war, musste sie weg aus dieser heimeligen Welt in Bayern.

Onkel Georg gab ihr den Tipp, nach Berlin zu gehen. Dort würde sie auch ihre Mutter wiedersehen, die ihr vorerst unter die Arme greifen könne. Aus dem Provisorium war dann ein Dauerzustand geworden. Karolin teilte sich mit ihrer Mutter die Wohnung.

Jeder hatte zwei Zimmer, dazu eine gemeinsame Küche und ein gemeinsames Bad. Man ging sich so gut es ging aus dem Weg. Mutter ignorierte die Männerbekanntschaften von Karolin, diese war dafür ein dankbarer Kaffeekränzchen-Partner.

Dieses Ritual, in der kleinen Küche Kaffee zu schlürfen und dazu etwas Selbstgebackenes zu knabbern, war lebenswichtig geworden für sie. Wenn Karolin einmal den Zeitpunkt des Kaffeekränzchens verpasst hatte, war sie vollkommen niedergeschlagen und verzog sich für den Rest des Tages in ihr Schlafzimmer.

Karolin wiederum bekam jedes Mal schlechte Laune, wenn Mutter wieder mal »spann«. So nannte sie deren Zustand selbst gewählter Isolation.

Seitdem Karolin die Nachbarswohnung bezogen hatte, war das Verhältnis zu ihrer Mutter noch komplizierter geworden. Die lauerte ihr jetzt regelrecht auf, kam zu den unpassenden Zeiten einfach so vorbei, um irgendwelche banalen Dinge zu besprechen. Sie hatte Verlassensängste. Karolin fühlte sich regelrecht verfolgt von ihr. Jedes Mal, wenn sie sie darauf ansprach, kamen wieder dieser Seufzer und der mitleiderregende Blick.

Heute war wieder so ein Tag, an dem sie Mutter am liebsten gar nicht begegnet wäre. Sie wollte aus dem Haus, weg von Arvid. Draußen stürmte es. Schneematsch und Regen kamen gleichzeitig herunter.

Der Himmel war dunkelgrau, und man konnte vielleicht zehn Meter weit sehen. Genauso hatte sich Karolin das Wetter gewünscht für ihren theatralischen Auftritt. Da stand die Mutter an der Tür ... Ausweichen ging jetzt nicht, also kam sie mit in ihre Küche. Dort stand schon ein Pott Kaffee für sie bereit.

»Kindchen, was hast du wieder angestellt?«

Wieder diese weinerliche Stimme! Karolin schwieg. Dann antwortete sie: »Mama, lass mich in Ruh mit deinen nervigen Fragen.«

Sie wollte es nicht so barsch sagen, war aber erstaunt, wie ruppig ihre Stimme klang.

»Ach, Kindchen ...«

Karolin äffte diese beiden Worte nach, zunehmend gereizt. Die Mutter schwieg betreten. Jetzt war die Zeit gekommen, endlich auch hier einmal reinen Tisch zu machen. All die Wut, die Karolin über Jahre in sich angestaut hatte, brach nun aus ihr heraus.

»Immer hast du mir in mein Leben gepfuscht. Ständig dein Bemuttern und Getue! Es reicht ... Ich hab’s satt. Lass mich einfach in Ruhe! Ich will mir auch nicht länger deine schwachsinnigen Kommentare anhören, was mein Privatleben betrifft. Vielleicht denkst du mal nach, warum ich so geworden bin?«

Für einen langen Moment herrschte betretenes Schweigen. Nur das Pfeifen des Windes in den Hausecken war zu vernehmen.

Der Mutter ging durch den Kopf, was für ein Problemkind Karolin stets war. Sie war eigentlich nicht erwünscht gewesen. Als sie die Schwangerschaft bemerkt hatte, war es schon zu spät. Und Abtreiben im konservativen Bayern der Sechziger Jahre war undenkbar. Zwischen ihr und ihrem Mann war der letzte Funken Liebe schon längst zertreten, als es passierte.

Sie hatte sich gewehrt, aber er war stärker ...

Anschließend lag sie den Rest der Nacht wach und weinte, während er seinen Rausch ausschlief. Von diesem Zeitpunkt an hatten sie getrennte Schlafzimmer. Sie wollte nicht mehr mit so einem Tier ihr Bett teilen. Aber diese Nacht hatte Folgen.

Karolin kam zur Welt. Und von Stund an machte sie Probleme. Wie ein kleiner bösartiger Dämon, der in dem Mädchen zu leben schien, schlich sich der Unfriede in ihr Leben. Die Kleine war ein regelrechter Kobold. Im Gegensatz zu ihren vier größeren Geschwistern, die allesamt harmonisch miteinander umgingen und auch sonst schon ziemlich selbständig waren, schien sie es regelrecht auf Streit und Aufruhr abgesehen zu haben. Keiner kam klar mit ihr.

Die größeren Schwestern waren selten dazu zu bewegen, die Kleine mit in ihre Spiele einzubeziehen. Sie machte ihnen alles immer nur kaputt, riss den Püppchen die Arme aus oder zertrampelte einfach die mühsam aufgebaute Puppenstube.

Selbst die Großmutter, zu der alle gern gingen, war mit dem Mädchen überfordert. Die Oma galt als grundgütige Frau, die den Kindern Märchen vorlas, ihnen ein Kasperletheater bastelte und sie in die nahen Berge zum Wandern mitnahm. Karolin schaffte es aber, dass die alte Frau ausrastete und ihr eine Tracht Prügel verabreichte. Etwas, was sie bei keinem ihrer anderen Enkelkinder jemals auch nur ansatzweise gemacht hatte. Karolin hatte die Katze der Großmutter in einen Schrank gesperrt und sie einfach darin vergessen. Als man nach langer Suche endlich das arme Tier gefunden hatte, war es jämmerlich erstickt und lag mit ausgestreckten Pfötchen auf dem Boden des Schrankes.

Später dann in der Schule ging der Stress mit Karolin weiter. Sie musste sieben Mal in acht Jahren die Schule wechseln. Immer galt sie als verhaltensauffällig.

Einmal hatte sie die Lehrerin mit ihren spitzen Fingernägeln so zerkratzt, dass die Polizei gekommen war. Ein anderes Mal provozierte sie, indem sie vor versammelter Klasse in den Schulraum pinkelte, oder sie schwänzte die Schule und verschwand einfach so für ein paar Tage. Ihrer Mutter erzählte sie stets neue Lügengeschichten. Das Klassenzimmer werde renoviert oder es sei Wandertag und sie fühle sich nicht wohl und bräuchte daher nicht mit.

Als sie vierzehn wurde, wusste sich die Mutter nicht mehr anders zu helfen und meldete Karolin in einer Katholischen Internatsschule mit Ganztagsbetreuung an. Doch sie schaffte es, drei Mal von dort auszureißen. Entnervt gab die Mutter auf, schickte sie zur Großmutter nach München in der Hoffnung, dass sie das Mädchen halbwegs zur Vernunft bringen würde.

Die letzten Schuljahre quälte sich Karolin auf einer Haushaltsschule durch den Stoff. Lernen war nicht ihr Ding. Obwohl sie einen intelligenten Eindruck machte, war ihr das gesamte Schulsystem suspekt. Sich einbringen in eine existierende Struktur, Hierarchien akzeptieren und eine gewisse Disziplin im Umgang mit anderen Menschen – all das war für sie ein rotes Tuch.

 

Karolin wurde immer rebellischer. Ihre Haare hatte sie zu Dreadlocks gedrillt, sie rauchte knapp zwei Schachteln Zigaretten am Tag und trieb sich auf Partys herum, auf denen gekifft wurde und oft auch härtere Drogen mit im Spiel waren.

Ihre Aggressionen lebte sie nun vor allem auf Demos aus. Sie gehörte mit zum harten Kern der linken Szene, marschierte gegen alles, warf Molotow-Cocktails, ließ sich mit anderen Aktivisten an Eisentore anketten, die den Zugang zum AKW Wackersdorf versperrten, sägte Bahnschienen an, auf denen Castor-Transporte rollten, und hatte ständig wechselnde Liebschaften.

Die eigentlichen Inhalte dieser Demos und Protestaktionen waren ihr nicht wichtig, die Hauptsache war dieser kribbelnde Spaß am Abenteuer. Sie betrachtete die Welt wie einen großen Spielplatz, den man nur entsprechend nutzen musste. Mit ihrer beruflichen Entwicklung ging es daher nicht so recht voran. Sie war jung, wollte etwas erleben und nicht schon wieder eine Schulbank drücken. Wenn sie Geld brauchte, jobbte sie stundenweise in Kneipen oder ging auch mal auf den Amateurstrich.

Und jetzt stand sie mit Mitte Vierzig vor ihr. Die Dreadlocks waren verschwunden, die etwas gammeligen Klamotten hatte sie abgelegt und sich ein halbwegs bürgerliches Outfit gegeben, aber noch immer besaß sie diese unterschwellige Aggressivität. Gerade konnte man das in ihrem Gesicht wiedererkennen. Sie schien alles um sich herum vergessen zu haben, stierte ihre Mutter an und schwieg immer weiter.

»Ach Kindchen...«, weiter kam sie nicht mehr.

Karolin hatte sich die schwere Schöpfkelle geschnappt und diese mit einer immensen Kraft auf den Kopf ihrer Mutter gehauen.

Diese fiel sofort um.

Kein Klageton war zu vernehmen.

Wahrscheinlich war sie ohnmächtig geworden.

Karolin beugte sich hinab.

»Mama, so war das nicht gemeint! Mama, komm sag doch was ... Mama!«

Die Frau am Boden antwortete nicht. Ihre Augen standen offen, und es schien, als ob sie sich wundere über diesen so plötzlichen Schlag.

Karolin begriff, dass sie tot war. Sie war von ihrem eigenen Jähzorn überrascht. Dann setzte sie sich an den Küchentisch. In ihr arbeitete es. Sie knabberte an ihren Fingernägeln. Das machte sie immer, wenn sie nicht mehr weiterwusste. Etwas war jetzt in diesem Moment zerbrochen, etwas, dass sie mit der normalen Welt verband.

Die leblose Person am Boden schien das Ende einer wild sich drehenden Spirale zu sein, die sich seit dem Bruch mit Arvid vor drei Tagen zu drehen begonnen hatte. Karolin bezeichnete solche Phasen, die sie immer wieder durchlebte, mit »am Rad drehen«.

Tief in ihrem Innersten wusste sie, dass sie selbst diejenige war, die »am Rad drehte«. Aber sie gestand sich das nie so richtig ein. Immer drehten andere am Rad, welches ihr Schicksal in immer verhängnisvollere Situationen verschlug. Die jetzige Situation schien eine bisher noch nie da gewesene Qualität erreicht zu haben.

Sie war allein mit einer Toten, die noch dazu ihre Mutter war. Dass sie die Frau mit dem Schlag getötet hatte, verdrängte sie. Es war ein Unfall, ein unglücklicher Ausrutscher, der ihr da im Zorn passiert war. Man nannte so etwas Affekt ...

Innerlich kam sie langsam wieder zur Ruhe. Nein, wegen dieser Affekthandlung würde sie sich nicht verantworten müssen, das war ihr klar. Aber sie musste etwas machen mit der Leiche.

Eine dunkle Blutlache hatte sich inzwischen auf dem Fußboden breitgemacht. Es wurde immer offensichtlicher, was gerade passiert war. Die leblose Frau konnte nicht so liegen bleiben. Ob sie den Notdienst vom nahen Virchow-Klinikum anrufen sollte? Sie verwarf den Gedanken sofort wieder. Mehr als den Tod feststellen, konnten die auch nicht.

Es würden wohl eine ganze Menge lästiger Fragen auf sie zukommen, auf die zu antworten sie absolut keine Lust hatte. Aus diesem Grunde fiel auch ein Anruf bei der Polizei aus.

Sie war stark und der Körper ihrer Mutter wog vielleicht mal gerade sechzig Kilo. Das Auto von Arvid stand unten vor dem Haus.

Arvid war in seinem Laden, machte Inventur. Der Schlüssel war drüben in ihrer Wohnung. Karolin wartete, bis es draußen dunkel wurde. Der Sturm hatte etwas abgeflaut. Dann schlich sie hinaus mit der schweren Last auf den Schultern …