Codename Travertin

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From the series: Krügers Fälle #6
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Codename Travertin
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T.D. Amrein

Codename Travertin

Krügers Kampf mit (k)alten Kriegern

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

8. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

Impressum neobooks

Prolog

Die wichtigsten Protagonisten in der Reihe Krügers Fälle

(Haupt) Kommissar Max Krüger 50, Dienststelle Freiburg im Breisgau

Seine Lebensgefährtin Elisabeth Graßel 50

Kommissar Eric Guerin 37, Kripo (Police judiciaire) Colmar, Elsass, Frankreich

Kommissar Kaspar Gruber 47, Kripo Basel, Schweiz

Seine Lebensgefährtin Sonja Sperling

Krügers Team in Freiburg:

Michélle Steinmann 31, Krügers Liebling und vorgesehene Nachfolgerin

Kriminalrat Peter Vogel 60, Chef der Dienststelle Freiburg

Dr. Franz Holoch, Pathologe, unberechenbarer aber sympathischer Egozentriker

Erwin Rohr, Chef Spuren und sein besonders begabter Mitarbeiter Helmut Paschke

Krügers Assistenten Otto Grünwald 35, Thomas Sieber 34

Sekretärin Susanne Trautmann 45 guter Geist des Reviers

Grubers Team in Basel:

Sein Assistent Bruno Finger, Adrian Betschart, leitender Staatsanwalt und Grubers Chef

Pathologe in Basel Dr. Norbert Diener.

Spuren Markus Känzig.

Sekretariat Kirsten Hohenauer.

***

Freiburg im Breisgau, Mai 1985

Das Hotel sah innen genauso aus, wie es von außen wirkte. Schäbig und heruntergekommen. Und selbstverständlich kein Mensch an der Rezeption.

Der Mann im grauen Anzug schlich sich auf die Treppe zu Zimmer 121. Im ersten Stock führte ihn ein ehemals roter Läufer zum Flur mit den Gasträumen. Behände schraubte der Besucher einen Schalldämpfer auf den Lauf der schweren Pistole. Magnum, Kaliber 357. Das Opfer würde kaum etwas mitbekommen. Etwaige Nachbarn ebenso wenig.

Der Mann klopfte sanft mit dem Knauf der Waffe an die Zimmertür, der er den Rücken zuwandte.

Einige Sekunden verstrichen. Dann wurde die Tür ein Stück weit nach innen geöffnet.

Keine weitere Reaktion. Und auch sonst war nichts zu hören. Der Besucher wartete gespannt ab. Konnte es ein Trick sein?

„Komm endlich rein!“, erklang es schließlich ungeduldig. „Worauf wartest du?“

Der Bewohner erwartete also Besuch. Wohl kaum den, der vor der Tür stand.

Ein kleiner Schubs am Türblatt ließ einen Einblick über die Schulter zu. Der Hotelgast wühlte in einer Tasche, die direkt hinter der Tür auf dem Garderobenmöbel im Eingangsbereich stand. Seinen Besucher würdigte er keines Blickes.

Der Mann im grauen Anzug schob sich in den Raum und schloss leise die Tür hinter sich.

Ein unauffälliger, dumpfer Knall, der an das Öffnen eines Bügelverschlusses erinnerte. Auf dem Hinterkopf des Gastes erschien ein sauberes, kreisrundes Loch. Die wühlenden Hände erstarrten. An der Wand vor dem Mann erschien schlagartig ein blutiger Niederschlag, durchsetzt mit roten Fetzen. Fast geräuschlos sackte das Opfer zusammen.

Der Schütze behielt die Waffe im Anschlag. Falls sich weitere Personen im Raum befanden, würden sie das gleiche Schicksal erleiden.

Nichts rührte sich.

Mit vorgestreckter Pistole schob er sich um die Ecke des Eingangsbereichs.

Leer.

Jedoch die Tür zum Bad schien verschlossen. Durch das Schlüsselloch ließ sich kein Licht erkennen, wie er neben der Tür kniend, feststellte. Aus sicherer Deckung drückte er mit dem Lauf auf die Klinke. Die Tür gab nach, öffnete sich nach innen und schlug gegen die Wand. Ein kurzer Blick in den Raum brachte Gewissheit. Genauso leer wie das restliche Zimmer.

Erledigt. Ohne Aufsehen, wie versprochen. Der Auftraggeber würde begeistert sein.

Der Schütze spulte seine Routine ab. Das Ziel hatte er klar erkannt, auch wenn er ihn nur im Profil gesehen hatte. Die Haarfarbe und der markante Schnäuzer passten. Zudem stimmten Zeit und Ort. Insgesamt absolut akzeptabel.

Jetzt, nach dem Schuss, ließ sich das Opfer nicht mehr erkennen. Die 357er Munition richtete beim Austritt in einem Gesicht, großflächigen Schaden an.

Etwas zu hinterlassen oder mitzunehmen war nicht bestellt worden.

Ein Auftrag, den ein Profi wie er mit leichter Hand erledigte. Dabei half ihm die zunehmende Erfahrung. Wenn er daran dachte, wie nervös er bei seinen ersten Einsätzen gearbeitet hatte …

Inzwischen dürfte er zu einem der Besten in Europa geworden sein. Sobald sich das noch etwas weiter herumsprach, konnte der große, finale Auftrag kommen. Derjenige, der ihm einen ruhigen Lebensabend ermöglichen würde.

Danach brauchte er sich nur noch mit Dingen zu beschäftigen, die ihn wirklich interessierten. Die absolute Sorgfalt der letzten Jahre würde sich dann bezahlt machen. Das Leben gestaltete sich so einfach, wenn man zur Elite zählte.

Leise zog er die Tür, die er natürlich zuvor mit dem „Bitte nicht stören“ Schild versehen hatte, von außen zu. Aus reinem Eigennutz. Der Tote brauchte keine Ruhe mehr. Jedoch er, einen kleinen Vorsprung.

Er würde diese Gegend in der näheren Zukunft meiden. Wie immer.

***

Armin Schuppers lief leise fluchend durch den Nieselregen. Irre Hektik heute: Das Wetter, die im Geldautomaten vergessene Karte und der alte Jugendfreund, der ihn einfach überfallen hatte, ohne vorher zu fragen.

Die Karte war weg. Eigentlich völlig klar. Trotzdem hatte Armin sich vergewissern wollen, ob sie nicht doch von einem Gutmenschen irgendwo deutlich sichtbar hingelegt worden war.

Eine neue Karte zu bekommen stellte an sich kein Problem dar. Es sei denn, man lebte so wie Armin unter falscher Identität. Seinen richtigen Namen, Heinrich Lehmann, hatte er schon seit längerer Zeit nicht mehr gehört. Bis heute Nachmittag am Bahnhof.

Ein Finger hatte sich schmerzhaft in seine Brust gebohrt. „Ach du Scheiße, du bist doch der Hein, oder nicht?“

Abstreiten, völlig zwecklos. Sie hatten in der Schule jahrelang nebeneinandergesessen.

Zum Glück lag der Bahnhof nicht in der Stadt, in der Armin lebte. Ein Seminar, das in Freiburg stattfand, hatte ihn hierher verschlagen.

Ein gemeinsamer Saufabend. Dann würden sich ihre Wege wieder trennen. Deshalb der Gang zum Geldautomaten, der für Armin auch etwas Zeit brachte, um sich eine Strategie auszudenken. Das hatte Malte noch verstanden. Aber als Armin zum zweiten Mal aufbrach, reagierte Malte misstrauisch. „Du spielst mir doch was vor“, argwöhnte er.

Armin bestritt das natürlich. Wenig überzeugend vermutlich. Und deshalb war Malte ziemlich angepisst im Hotel zurückgeblieben.

Das Schild an seiner Zimmertür ließ Armin stutzen. Dann erinnerte er sich. Malte liebte solche Späße.

Armin schaffte es nicht mehr bis ins Bad, um sich auszukotzen. Er hatte gedacht, schon einiges gesehen zu haben. Aber das hier, überstieg seine Vorstellungskraft bei weitem.

***

Stunden hatte er gebraucht, um sich zu entscheiden. Abhauen, die Polizei rufen oder die Gelegenheit nutzen?

 

Sein Kontaktmann hatte vor kurzem versucht, ihn zu warnen. „Ich soll mich vorsehen, ob ich nach der Übergabe verfolgt werde. Das machen die nur, wenn sie denken, dass du auch an die Gegenseite lieferst“, hatte er ihm zugeflüstert.

Armin hielt das für berufsbedingten Verfolgungswahn. Er ein Doppelagent? So ein Quatsch!

Maltes Ausweise ließ er verschwinden. Ab jetzt hieß der Tote Armin Schuppers. Zum Glück besaß Armin noch die Notfallidentität, die sie ihm schon zu Anfang gegeben hatten. Sein neuer Name lautete Frank Berger. Von Beruf natürlich auch Ingenieur.

Waldtraut würde er ohnehin nicht weiter helfen können. Möglicherweise hatten die Schweine sie auch schon erledigt. Er versuchte, den Gedanken zu verdrängen.

Ein ganz neues Leben beginnen. Alles, wirklich alles hinter sich lassen. Dass die beim Decknamen F. Berger sorgfältig „legendisiert“ hatten, konnte er voraussetzen. Dass ihre Fantasie nicht soweit reichen würde, dass er den Namen trotz allem, was passiert war, noch benutzen würde, ebenso.

1. Kapitel

Berlin, Mai 1998

Karlheinz Huber, Beamter der BStU, also des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, betrachtete nachdenklich das unvollständig zusammengeklebte Blatt Papier, das vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Es stammte mit Sicherheit aus der Akte eines sogenannten „IM-Vorgangs“. In diesen Vorgängen wurde die Anwerbung und Führung sogenannter IMs, im Volksmund ganz einfach Spitzel genannt, schriftlich festgehalten.

Das Blatt hatte man aus „beschädigtem Schriftgut“ zusammengestellt. Also aus in aller Eile zerrissenen Papieren, die im MfS, dem Ministerium für Staatssicherheit, anlässlich der Wende sichergestellt worden waren.

Eines von vielen Schriftstücken dieser Art. Jedoch der darauf vermerkte Deckname „Travertin“, war früher bereits auf einem Mikrofilm aufgetaucht. Und dieser Film zeigte möglicherweise eine Liste der zu DDR Zeiten im Ausland tätigen Agenten.

Huber hatte sich inzwischen an die seltsam anmutenden Abkürzungen wie RV für Reiseverkehr oder EH für Erich Honecker gewöhnt. Ebenso wie an Umschreibungen wie „Zielstellung“ oder „legendisieren“. Aber die Bezeichnung „Imperialistische Spionage“ fand sich nur selten in solchen Akten und fiel deshalb besonders auf.

Das hatte im DDR-Jargon normalerweise bedeutet, dass jemand als Agent für einen westlichen und damit feindlichen Staat arbeitete.

Eine nicht näher definierte Aktion hatte im „Operationsgebiet“ (abgekürzt „OG“, die im MfS gebräuchliche Bezeichnung für Westdeutschland) stattgefunden. Genauer gesagt in Freiburg im Breisgau. Am 10. Mai 1985. Der Name des Spitzels hatte Armin Schuppers gelautet. Auch seine Fingerabdrücke waren vorhanden. Jedoch weitere Angaben, wie ein Bild oder eine Personenbeschreibung, fehlten.

Hubers Nachforschungen in alten Zeitungen hatten ergeben, dass am 11. Mai 1985 in Freiburg ein offenbar am Vortag erschossener Hotelgast tot aufgefunden worden war.

Grund genug, nach Freiburg zu reisen, um vor Ort Aufklärungsarbeit zu leisten.

***

Kommissar Max Krüger hatte es sich nicht nehmen lassen, den Beamten aus Berlin persönlich in Freiburg zu empfangen und zu betreuen. Sie hatten einige Telefonate geführt, bevor das Treffen stattfand.

Ein Foto des Opfers existierte nicht. Zumindest keines, auf dem sein Gesicht erkennbar gewesen wäre. Den gemeinsamen Anhaltspunkt bildeten die Fingerabdrücke. Huber hatte sie in seinem Aktenfragment gefunden und Krüger in den Unterlagen des ungeklärten Falles.

Während sich Erwin Rohr, der Leiter der Spurensicherung in Freiburg, mit den vom BstU gelieferten Prints ins Labor verzog, blätterte Huber die Akte aus dem Archiv der Freiburger Polizei durch.

Diese Berichte kannte Krüger auch bloß rudimentär. Der Vorfall hatte sich lange vor seiner Zeit in Freiburg ereignet. Darüber, dass eine Untersuchung des Fundortes nach dreizehn Jahren kaum noch neue Erkenntnisse bringen konnte, waren er und Huber sich im Klaren.

Trotzdem wollte Huber versuchen, Personal des Hotels aus dieser Zeit zu finden und zu befragen. Mit etwas Glück arbeitete vielleicht sogar heute noch jemand im Hotel, der die Sache miterlebt hatte. Und der sich an Fakten erinnerte, die damals niemand aufgeschrieben hatte. Zum Beispiel, aus welchem Grund das Opfer Freiburg besucht hatte?

Das Hotelpersonal war natürlich befragt worden. Jedoch der Schwerpunkt der Fragen, hatte eher auf dem Vorgang selbst, gelegen. Woher das Opfer stammte, konnte seinerzeit offenbar überhaupt nicht geklärt werden.

Allerdings, als Erstes sollte Rohr die Übereinstimmung der Fingerabdrücke klarstellen.

Huber hoffte, durch diese Nachforschungen neue Erkenntnisse über die Machenschaften des Ministeriums für Staatssicherheit im Westen zu erhalten. Und die Polizei in Freiburg sollte mit neuem Elan versuchen, den Mörder zu finden.

Rohrs leicht verwirrt wirkender Gesichtsausdruck, als er Krügers Büro betrat, ließ bereits auf Ungewöhnliches schließen. „Tut mir leid, meine Herren! Die Fingerabdrücke sind völlig verschieden“, ließ er die Bombe platzen. Es handelt sich mit Gewissheit um zwei Personen.

Rohr schüttelte auf die in den Raum geworfene Frage Hubers, ob ein Irrtum möglich sei, kaum merklich den Kopf.

Stille.

Rohr räusperte sich. „Womöglich könnten die einen die Prints des Mörders sein“, mutmaßte er. „Wir lassen sie gerade noch einmal durch das AFIS (Automatisches-Fingerabdruck-Identifikations-System) laufen. Obwohl der erste Durchgang nichts gebracht hat“, schwächte er ab.

„Nun ja, ausschließen lässt es zwar kaum“, antwortete Huber nachdenklich. „Aber die Fingerabdrücke eines Liquidators offen in einer solchen Akte. Das kann ich mir nicht vorstellen.“

Krüger horchte auf: „Liquidator? Hat es sowas gegeben?“

„Beweise gibt es dafür keine.“ Huber zuckte mit den Schultern. „Aber solche Tötungen im Ausland haben stattgefunden. Irgendjemand musste die ausführen. Dass das Regime die Killer sozusagen auf dem freien Markt rekrutiert hat, halten wir für unwahrscheinlich. Es ist aber natürlich trotzdem möglich.“

„Also ist der Stand der Erkenntnisse nicht besonders hoch“, brummte Krüger, um es möglichst höflich auszudrücken.

Huber nickte. „Wir sind auch keine Behörde, die aktiv ermittelt. Wir sichten Akten und werten sie aus. Kleine Ausnahmen, so wie heute, bestätigen bloß die Regel!“

Krüger nickte verständnisvoll. „Ich sehe mir das Hotel auf jeden Fall an. Wollen Sie vielleicht mitkommen, damit Ihre Reise nicht ganz umsonst bleibt?“

Huber nickte. „Ja, gerne!“

„Es ist nicht weit. Wir können zu Fuß gehen“, schlug Krüger vor.

Straße und Hausnummer fanden sie ohne Mühe. Allerdings standen sie vor einem Schuhgeschäft. Von einem Hotel keine Spur. Das Gebäude wirkte nicht wie frisch renoviert. Der Umbau musste also schon kurz nach dem Vorfall stattgefunden haben.

„Reinfall auf der ganzen Linie“, konstatierte Huber. „Wenn schon, denn schon. Einfach nur Pech mit diesem Fall. Wenn erstmal der Wurm drin ist …“

„Sieht ganz so aus“, gab ihm Krüger Recht. „Hier ist auf jeden Fall nichts mehr zu holen.“

Huber sah auf seine Uhr. „Ich wollte ja eigentlich bis morgen bleiben. Aber ich sehe gerade, dass ich den Nachmittagszug noch schaffen könnte!“

„Soll ich Sie begleiten?“, fragte Krüger.

„Nein danke! Mein Hotel ist direkt um die Ecke, und den Weg zum Bahnhof habe ich mir gemerkt.“

Huber streckte die Hand aus. „Auf Wiedersehen, Herr Kommissar. Wenn Sie mich auf dem Laufenden halten könnten, wäre ich Ihnen dankbar!“

Krüger versprach es und ließ ihn ziehen. Nachdenklich betrachtete er das Gebäude. Nur Pech? Oder es hatte jemand sehr gründlich die Spuren verwischt, ging ihm durch den Kopf.

Wie auch immer. Außer den Fingerabdrücken aus Berlin hatte er nichts Neues. Die konnten von irgendjemandem stammen. Möglicherweise sogar eine bewusst gelegte, falsche Fährte. Und falls die Person, zu der die Prints gehörten, doch noch auftauchen sollte? Was würde das beweisen? Eigentlich nichts.

Nur ein konkreter Treffer im AFIS, mit entsprechendem Hintergrund, könnte vielleicht eine neue Spur ergeben.

Krüger setzte sich in ein Café, um darüber nachzudenken, wo er sonst ansetzen könnte. Auf jeden Fall rausfinden, wem das Gebäude gehörte. Wann genau wurde es renoviert? Ob sich auch nur der Hauch einer Verbindung zur DDR finden ließ? Immerhin denkbar. Außerdem sollte er die gesamte Akte unter diesem Aspekt gründlich durcharbeiten lassen. Am besten von jemandem, der sie noch nicht kannte. Also beispielsweise von ihm selbst, spann er den Gedanken weiter.

Er konnte den Hefter am Abend nach Hause mitnehmen und ihn seiner Lebenspartnerin Elisabeth zeigen. Sie hatte die ausgezeichnete Gabe, seltsame Vorgänge und Ungereimtheiten leicht zu erkennen. Klar war es verboten, Ermittlungsakten mit Außenstehenden zu besprechen. Aber Krüger hatte sich längst damit abgefunden, dass nicht immer alles perfekt sein konnte.

Und Elisabeth schwieg eisern, das wusste er inzwischen. Zumindest über den Inhalt der Akten nach außen. Ihn selbst in schwierige Diskussionen aufgrund seiner Schlüsse zu verwickeln blieb hingegen etwas, das sie liebte. Dieses Vorgehen hatte ihm schon mehrmals neue Ansätze beschert, auf die er allein kaum gekommen sein dürfte.

Die Besitzverhältnisse der Gebäude, die das ehemalige Hotel umfasst hatte, konnte Grünwald abklären. Der mochte solche Aufgaben.

Ob der damals schon bei der Truppe in Freiburg gearbeitet hatte? Vermutlich kaum. Und Sieber erst recht nicht. Der war noch ein Jahr jünger. Außerdem müsste ihm ein von den beiden verfasster Bericht in der Akte sofort aufgefallen sein. Und Michélle? Die zählte keine dreißig Jahre. Also ganz klar nicht. Blieb noch Polizeirat Vogel, der Chef der Freiburger Kripo. Den würde er fragen müssen.

Wie es bei Erwin Rohr aussah, konnte Krüger sich denken. Der hätte ihn bestimmt darauf hingewiesen, wenn er den Tatort damals selbst untersucht hätte.

Und Doktor Holoch, der Pathologe? Über ihn wusste Krüger kaum etwas. Aber in der Akte wurde natürlich auch vermerkt, wer damals den Bericht der Rechtsmedizin verfasst hatte. Das konnte Krüger einfach nachsehen. Allerdings musste er unbedingt vermeiden, dass sein Chef davon erfuhr, dass Krüger ab und zu, Akten nach Hause mitschleppte.

Wenngleich er sich kaum vorstellen konnte, dass Vogel, der bei den Besprechungen stets die Verschwiegenheit aller Beteiligten als wichtiges Kriterium betonte, noch niemals mit seiner Frau über einen Fall gesprochen hatte.

2. Kapitel

Frank schrak hoch. Hatte er geschlafen, während die Blondine, die er gestern Abend auf seine Bude mitgeschleppt hatte, verschwand? Der Zettel auf dem Nachttisch mit einem Namen und einer Telefonnummer ließ ihn beruhigt zurücksinken. An seine Wertsachen kam ohnehin niemand so leicht heran. Das Bett stand auf dem Brett, unter dem das Geheimfach lag.

Trotzdem, unvorsichtig blieb es in seiner Situation. Alles, was er besaß, trug er mit sich oder es lag in diversen, mehr oder weniger, sicheren Verstecken.

Das möblierte Zimmer, das er seit immerhin drei Monaten, für seine Verhältnisse eine lange Zeit, bewohnte, vermietete ein zwielichtiger Typ. Der weder Wert auf Zahlungsbelege noch auf Anmeldung bei den Behörden legte. Bar und im Voraus blieb das Einzige, das zählte.

Eine Doku über Schatzgräber hatte ihn in die Gegend gelockt. Frank besaß zwar keinen Fernseher, jedoch stand in den meisten dieser Buden einer herum. Schatzsuche war illegal, klar, aber das war Frank schließlich selbst auch. Schon nur deshalb passte es zu ihm.

Nicht, dass er freiwillig so lebte. Er hatte studiert und danach als begabter Ingenieur in der Industrie gearbeitet. Knapp fünfundzwanzig, ungebunden, neugierig und vielseitig interessiert. Damals hatte ihm die ganze Welt offen gestanden. Bis es passierte: Sie hatte ihn von der ersten Sekunde an fasziniert. Hätte sie von ihm verlangt, von einem Dach zu springen, vermutlich hätte er es getan. Aber das war es nicht, was sie sich von ihm gewünscht hatte. Sie befand sich auf Auslandsreise. Im Westen.

Solche Reisen hatte man damals nur selten und nur vertrauenswürdigen Parteimitgliedern gewährt. Um sie wiederzusehen, hatte er ihr also einen guten Grund liefern müssen, damit man sie erneut ausreisen ließ. Zum Beispiel die Beschaffung von Informationen über Verfahren oder Anlagen, die sie nur durch direkten Kontakt erhalten konnte. Dass sie bei ihrer ersten West-Reise ausgerechnet auf einen jungen Ingenieur gestoßen war. Welch ein grandioser Glücksfall …

 

Frank, der damals allerdings noch Heinrich Lehmann geheißen hatte, interessierte das alles nicht wirklich. Wenn sie bloß wieder in seinen Armen liegen würde. Die paar Pläne, die er ihr bis dahin besorgt hatte, waren ohnehin längst zu Allgemeinwissen geworden. Wie hätten die irgendeinen Schaden anrichten können?

Das Wiedersehen hatte stattgefunden. Es ließ Frank in einen Liebestaumel versinken, wie er ihm niemals wieder erleben sollte.

Die Zeichnung, die er als Gegenleistung für diesen Traum beschafft hatte, sah doch bereits etwas moderner aus. Immer noch keine Sensation, aber immerhin. Seinen Job hätte es ihn bestimmt gekostet, wenn das bekannt geworden wäre. Und ob er jemals wieder eine Arbeit in einer Firma, die sich mit Forschung und Entwicklung beschäftigte, bekommen könnte? Vermutlich nicht.

Nach ein paar Tagen hatte er Besuch von einigen Herren in seltsam unmodischen Anzügen erhalten, die ihn anwerben wollten. Er hatte sie ausgelacht und als Witzfiguren bezeichnet. Die sich dazu noch einbildeten, irgendeine Rolle in der Welt zu spielen.

Ein Fehler, den er bitter büßen musste. Wieder einige Tage später hatte ihm jemand eine Pistole in den Rücken gedrückt, als er am Abend seine Bude aufschließen wollte. Von den zurückgekehrten Witzfiguren wurde er unsanft in die Wohnung geschoben.

Nachdem sie ihm die Bilder der brutal zusammengeschlagenen Waldtraut gezeigt hatten, war er auf alles eingegangen, was sie verlangten. Er hatte auch nicht mehr an ihrer Drohung gezweifelt, dass sie ihm sogar einen Finger von ihr schicken würden, wenn er nicht spurte.

Ab und zu hatte er einen Brief von ihr erhalten. Sie hatte von Verbesserungen ihrer Situation berichtet oder ihn gebeten, sich mehr anzustrengen, weil sie jeden Unmut des MfS auszubaden hatte.

Deshalb hatte er brav abgeliefert, was er kriegen konnte. Bis die Sache mit Malte passierte. Dass der Killer eigentlich ihn erledigen wollte, lag außerhalb jedes Zweifels. Sein Kontaktmann hatte ihn zu warnen versucht. Frank hatte es jedoch nicht ernstgenommen. Bloß weil Malte an diesem Tag unerwartet aufgetaucht war, ließ sich die Sache so hinbiegen, als ob sie tatsächlich ihn erwischt hätten.

Frank hatte niemals auch nur daran gedacht, irgendwelche Dinge über die DDR zu erfahren und sie im Westen einem Geheimdienst anzubieten. Wie auch? Er reiste nie in den Osten und hatte keinerlei direkten Kontakt zu Waldtraut oder zu anderen Ostbürgern. Bloß mit dem Kontaktmann hatte er sich im Lauf der Zeit einigermaßen angefreundet. Trotzdem verdankte Frank es nur reinem Zufall, dass er überlebt hatte. Und, dass das offenbar keiner der Witzfiguren aufgefallen war.

***

Für diesen Abend hatte Frank ein weiteres Treffen mit dem örtlichen Denkmalpfleger und einem interessierten Käufer. In der Nähe einer Fundstelle.

Der Denkmalheini hatte seine Laufbahn ausschließlich deshalb eingeschlagen, weil er im Laufe der Zeit von den Schätze die im Boden lagerten und niemandem gehörten, einen Teil für sich abzweigen wollte.

Der Denkmalpfleger glaubte, Frank in der Hand zu haben, weil er ihn beim Ausgraben von einigen Münzen erwischt hatte. Aber Frank hatte schnell gespürt, dass da noch etwas Anderes dahintersteckte. Die Gier, mit der der Mann die Münzen betrachtet hatte, ließ sich zu deutlich erkennen.

Nach kurzem Geplänkel hatten sie sich darauf geeinigt, das Frank weitersuchen durfte, wenn er bereit sei, den Erlös der Funde zu teilen.

Frank, als Fremder, konnte bei Tag suchen und sich notfalls als genauso harm- wie erfolgloser Hobby-Schatzsucher-Tourist ausgeben. Da der große Schatz bisher ausgeblieb, hielt sich Frank an diese Abmachung. Schließlich verwandelte der Denkmalpfleger inzwischen Franks Funde direkt in Bargeld.

Heute sollte eine, wie Frank vermutete, Gürtelschnalle an den Mann gebracht werden. Der Denkmalpfleger hatte etwas von einer Fibel geschwafelt, aber Frank wusste, dass er sich gerne mit Fachausdrücken wichtigmachte. Trotzdem schien dieses Stück etwas Besonderes darzustellen. Die Ehrfurcht des Beamten ließ sich förmlich spüren. Auf jeden Fall würde Frank genau darauf achten, ob ihn der Kerl über den Tisch ziehen wollte oder nicht.

Auch der Kunde betrachtete das Stück mit großer Begeisterung. „Kaum zu glauben! Eine keltische Gewandfibel!“, rief er aus.

Der Denkmalpfleger zuckte zusammen. „Nicht so laut“, versuchte er zu dämpfen.

Der Kunde sah sich um. „Ist doch keiner in der Nähe“, stellte er trocken fest.

Es war noch hell. Und der kleine Rastplatz an der Landstraße, der als Treffpunkt diente, wirkte tatsächlich menschenleer. Dass sich jemand im Gebüsch versteckte, blieb kaum zu erwarten.

Jedoch für Frank und den Denkmalheini, beide gewohnt, vorsichtig zu sein, trotzdem kein Grund, es auszuschließen. Wer sich länger in der Illegalität bewegte, entwickelte mit der Zeit entweder einen Instinkt für Gefahren oder er hielt sich nicht sehr lange.

Der Kunde schien von solchen Dingen weit entfernt. „Was soll sie denn kosten, Herr Meyer?“, wollte er wissen.

„Machen Sie einen Vorschlag“, brummte der als Meyer angesprochene Denkmalpfleger. „Diese Fibel ist eigentlich unbezahlbar und gehört ins Museum, das wissen Sie selbst!“

Der Kunde nickte. „Zehntausend?“, ließ er hören.

Frank, angenehm überrascht, entfuhr ein deutliches „Oh!“, was ihm erstaunte Seitenblicke, der anderen beiden eintrug.

„Ein Museum zahlt deutlich mehr“, brummte Meyer. „Und außerdem ist es dann legal.“

Der Kunde lachte glucksend. „Jedoch nur, wenn bisher kein Museum über den Fund Bescheid weiß, können Sie das Stück einfach so verkaufen. Das ist mir auch klar. Oder wofür halten Sie mich?“

Meyer zuckte mit den Schultern. „Wir könnten es zurücklegen und dann ganz offiziell ausgraben.“

„Okay, ich will mich ja nicht mit Ihnen streiten“, gab der Kunde nach. „Außerdem bin ich stets an weiteren Funden interessiert. Also, fünfzehn! Das ist die Grenze. Mehr geht nicht!“

Meyer nickte. „Einverstanden!“

Der Kunde zählte das Geld ab und Meyer nahm die Scheine ohne sichtbare Regung in Empfang.

„Sie wissen ja, wie Sie mich erreichen können“, fügte der Kunde, bereits am Einsteigen, an.

Meyer hob die Hand und nickte zustimmend. „Klar! Ich melde mich.“

„Du siehst“, wandte sich der Denkmalheini an Frank. „Ich bin ehrlich zu dir, sonst wärst du nicht hier. Wir teilen brüderlich. Halbe-halbe, keine Alleingänge. Ich zeige dir, wo es sich zu suchen lohnt, du gräbst und lieferst!“

Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, hielt er ihm die Hälfte des Geldes unter die Nase.

Frank zupfte ihm die Scheine mit einer ausholenden Bewegung aus der Hand. „Stets Ihr braver Diener, Herr Meyer“, fügte er lächelnd an.

„So solltest du mich in Zukunft auch nennen!“, brummte dieser. „Und halt bitte die Klappe, wenn wir verkaufen. Ich sage dann …“ Er überlegte kurz. „Heiner zu dir. Unsere richtigen Namen braucht keiner zu wissen.“

Frank zuckte leicht zusammen. Er hielt den Denkmalpfleger für einen Trottel. Aber irrte er sich? Wollte der ihm zeigen, dass er mehr wusste? Oder nur ein blöder Zufall, dass er ihn ausgerechnet Heinrich nennen wollte? Seinen Taufnamen, den er seit Jahren geheim hielt?

***

Der nächste Tag, mild und sonnig, wie es sich für Anfang Juni gehörte, begann für Frank mit der Suche in einem idyllischen Tälchen, das ein munterer Waldbach in den Berg gegraben hatte. Das Tal stieg nur ganz sanft an und verlief mit kleinen Abweichungen immer nach Westen. Selbstverständlich stammte der Hinweis auf die Örtlichkeit vom Denkmalpfleger. Der vermutete, dass dieser Geländeeinschnitt in alten Zeiten als Weg gedient haben könnte. Das würde bedeuten, dass er zum Beispiel auch von Römern, die hier rund 500 Jahre lang geherrscht hatten, regelmäßig begangen wurde. Im Verlauf eines halben Jahrtausends geht so einiges verloren auf langen Märschen. Und nicht zu vergessen, dass bei vermuteter Gefahr, Reisende oft ihre Wertsachen kurzerhand an Ort und Stelle vergraben hatten, um sie vor Dieben zu schützen. Dass sie diese nicht immer zurückholen konnten, blieb immerhin zu vermuten.

Da der Bach bei jedem Unwetter für Veränderung sorgte, hatten die Ufer wenig Bestand. Wohl deshalb standen direkt am Wasser keine großen, alten Bäume.

Frank rief sich in Erinnerung, was ihm der Denkmalpfleger dazu erklärt hatte. „Auch wenn es heute kaum noch vorstellbar ist: Früher“, so hatte er doziert, „früher galt der Wald als der natürliche Feind des Bauern. Der sich das ihm mühsam abgetrotzte Ackerland immer wieder zurückzuholen versuchte. Jedoch nicht nur für die Bauern stellte der allgegenwärtige Urwald ein gewaltiges Hindernis dar. Sondern auch für Reisende, Truppen oder Händler.

Versuche, die Landschaft zu lesen! Stell dir vor, wie es damals ausgesehen haben könnte. Wo würde man sich ansiedeln? Zum Beispiel an Stellen, die über Wasser und Sonne verfügen. Aber nicht direkt an viel begangenen Wegen, wo man jederzeit damit rechnen musste, überfallen zu werden, in diesen unsicheren Zeiten.

Außer, man konnte sich durch Mauern und Befestigungen schützen. Für deren Bau und Verteidigung man allerdings eine gewisse Mindestanzahl an Menschen benötigte. Die dann auch entsprechend ein Stück Land in der Nähe zur Selbstversorgung finden mussten. Von Dienstleistungen konnte damals nur ein sehr geringer Teil der Leute leben. Solche Stellen findet man häufiger bei Übergängen an Flüssen oder an ähnlichen, durch natürliche Hindernisse begrenzten Arealen.

Selten, aber äußerst gefragt dürften freiliegende, senkrechte Felsen gewesen sein. In die man sich in Spalten oder Grotten zurückziehen und gut verteidigen konnte.