Anna und Jadwiga

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From the series: Krügers Fälle #9
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Anna und Jadwiga
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T. D. Amrein

Anna und Jadwiga

Mädchenmörderjagd

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

Epilog

Impressum neobooks

1. Kapitel

Quadratzentimeter für Quadratzentimeter suchte Kommissar Krüger die Gegend ab, die hauptsächlich aus Wald bestand. Eine lang gezogene Ortschaft lag im Zentrum des Suchgebiets. Ab und zu wurde das Meer der seltsam genau geformten Baumkronen durch scharf begrenzte Wiesen und einige wenige Äcker unterbrochen. Der Ort hieß Schramberg, das hatte jemand in Handschrift am unteren Rand des tischgroßen Luftbildes notiert. Der einzige weitere Hinweis, ein mitten im Wald sauber gezogener Kreis, trug den Vermerk: Fundort.

Hier hatte der Hund eines Wanderers einst einen halbverwesten Torso aufgespürt. 1987, vor fünfzehn Jahren. Die Aufnahme stammte jedoch aus dem September 2002. Angefertigt auf ausdrücklichen Wunsch Krügers, der sich damit im wahrsten Sinne des Wortes erst mal einen Überblick verschaffen wollte.

Den Torso hatte man damals der seit einigen Monaten vermissten Anna Duda zuordnen können. Ein polnischstämmiges Kindermädchen, gerade 19 Jahre alt geworden, das in Diensten einer vermögenden Familie in Schramberg stand. Sie stammte aus der Nähe von Krakau, aus der unmittelbaren Umgebung von Oswiecim. Am Fundort konnte damals außer Annas Überresten nur ein einziger interessanter Gegenstand sichergestellt werden. Ein einzelner Latexhandschuh. Aus seinem Innern stammte die DNA-Spur, die kürzlich zu einem weiteren Treffer geführt hatte. In einem als gestohlen gemeldeten Wagen, der in Konstanz beschlagnahmt worden war, wurde an einer Herrenuhr, die unter dem Fahrersitz gelegen hatte, eine identische Gensequenz festgestellt.

Wer die Spuren hinterlassen hatte, blieb bislang völlig im Dunkeln. Die Sicherstellung an sich lag bereits mehrere Monate zurück. Die Auswertung der im Fahrzeug gefundenen Spuren hatte im Rahmen von Routineuntersuchungen erst mit der üblichen Verspätung stattgefunden. Trotzdem entschloss man sich im BKA, aufgrund der neuen Erkenntnisse, einen Sonderermittler einzusetzen. In Person des erfahrenen Hauptkommissars Max Krüger, der bisher in der Dienststelle Freiburg im Breisgau Dienst geleistet hatte. Sein erster Fall in dieser Funktion. Da Schramberg bloß 40 Kilometer entfernt liegt, konnte Krüger direkt aus seinem Büro in Freiburg agieren.

Die wenigen Schriftstücke, die zum Sachverhalt existierten, hatte der Kommissar rasch ein erstes Mal grob durchgearbeitet. Außer der Identität und der Herkunft des Opfers lag das meiste in Dunkeln. Die Ausnahme: Anna hatte eine gleichaltrige Kollegin gehabt, die damals ebenfalls in Schramberg angestellt gewesen war. Zwar in einer anderen Familie, aber die beiden hatten sich gekannt. Man hatte Jadwiga Grabowska natürlich befragt, sogar mehrfach. Ohne zu relevanten Erkenntnissen zur Tat zu gelangen. Bis sie schließlich ein halbes Jahr später spurlos verschwand. Erst nahm man an, dass sie einfach den Ort oder die Familie gewechselt hatte. Aber Jadwiga tauchte nie mehr auf. Weder tot noch lebendig.

***

Krüger erwartete an diesem Tag seine neue Assistentin, die ihm von Wiesbaden für diesen Fall zur Verfügung gestellt wurde. Die Dame hieß Nadja Smolenska, eine Deutsche mit polnischen Wurzeln. Sie solle beide Sprachen absolut perfekt beherrschen, das war die Hauptqualifikation, hatte Krüger schon gehört. Als ehemalige Kommissarin verfüge sie außerdem über Erfahrung bei der deutschen Kripo. Allerdings habe sie in den letzten Jahren nicht mehr bei der Behörde gearbeitet, sodass man ihr wohl eine gewisse Eingewöhnungszeit zugestehen müsse. Klang fast perfekt. Bloß die verklausulierte Beschreibung weckte einen kleinen Argwohn in Krüger. Wenn sie eine normale Wiedereinsteigerin war, dann konnte man das ganz einfach so nennen, fand er. Sonst entstand leicht der Eindruck, dass mit der Kollegin etwas nicht stimmte.

Sprachliche Feinheiten dieser Art waren ihm früher kaum aufgefallen. Erst seit er mit seiner neuen Partnerin, Elisabeth Graßel, zusammenlebte, hatte sich das verändert. Eine Frau mit messerscharfem Verstand und gnadenlosem Durchblick durch windige Fassaden. Sie hatte ihm nicht bloß öfters mit unerwarteten Ideen ausgeholfen. Sondern auch seine Wahrnehmung für ungewöhnliches Verhalten oder versteckte Andeutungen enorm geschärft.

Selbstverständlich wusste sie Bescheid über seinen Tag und würde ihn heute Abend mit Fragen bezüglich "der Neuen" ziemlich hart bedrängen. Deshalb konnte er froh sein, dass er zwischenzeitlich über die Formulierungen eines vermutlich männlichen Kollegen lästern konnte, anstatt selbst eine möglichst neutrale Beschreibung einer attraktiven Dame abzuliefern.

Schon an sich ein ziemlich hoffnungsloses Unterfangen.

Ob Frau Smolenska diese Bezeichnung verdiente, wusste er zwar noch nicht, hoffte es jedoch sehr. Interessante, selbstbewusste Frauen inspirierten ihn. Es ging dabei nicht bloß um markante, weibliche Formen oder gutes Aussehen. Er wünschte sich eine echte Partnerin mit eigener Meinung, keine devote Untergebene. Obwohl es, ebenfalls eine Erfahrung von zu Hause, manchmal ziemlich anstrengend werden konnte. Wenn man sich, anstatt einfach zu befehlen, in echt einigen musste. Trotzdem überwogen die Vorteile. Eine Kollegin mit starker Ausstrahlung hielt beispielsweise die meistens männlichen Kunden Krügers in Unruhe. So dass sich manch einer mangels Konzentration in Widersprüche verwickelte, wenn er versuchte, ihr einen Bären aufzubinden. Andererseits im Umkehrschluss, was geschah bei einem Zeugen, bei dem diese Wirkung keineswegs erwünscht war? Stellte dies nicht das ganze Prinzip in Frage?

Über solche Ansichten hatte er mit Elisabeth noch nie diskutiert. Was die wohl dazu sagen würde? So ein Blödsinn! Es macht dir einfach viel mehr Spaß, mit einer attraktiven Frau zu arbeiten. Aber das würdest du niemals zugeben! Krüger zuckte mit den Schultern. „Wo sie recht hat, hat sie recht“, murmelte er.

***

Die Dame vom Empfang brachte die Besucherin zu Krüger.

„Guten Tag, Herr Hauptkommissar!“, begann sie. „Ich bin Nadja. Nadja Smolenska. Man hat mich Ihnen zugeteilt.“

Krüger ergriff ihre ausgestreckte Hand. „Herzlich willkommen, Frau Smolenska!“ Er versuchte, sie nicht zu taxieren. Jedoch gelang es nicht vollkommen. Ihre leuchtend weißen Zähne und das unglaublich dichte, kupferfarbene Haar fielen einfach auf. Dazu trug sie eine hellblaue Bluse und eine dunkelblaue Hose. Aus den vorne offenen Schuhen leuchteten ihre Fußnägel in exakt demselben Blau wie das Oberteil. Für eine Frau hatte sie einen festen Händedruck, empfand Krüger.

„Nehmen Sie doch bitte Platz, Frau Smolenska!“, forderte er sie auf.

„Danke, Herr Hauptkommissar!“

„Darf ich Ihnen etwas anbieten?“

Sie schien amüsiert. „Ich bin Ihre persönliche Assistentin, Herr Hauptkommissar. Ich bin gekommen, um Sie zu unterstützen, nicht um mich verwöhnen zu lassen“, stellte sie lächelnd fest. „Aber trotzdem: Danke, nein.“

„Ist schwierig für mich“, versuchte Krüger zu erklären. „Ich fühle mich nicht wohl, wenn der Eindruck entsteht, dass ich jemanden als Bediensteten behandle. Also wenn Sie denken, Frau Smolenska, dass ich zu viel von Ihnen verlange, dann wehren Sie sich bitte!“

 

Sie zuckte mit den Schultern und strahlte ihn an.

„Nun ja, ich werde Sie bestimmt nicht bitten Kaffee zu holen oder mir eine Zeitung zu besorgen“, fuhr er fort. „Aber es kann natürlich vorkommen, dass ich in Gedanken …“

„Weshalb sollte ich denn nicht Kaffee für Sie holen, Herr Hauptkommissar?“, fragte sie erstaunt. „Ich unterstütze Sie in allen Belangen. Gerade wenn wir unterwegs sind, sorge ich für Hotel und Essen. Für ein Büro, für saubere Wäsche und Kosmetikartikel, falls notwendig. Und selbstverständlich fahre ich den Dienstwagen, wenn Sie es möchten.“

Krüger schien ratlos. „Ja dann. Ich denke, wir werden sehen. Einen Wunsch hätte ich dann doch?“

Sie richtete ihre rehbraunen Augen auf ihn wie eine doppelläufige Flinte. „Ja bitte, Herr Hauptkommissar?“

„Könnten Sie mich einfach nur Chef nennen?“

„Aber selbstverständlich, Herr, äh, Chef.“

„Wenn Sie etwas anderes bevorzugen, dann …“

Sie seufzte vernehmlich. „Ist schon okay, Chef.“

„Danke, Frau Smolenska!“

„Bitte! Möchten Sie gleich über den Fall sprechen oder soll ich erst nachsehen, ob Sie wirklich alle Unterlagen erhalten haben? Daran hapert es oft bei der Abteilung, habe ich gehört?“

„Viel ist es wirklich nicht“, bestätigte Krüger. „Mit Ausnahme der Luftbilder, die ich selbst bestellt habe, bleiben nur diese beiden Hefter.“ Er griff nach den dünnen Umschlägen und reichte sie ihr.

„Der Bericht der polnischen Kollegen fehlt“, stellte sie fest.

„Mit denen könnte ich wahrscheinlich ohnehin nicht viel anfangen“, vermutete Krüger.

„Doch“, wehrte sie ab. „Ich habe die ganze letzte Woche damit verbracht, die Texte ins Deutsche zu übersetzen. Ich kümmere mich darum, sobald ich kann!“

„Dann sind Sie schon länger an der Sache?“, stellte Krüger fest.

„Einen Monat etwa. Ich habe jedoch ausschließlich Fakten zusammengetragen und soweit notwendig übersetzt. Alle Informationen stammen aus einem Archiv oder aus öffentlichen Quellen. Ich habe weder irgendwelche Fundorte besucht noch Leute befragt. Alles ganz still und unauffällig, um nirgendwo Argwohn zu wecken.“

„Was stelle ich mir unter öffentlichen Quellen vor?“, hakte Krüger nach.

„In erster Linie Zeitungsarchive und Rundfunksendungen, die damals erschienen sind. Natürlich in Bild und Ton“, ergänzte sie.

„Damals? Dann betrifft dies den alten Fall in Schramberg. Heben Sie sich auch mit Konstanz beschäftigt?“

„Nur am Rande. Das ist schließlich aktuell. Da können wir auf die Berichte der Kollegen vor Ort zurückgreifen.“

***

Elisabeth erwartete Krüger tatsächlich in der Küche mit betörend duftendem Gebäck. Eine Art österreichische Maultaschen, die Krüger sehr gerne mochte. Auf dem Tisch stand ebenfalls eine Flasche Wein mit zwei Gläsern, die jedoch noch verschlossen war. „Wenn du magst, dann öffne sie bitte. Sonst mache ich Kaffee.“

Krüger wusste nie, ob sie solche Situationen mit Absicht plante, oder ob sie einfach Lust dazu hatte, nett zu sein. Auch das kam gelegentlich vor.

„Wein ist gerade richtig“, murmelte er. „Passt herrlich zu deinen wunderbaren Krapfen!“

Sie hantierte herum, bis er die Gläser gefüllt hatte und sie zum Anstoßen rief. Irgendwie schien sie doch ein wenig nervös. „Prost, mein Schatz. Und danke fürs Backen!“

„Ja, Prost“, gab sie zurück. „Und, wie lange willst du mich noch auf die Folter spannen? Oder ist sie gleich wieder gegangen?“

Sie ist nicht nur nervös, sondern auch kampflustig, dachte Krüger mit leisem Spott. Aber er hatte schmerzhaft gelernt, dies nicht zu unterschätzen. Zwar lag der letzte derbe Rippenstoß ziemlich lange zurück, aber eine unvorsichtige Bemerkung konnte genügen. „Nein, sie ist geblieben. Ist eigentlich ganz nett!“, erwähnte er so beiläufig wie möglich.

„Eigentlich ganz nett!“, wiederholte sie. „Du willst mich wohl ärgern. Oder haben sie dir tatsächlich so eine Pflaume geschickt, wie du befürchtet hast?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein.“

„Wie, nein? Los komm schon! Wie sieht sie aus? Ist sie jung? Gefällt sie dir?“

Er nickte. „Ja.“

„Also bitte!“

Er grinste. „Ja, selbstverständlich erfährst du alles, was ich weiß. Aber zuerst musst du mir eine Frage beantworten?“

„Okay!“

„Bist du eifersüchtig?“

„Nein. Wirklich nicht. Aber ich bin jetzt über fünfzig. Ich merke selbst, dass ich nicht mehr so attraktiv bin wie früher. Also fürchte ich manchmal, dass du eventuell irgendwann einer Jüngeren den Vorzug geben könntest. Wir sind schließlich nicht mal verheiratet.“

„Aber nein, wo denkst du hin! Komm her!“

Sie kuschelte sich an ihn. „Du brauchst nichts zu versprechen. Ich würde es sogar verstehen.“

„Ich glaube nicht, dass ich einfach so loskommen würde. Selbst wenn ich es wollte. Außerdem ist sie wohl nur für diesen einen Fall meine persönliche Assistentin.“

Sie hob den Kopf. „Ach, wirklich?“

„Ich habe sogar heimlich ihren Ausweis kopiert, extra für dich!“

„Zeig schon her!“

„Die ist genau dein Typ“, stellte sie fest.

„Na ja, was soll ich sagen. Du bist mein Typ. Aber das spielt keine Rolle. Sie ist attraktiv. Sehr sogar. Das kann man nicht bestreiten. Wozu auch?“

„Und wie findest du sie sonst? Hältst du sie für intelligent? So super kann sie ja nicht sein, sonst hätte sie eine bessere Stellung inne. Oder hat sie vielleicht eine Macke?“ Elisabeths Gesicht hellte sich auf. „Natürlich stimmt etwas nicht mit der. Arbeitet als persönliche Assistentin. Wenn sie früher schon einmal Kommissarin war?“

Krüger zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es wirklich nicht, mein Schatz. Aber du hast wahrscheinlich recht. So wie meistens. Trotzdem, ich werde ihre Personalakte nicht lesen.“

„Deshalb mag ich dich.“

„Na ja, ich bin schließlich auch sonst ganz liebenswert.“

„Aber selbstverständlich! Trotzdem meine ich das ernst. Du würdest auch eine zugelaufene Katze liebevoll aufnehmen, das weiß ich. Du hättest nicht einmal das Bedürfnis, Fragen zu stellen. Bei dir kann jeder ganz neu anfangen. Dazu müsste ich mich zwingen.“

„Ein Kompliment von dir. Ich staune.“

„Heute hast du das verdient. Aber denk jetzt nicht, dass du damit für alle Zeit ausgesorgt hast.“

„Würde mir nicht einmal im Traum einfallen.“

2. Kapitel

Krüger hatte sich nach reiflicher Überlegung dazu entschlossen, die Besichtigung des Fundortes so diskret wie möglich anzugehen. Er und Nadja in Begleitung des einzigen Beamten, Oswald Pickel, der den Fall miterlebt hatte und heute noch im Dienst stand. Inzwischen jedoch bei der Stadt Schramberg. Sein damaliger Posten in Tennenbronn existierte nicht mehr. Während der Fahrt mit einem zivilen Geländewagen der Forstverwaltung durch schmale Waldwege achtete Krüger darauf, ob die Strecke auch mit einem normalen PKW zu schaffen wäre. Bei trockenem Wetter schien es möglich gewesen zu sein, obwohl der Weg nur gekiest war und meistens anstieg. Dass jemand eine Gefesselte oder sogar eine Tote ohne Fahrzeug an den Fundort verbracht hatte, erschien höchst unwahrscheinlich. Allerdings hatte Krüger auch schon einen solchen "Transport" mit einem verschließbaren Handwagen erlebt. Und nicht zuletzt anhand der Luftaufnahme schien die Zufahrt zum Fundort ebenfalls vom Berg ins Tal möglich. Auf den Berg gelangte man auf einer ganz normalen, asphaltierten Straße. Die richtige Abzweigung nicht zu verpassen, setzte jedoch genauste Ortskenntnisse voraus. „Würden Sie den Ort auch von oben nach unten fahrend finden, Herr Pickel?“, fragte Krüger deshalb.

Der schüttelte den Kopf. „Als der Fall ganz frisch war, sind wir einmal die verschiedenen Forstwege weg vom Fundort einzeln abgegangen und haben tatsächlich mehrere Möglichkeiten festgestellt. Jedoch, dass ich heute eine dieser anderen Strecken auf Anhieb finden könnte, das halte ich für praktisch ausgeschlossen!“

„Gehen Sie davon aus, Chef, dass die Tote bewusst genau an dieser Stelle abgelegt wurde?“, meldete sich Nadja.

„Da möchte ich mich nicht festlegen. Der Kreis der Personen, die sich hier wirklich auskennen, kann nicht besonders groß sein. Absolut möglich, dass jemand einfach auf gut Glück in den Wald gefahren ist, um die Tote loszuwerden.“

„Mit dem unkalkulierbaren Risiko gesehen zu werden oder stecken zu bleiben?“, warf Nadja ein.

„Eventuell jemand, der im Wald nicht besonders auffällt wie ein Jäger oder Förster“, gab Krüger zurück.

„Das gilt dann natürlich auch für ganz normale Waldarbeiter“, spann Pickel den Gedanken weiter.

„Wenn wir so weit gehen: Es ist an sich nicht schwierig, sich als eine solche Person auszugeben. Eine farbige Jacke, ein grüner Geländewagen, vielleicht noch eine Motorsäge und fertig ist der unverwechselbare Holzfäller.“ Nadja auf dem Beifahrersitz deutete mit den Händen eine üppig geformte Person an.

Krüger nickte. „Guter Einfall, Frau Smolenska!“ Er hatte allein auf dem Rücksitz Platz genommen. Neben sich die ausgebreitete Luftaufnahme, auf der er den bereits zurückgelegten Weg mit einem Bleistift laufend markierte.

„Mit Axt und wallendem Bart!“, ergänzte Pickel schmunzelnd. Selbstverständlich warf er ab und zu einen Seitenblick auf Nadja, die seine Aufmerksamkeit zumindest nicht zu stören schien.

„Ich habe ein Bild ohne Bart im Kopf“, behauptete sie keck. „Aber eine Wollmütze oder einen Schutzhelm, das könnte ich mir vorstellen.“

Krüger stutzte zwar kurz, ließ sich jedoch nicht auf den Disput der beiden ein. Seinen wichtigsten Ansatz, sich nicht gleich auf eine erste Idee festzulegen, hielt er stets eisern durch bei solchen Abklärungen.

***

Pickel hatte den Wagen mitten auf dem Weg stehen gelassen. Etwa hundert Meter vor der Stelle, wie von Krüger bestimmt. Jetzt bewegten sie sich zu Fuß, aufmerksam beobachtend wie üblich, wenn man sich einem Fundort näherte. Obwohl das Ereignis schon fünfzehn Jahre zurücklag. Gewohnheit, aber nicht nur. Krüger blieb stehen. „Wie wurde die Umgebung damals abgesucht, Herr Kollege?“

„Na ja, wir sind einfach herumgegangen. Für eine klassische Suchkette waren wir ohnehin zu wenige.“ Pickel schien nachzudenken. „An einen Hund erinnere ich mich. Aber ob und worauf er abgerichtet gewesen war? Keine Ahnung. Ich stand damals erst kurz im Dienst und wurde weder gefragt noch informiert über die Vorgehensweise.“

„Metallsuchgeräte?“, schob Krüger nach.

„Das hatten wir damals auf keinen Fall in der Ausrüstung!“ Pickel schien amüsiert. „Daran würde ich mich erinnern.“

„Na ja, die Truppe nicht. Aber die Spurensicherung?“ Krüger wirkte leicht genervt.

„Spuren wurden ausschließlich durch uns gesammelt. Ein Doktor war ebenfalls nicht nötig bei einer halbverwesten Leiche. Für Fotos sorgte einer von denen, die eine Kamera bedienen konnten.“ Pickel zuckte mit den Schultern.

„Das heißt, eine echte Spurensicherung hat damals gar nicht stattgefunden?“, stellte Krüger zögernd fest.

„Könnte man sagen.“

„Die Tote war laut Bericht unbekleidet. Erinnern Sie sich, ob trotzdem irgendwelche Textilreste gefunden wurden? Vielleicht unterhalb des Torsos oder in der Nähe, im Unterholz beispielsweise?“

„Da war gar nichts. Daran erinnere ich mich ziemlich genau, weil darüber noch lange gesprochen wurde. Und es war ja wohl der Hauptgrund, dass man gleich von einem Verbrechen ausging. Wer würde sich völlig nackt selbst umbringen?“

Krüger zog es vor, dies nicht zu vertiefen. „Wie wurde die Leiche abtransportiert?“

„Wenn ich mich recht entsinne, hat man den örtlichen Totengräber gerufen. Abgeladen hat er das Skelett allerdings bei der Gerichtsmedizin in Freiburg. Das steht ja auch so in der Akte.“

„Von einem Totengräber habe ich in der Akte nichts gelesen“, insistierte Krüger.

„Ja, möglich. Aber das mit Freiburg steht drin!“, beharrte Pickel.

„Wie lief denn die Identifizierung ab?“

„Na ja. Das Mädchen wurde seit rund drei Monaten als vermisst geführt. Da fiel es nicht schwer, den Zusammenhang zu sehen.“

Krüger stutzte wieder. „Sagen Sie nicht, es gab gar keinen verlässlichen Hinweis, dass es sich tatsächlich um Anna Duda gehandelt hat!“

„Weiß ich nicht mehr. Aber die Rechtsmedizin hat es schließlich ebenfalls bestätigt. Ich bin außerdem nicht die richtige Ansprechperson. Wie gesagt, ich hatte gar nichts zu melden damals!“

 

Krüger winkte ab. „Ja natürlich. Es geht mir auch gar nicht darum zu kritisieren, wie das seinerzeit abgelaufen ist. Ich möchte bloß meine Schlüsse auf Fakten abstellen, nicht auf nur angenommene Vorgänge. Wer hat eigentlich den Handschuh entdeckt?“

„Keine Ahnung. Ich war es jedenfalls nicht.“

„Ja dann.“

Krüger setzte sich wieder in Bewegung. „Ich habe hier die Originalskizze dabei.“ Er deutete auf das Klemmbrett, das er in der Hand hielt. „Können Sie mir sagen, wo der Handschuh genau lag, Herr Kollege?“

Pickel drehte sich und zählte die Stämme ab. Schließlich stockte er. „Wenn ich mich nicht komplett irre, dann stand dieser Baum damals noch.“ Er deutete auf einen Strunk, der offensichtlich schon vor etlichen Jahren abgesägt worden war. „Die Fallrichtung zeigt genau auf die Stelle“, überlegte er laut. „Ob das ein Zufall gewesen ist?“

Krüger zuckte mit den Schultern. „Was könnte es bringen? Spuren verwischen? Nachdem man die Tote gefunden und die Stelle gründlich untersucht hat?“

„Unwahrscheinlich“, pflichtete Pickel kleinlaut bei.

Neue Erkenntnisse blieben erwartungsgemäß aus. Aber damit hatte Krüger auch nicht gerechnet. Er wollte bloß eine naturgetreue Situation im Kopf haben, wenn er über Motiv und Zeugenaussagen nachdachte. Nadja fotografierte fleißig, wie von Krüger aufgetragen, um die Umgebung im Bild festzuhalten. Die original vorhandenen Fotos zeigten nur Dinge, die damals für relevant gehalten wurden wie die Tote oder den einzelnen Latexhandschuh. Teuren Film für die Aufnahme von bloßem Waldboden oder gewöhnlichen Baumstämmen zu verschwenden, war früher absolut nicht üblich gewesen.

Krüger wusste dies aus eigener Erfahrung. Ein erstes Mal, dass er Meyer mit Ypsilon recht geben musste, dass ein älterer Ermittler bei solchen Fällen tatsächlich über gewisse Vorteile verfügte.

***

Um die Akten zum Vorgang der verschwundenen Jadwiga Grabowska, der Kollegin von Anna Duda zu vervollständigen, schickte Krüger seine neue Assistentin alleine los. Er ging davon aus, sie würde die aktiven und die ehemaligen Beamten der Dienststelle Schramberg bei Bedarf ganz locker um den Finger wickeln. Beispielsweise um an Infos zu kommen, die in keinen Berichten standen. Krüger war aufgefallen, dass die Vermisste zum Schicksal ihrer Kollegin mehrfach befragt wurde, bevor sie selbst verschwand. Obwohl ihre Aussage kaum wesentlich zur Klärung beitragen konnte. Sie hatte Anna nur flüchtig gekannt. Sie stammten zwar aus dem gleichen Ort und waren durch die dieselbe Vermittlerin zu ihren Gastfamilien gekommen. Ein einziges Mal reisten sie gemeinsam nach Hause, zum letzten Weihnachtsurlaub von Anna. Im Zug hatten sie sich kennengelernt und während der Fahrt unterhalten. Lauter Belanglosigkeiten, die Mädchen in diesem Alter vorwiegend interessieren, hatte jemand handschriftlich auf der Akte vermerkt. Die zarte Schrift ließ auf eine Dame schließen. Allerdings hatte die Person es vorgezogen, anonym zu bleiben.

Jedoch waren von der Zeugin mehrere Fotos in der Akte enthalten, die ihre Eltern zur Verfügung gestellt hatten. Jadwiga Grabowska, damals knapp zwanzig, hinterließ zweifellos bei den meisten Menschen einen bleibenden Eindruck. Sie strahlte eine vornehme Anmut aus, vermengt mit nobler Zurückhaltung. Eine unwiderstehliche Mischung aus zartem Engel und üppigen Formen, gekrönt durch eine absolut aufrechte Körperhaltung, die ihren außerordentlich elegant geschwungenen Hals erst richtig zur Geltung brachte. Krüger war es schwergefallen, die Bilder einfach in den Karton zurückzulegen. Welch ein Frevel, sich an dieser Vollkommenheit zu vergreifen, ging ihm immer wieder durch den Kopf. Auch Anna war eine junge Schönheit gewesen. Jedoch neben Jadwiga verblasste sie zum Mittelmaß.

Allerdings stimmte die Begründung für Nadjas Alleingang, den er ihr genau erklärt hatte nicht hundertprozentig. Krüger hatte vor, den Fundort Annas nochmals ungestört aufzusuchen. Davon brauchte vorerst niemand etwas zu wissen. Auch Nadja nicht. Noch kannte er sie kaum. Falls er wider Erwarten einen relevanten Fund erzielte, würde er sein Umfeld selbstverständlich einweihen. Oder andernfalls die Sache einfach unter den Tisch fallen lassen. Außerdem ging es darum, sich die Loyalität der Beamten vor Ort zu erhalten. Die könnten seine Aktion leicht als Rückenschuss ansehen. Obwohl die damaligen Ermittlungen den Namen kaum verdienten, bedeutete dies nicht, dass man durch ernsthafteres Suchen zwangsläufig weitere Indizien gefunden haben müsste.

***

Diesmal fuhr Krüger selbst. Zuvor hatte er sich bei der Fahrbereitschaft einen Geländewagen und bei der Spurensicherung einen Metalldetektor besorgt. Seine neue Stellung ermöglichte dies ohne klare Angaben, wozu er die Ausrüstung benötigte. Den Weg wiederzufinden, schaffte er nur dank seiner Kreuzchen auf der Luftaufnahme. Die direkte Erinnerung an den Ausflug mit Pickel und Nadja erwies sich als praktisch nutzlos. Die einheitlich braunen Stämme am Wegrand wiederholten sich unablässig. Egal, auf welchem Waldweg man sich bewegte.

Ein Aspekt, den man keinesfalls außer Acht lassen durfte, wenn man sich gedanklich in denjenigen versetzen wollte, der Anna hier deponiert hatte. Schon bloß diese Erkenntnis rechtfertigte den heutigen Aufwand, dachte er. Für einen Stadtmenschen wie ihn wäre es völlig unmöglich, sich in diesem Wald zurechtzufinden. Selbst ohne Leiche im Kofferraum.

Er parkte wie üblich ein Stück vor der Stelle. Die Reifenspuren am Wegrand von Pickels kompliziertem Wendemanöver zeigten ihm an, dass er richtig lag. Die Abdrücke wirkten so frisch, als ob sie erst von heute stammten. Hier im Wald dauerte jegliche Veränderung viel länger als in seiner gewohnten Umgebung, schloss Krüger daraus.

Er griff nach dem Detektor und stieg aus. Die Stille im Wald brachte ihn dazu, sich selbst so lautlos wie möglich zu verhalten. Ungewohnt, sogar irgendwie beklemmend. Was konnte er tun, wenn plötzlich ein Bär auftauchen sollte?

„Bären in Schramberg“, murmelte er vor sich hin. „So ein Blödsinn!“

Ein deutliches Rascheln ließ ihn erschauern. Allerdings kein Bär, sondern einige Rehe, die ein Stück entfernt vorbeihuschten. Er schüttelte den Kopf. Tatsächlich geschafft, sich selbst zu erschrecken.

Entschlossen schaltete er den Detektor ein, nachdem er sich einen der Ohrhörer eingesteckt hatte. Das andere Ohr wollte er sich lieber freihalten. Natürlich nicht um möglicherweise auftauchende Bären …

Ein Schlenker am Wagen vorbei zur Kontrolle entlockte dem Gerät einen an- und abschwellenden Signalton. Er nickte zufrieden. „Wenigstens macht das Ding keine Sperenzchen!“, murmelte er.

Wie vorgegeben, schlenderte er in regelmäßigen Bahnen hin und her, das Gerät vor sich schwenkend. Natürlich erschwerten die Bäume eine genaue, schachbrettartige Suche. Irgendwelche Zeichen, wo er bereits gesucht hatte, verkniff er sich. Außerdem versuchte er, gelegentlich vorkommende Kräuter oder andere kleinere Grünpflanzen unbehelligt stehen zu lassen. Schließlich wollte er Spuren suchen, nicht welche legen.

Nach und nach näherte er sich der Liegestelle. Pickel hatte sie durch einen hingelegten, flachen Stein markiert. Als Krüger den Suchteller darüber schwenkte, schlug das Gerät an. Natürlich grenzte er die Stelle sofort genauer ein. Auf dem Display blinkte ein Symbol, ein durchgekreuztes Hufeisen.

„Nichteisenmetall“, brummte Krüger. Offenbar genau unter dem Stein.

Moment! Das hatte er schon einmal erlebt. Da wurde er durch einen Stein, der offenbar irgendwelche Metallanteile in sich barg, zum Narren gehalten. Er griff nach dem Stein und legte ihn zur Seite. Erneut glitt die Spule des Gerätes über die Stelle. Das Signal blieb unverändert. Kein Zweifel, hier lag Metall in der Erde. Kein Eisen. Möglicherweise der Verschluss einer Aludose. Oder ein Kronenkorken, den ein durstiger Wanderer achtlos ins Gebüsch geschmissen hatte. Wahrscheinlich. Sehr wahrscheinlich sogar. Jedoch würde ein im Boden steckendes Geschoss vermutlich kaum ein anders geartetes Signal verursachen.

Was nun?

Wenn er zu graben begann, war es vorbei mit der Geheimhaltung. Den Waldboden konnte man nicht perfekt wiederherstellen. Falls er doch nur ein Stück belanglosen Müll erwischte, würde man ihm zu Recht vorwerfen, dass er wie ein Trottel gehandelt hatte. Das Gerät zeigte eine Tiefe von mehr als zwanzig Zentimetern an. Eine unauffällige Sondierung schloss sich damit aus. Andererseits, wie gelangte ein Stück Abfall so tief ins Erdreich? Die Antwort fügte sich gleich an. Manche Menschen vergruben nach einer Rast ihren Müll, um nicht erwischt zu werden.

Allerdings könnte eine auf eine liegende Person abgefeuerte Kugel …