Read the book: «Die gigantischen Dinge des Lebens»

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Über dieses Buch

Wilburs Lebensphilosophie lautet: Unsichtbar sein. Kopf runter. Mund zu. Einfach schauen, dass man möglichst wenig auffällt. Sich an dem festhalten, was einem Freude macht. Und schließlich hat er ja auch noch zwei großartige Mütter, die ihn abgöttisch lieben.

Bei einem Schüleraustausch überwältigen Wilbur gigantische Gefühle für die quirlige Pariserin Charlotte. Aber wie wird man zu einem begehrten, coolen Typ, wenn man gerade eben noch völlig unsichtbar war? Wilburs Freunde sind überzeugt: Da hilft nur ein Selbstoptimierungsprogramm für Anfänger!

Einmal mehr beweist Susin Nielsen ihre außergewöhnliche Fähigkeit, starke Charaktere zu schaffen, die sich unerschütterlich von Problemen befreien, indem sie lernen, an sich selbst zu glauben. Ein Buch voller Humor, Weisheit und Warmherzigkeit.

»Eine offenherzige und lustige Geschichte über die erste Liebe und das Vertrauen in sich selbst.«

The Times

Susin Nielsen

DIE GIGANTISCHEN

DINGE DES LEBENS

Aus dem kanadischen Englisch

von Anja Herre


Verlag Urachhaus



Die Mumps glauben, dass es im Leben eine Handvoll entscheidender Momente gibt.

Auf Platz eins ihrer entscheidenden Momente rangiert der Abend, als sie sich das erste Mal trafen, vor sechzehn Jahren, bei einer Filmvorführung der Rocky Horror Picture Show in Vancouver. Soeben hatte Dr. Frank N. Furter verkündet: »Einen Toast!« Mum warf ihre Scheibe Toastbrot in Richtung Leinwand und traf Mup am Hinterkopf. Der Rest ist, wie man so schön sagt, Geschichte. Seitdem sind sie wie verrückt ineinander verliebt. Es gibt ein Happy End, und wir sind uns wohl alle einig, dass das die besten Geschichten sind.

Mein entscheidender Moment ersten Ranges hat kein Happy End.

Im Grunde ist er noch nicht einmal vorbei.

Der fragliche Augenblick trat vor zweieinhalb Jahren ein, an meinem ersten Tag in der siebten Klasse. Wir waren vor Kurzem nach Toronto gezogen, ich ging also auf eine neue Schule.

Ach ja, es war auch meine erste Schule überhaupt.

Abgesehen von ein paar desaströsen Wochen im Kindergarten war ich mein ganzes Leben lang zu Hause unterrichtet worden. Doch als wir von Vancouver nach Toronto zogen, fassten wir einen Familienbeschluss: Es war an der Zeit, Schulunterricht und soziale Kontakte zu bekommen, in einem richtigen, echten Haus aus Stein mit richtigen, echten Kindern aus Fleisch und Blut.

Mum und Mup – gemeinhin bekannt als die Mumps – begleiteten mich an diesem ersten Septembermorgen zur Pierre-Elliott-Trudeau-Mittelschule. Sie umarmten und küssten mich und ich weinte ein bisschen, während all die Kinder an mir vorbeiströmten, was, wenn ich jetzt so darüber nachdenke, vielleicht nicht der optimalste Anblick war.

Was mir vom ersten Betreten dieses massiven Gebäudes aus rotem Ziegelstein vor allem im Gedächtnis geblieben ist: der Lärm. Natürlich hatte ich schon mit anderen Kindern zu tun gehabt; es hatte regelmäßig Ausflüge und Treffen mit Kindern gegeben, die auch zu Hause unterrichtet wurden. Aber da reden wir über maximal zehn bis fünfzehn Kinder. Die Flure dieser Schule waren vollgestopft mit Hunderten von Kindern, die schrien, lachten, Schließfachtüren zuknallten und herumrannten, obwohl es Schilder gab, die ihnen nahelegten, langsam zu gehen. Am liebsten hätte ich auf der Stelle kehrtgemacht und wäre wieder rausmarschiert. Doch dann fiel mir ein, was Mup am Abend zuvor gesagt hatte, als ich nicht einschlafen konnte. »Denk dran, Wil: Jeder Anfang bringt neue Erfahrungen mit sich.«

Also lief ich weiter.

Meine Achseln trieften vor Angstschweiß, als ich schließlich am Klassenzimmer ankam. Unser Lehrer, Mr Markowitz, stand an seinem Pult. Ich habe ihn noch vor Augen, in seinem braunen Anzug mit den schuppenbeschneiten Schultern. Er stellte uns eine Aufgabe: »Schreibt euch selbst einen Brief. Erläutert, wer ihr zum jetzigen Zeitpunkt seid. Dann fertigt eine Liste mit Zielen an, die ihr bis zu eurem Schulabschluss erreicht haben wollt. Steckt den Brief in den Umschlag, den ihr bekommen habt, schreibt euren Namen vorne drauf und klebt ihn zu. Die Briefe werden in der Zeitkapsel der Schule eingeschlossen. Und denkt daran«, fuhr er fort, »ihr könnt absolut ehrlich sein. Diesen Brief liest niemand außer euch. In sechs Jahren bekommt ihr ihn zur Zeugnisübergabe ungeöffnet zurück.«

Ich war fest entschlossen, exakt das zu tun, was man mir gesagt hatte.

Also war ich ganz und gar ehrlich.

Nach dem Unterricht trug Mr Markowitz die zugeklebten Umschläge zur Zeitkapsel, die überhaupt keine echte Zeitkapsel war, sondern der Safe im Büro des Direktors. Es war nicht weit von unserem Klassenzimmer, die Treppe runter und dann links. Doch am Treppenabsatz blieb Mr Markowitz einer zuverlässigen Augenzeugin zufolge stehen, um sich am Sack zu kratzen.

Das klang glaubwürdig, denn Mr Markowitz kratzte sich, wie wir in diesem Jahr feststellen sollten, ziemlich oft am Sack. Er machte das derart häufig, dass das Gerücht umging, er habe Filzläuse.

Während er sich also kratzte, flatterte ein Brief, ungesehen, zu Boden.

Meiner.

Zeitkapselbrief, Abschlussklasse 2026

Name: Wilbur Cézar Hernandez-Schott

Alter: 113/4

Beschreibe dich selbst, wie du heute bist: Ich bin 1,62 Meter groß. Farah, eine Freundin aus Vancouver, die auch zu Hause unterrichtet wurde, meinte, ich könnte den jungen Marty Feldman spielen, falls je ein Film über sein Leben gedreht werden sollte, was ich für ein Kompliment hielt, bis ich FRANKENSTEIN JUNIOR sah. Farah verpasste mir auch den Spitznamen ›Schwabbelsuse‹, weil ich a) pummelig bin und b) oft weine. Die Mumps beharren darauf, dass es sich a) um Babyspeck handelt und ich bald einen Wachstumsschub haben werde und dass es b) keinen Grund gibt, sich für Tränen zu schämen, und die Welt mehr sensible Männer braucht. Sie behaupten auch, mein Aussehen würde sich noch verwachsen. Ich hoffe, sie haben recht.

Außerdem hoffe ich, dass dann auch Jeremiah mit mir mitwächst, denn aktuell ist er in etwa so groß wie eine Kaulquappe. Und ich hoffe, dass ich lerne, ihn besser zu kontrollieren, denn seit Kurzem rührt er sich in den peinlichsten Momenten und völlig ohne Grund. Jetzt gerade zum Beispiel. Ich musste mir ein Schulbuch auf den Schoß legen.

Was kann ich sonst noch über mich sagen? Wenn ich mal groß bin, will ich Schriftsteller werden. Ich schreibe viel! Hauptsächlich Kurzgeschichten über Dinosaurier und das Weltall. Ich kann mich echt voll in meinen Fantasiewelten verlieren, was super ist, weil wir erst vor einem Monat nach Toronto gezogen sind und ich genau null Freunde habe! Ich hätte so schrecklich gerne ein Haustier, aber die Mumps sagen, ich muss warten. In Vancouver hatte ich eine Katze namens Zimtschnute, aber eines Tages kam sie nicht mehr nach Hause. Die Mumps meinten, sie habe bestimmt eine andere Familie gefunden.

Farah meinte, sie sei bestimmt von einem Kojoten gefressen worden.

Ziele, die du bis zu deinem Schulabschluss erreicht haben möchtest:

1. Größer sein.

2. Einen größeren Jeremiah haben.

3. Jeremiah kontrollieren können.

4. Weniger weinen! Es mag ja positiv sein, wenn Männer ihre Gefühle zeigen, aber falls ich noch ein einziges Mal bei dieser Werbung von der Tierschutzorganisation mit dem Lied von Sarah McLachlan weine, haue ich mich selber – wenn ich bloß daran denke, kommen mir schon wieder die Tränen.

5. Freunde finden! In Vancouver hatte ich nicht gerade viele Freunde, außer Stewart Inkster und ab und an jemand, der auch zu Hause unterrichtet wurde, wie Farah. Die Mumps sagen immer wieder, SIE seien meine Freundinnen, aber sie sind halt auch meine Mütter, ich bin also nicht sicher, ob das zählt.

6. Meine Texte veröffentlichen! Mir ist schon klar, dass das bis zum Schulabschluss eher unwahrscheinlich ist, und mir ist auch klar, dass man als kunstschaffender Mensch eine gewisse Anzahl von Rückschlägen einstecken muss, aber wie Mup zu sagen pflegt: »Am Anfang jedes Traums steht ein Träumer.«

7. Eine liebe- und einvernehmlich respektvolle Beziehung (© Mumps) mit einem besonderen Mädchen haben. Mich verlieben! (Und vielleicht, aber nur VIELLEICHT darf ich, wenn wir dann so richtig verliebt sind, mal ihren Vorbau anfassen. Natürlich nur mit ihrer enthusiastischen Zustimmung (© Mumps)!

8. Und schließlich und endlich: ein besserer Mensch sein. Nicht dauernd so ängstlich sein. Offener für neue Sachen. Was riskieren. Selbstbewusst und mutig sein.

Mup sagt immer: »Wer nicht wagt, der nicht gewinnt!«

Gezeichnet

Wilbur Cézar Hernandez-Schott

Am nächsten Tag in der Schule dachte ich zunächst, ich spinne. Ganz bestimmt starrten mich nicht alle an.

Ich spann nicht.

Jemand hatte meinen Brief geöffnet – meinen persönlichen, privaten Brief – und abfotografiert. Dann hatte dieser Jemand ihn auf sämtlichen der Menschheit bekannten Social-Media-Kanälen gepostet, wo er kommentiert und mit jeglichen Leuten an meiner Schule und darüber hinaus geteilt wurde.

Gegen zehn Uhr vormittags versteckte ich mich im Schulkrankenzimmer und heulte erbärmlicher als bei der Tierschutzwerbung.

Gegen elf Uhr vormittags waren die Mumps zu einer Krisensitzung einberufen worden. Die Direktorin hatte wohl beschlossen, dass meine Schmach ohnehin nicht mehr zu überbieten war, denn sie gab ihnen meinen Brief auf ihrem Handy zu lesen. Sie versicherte ihnen, die Schule würde die Schuldigen finden und zur Verantwortung ziehen.

Auf der Heimfahrt weinte ich immer noch, deshalb setzte sich Mum zu mir nach hinten und hielt meine Hand. Sie war direkt vom Dreh zu Wo ein Wolf ist gekommen und hatte noch das komplette Spezialeffekt-Make-up drauf; ihre Hand war sehr haarig. »Das ist kein Weltuntergang, Nüsschen. So fühlt es sich jetzt vielleicht an, aber du wirst gestärkt daraus hervorgehen.«

»Mum hat recht«, antwortete Mup und guckte mich im Rückspiegel unseres neuen Autos an. »Was dich nicht umbringt, macht dich härter.«

Ich seufzte. Mum zog mich an sich und ich spürte ihre pelzigen Wangen. »Wenn du mich fragst, ich fand den Brief ganz großartig. Ehrlich und auf den Punkt gebracht.«

»Und du kannst sicher sein, in deiner Klasse gibt es keinen einzigen Jungen, der nicht schon die Demütigung einer spontanen Erektion durchgemacht hat«, ergänzte Mup von vorne, und ich versank noch tiefer in meinem Sitz.

Mum strich mir übers Haar. »Ein klitzekleines Hühnchen haben wir aber noch mit dir zu rupfen, Nüsschen.«

O nein.

»Musstest du wirklich das Wort Vorbau gebrauchen? Wir haben uns doch so bemüht, dir die anatomisch korrekten Bezeichnungen für Körperteile beizubringen.«

»Selbiges gilt auch für Jeremiah. Das war süß, als du noch klein warst, aber ich bin nicht sicher, ob es immer noch altersgerecht oder gesund ist, deinen Penis zu vermenschlichen.« Mup seufzte. »Bestimmt bin ich schuld, weil ich früher zu oft Joy to the World mit dir gehört habe.«

Tatsächlich hatte ich den Namen aus dem Lied geklaut, weil Jeremiah ein bisschen wie ein Ochsenfrosch aussah. Und er war ein guter Freund von mir.

»Damit wir uns richtig verstehen, Wil: Du möchtest die Brüste eines Mädchens berühren«, sagte Mum. »Und du wünschst dir einen größeren Penis.« Sie lächelte und entblößte scharfe, spitze Werwolfzähne.

Nur für den Fall, dass es nicht glasklar ist: Ich bin ein Einzelkind.


An dem Abend taten die Mumps ihr Bestes, um eine fröhliche Stimmung zu verbreiten. Sie holten sogar die Karaokeanlage heraus und versuchten, mich dazu zu bewegen, I will survive von Gloria Gaynor zu singen. (Ich weigerte mich.)

Später am Abend jedoch ging ich aufs Klo und hörte sie in ihrem Schlafzimmer reden.

Mum: »Ich wusste, dass Schule keine gute Idee ist.«

Mup: »Ach, jetzt komm, Norah. Woher wolltest du das denn wissen?«

Mum: »Aus denselben Gründen, die uns dazu bewogen haben, ihn zu Hause zu unterrichten, Carmen. Erstens ist er ein Frühchen. Zweitens ist er ein Dezemberkind. Und drittens – na ja, im gesellschaftlichen Miteinander ist er nicht gerade versiert, oder? Weißt du noch, im Kindergarten? Er hat jeden Tag geweint, drei Wochen lang, bis wir ihn zu guter Letzt rausgenommen haben.«

Mup: »Und hätten wir ihn eine vierte Woche drin gelassen, hätte er vielleicht aufgehört zu weinen und angefangen, sich einzufügen.«

Ich konnte sie zwar nicht sehen, aber ich spürte die eisige Kälte in Mums Schweigen.

Mum: »Ich will nur das Beste für unseren Jungen. Und diese Schule ist es nicht.«

Mup: »Norah, Liebling. Ich denke, wir können uns darauf einigen, dass unser Junge lernen muss, sich in dieser großen, verrückten Welt, in der wir leben, zurechtzufinden. Und außerdem, was haben wir denn für eine Wahl? Wir können ihn nicht weiter zu Hause unterrichten, nicht mit deinem neuen Engagement und meinen Arbeitszeiten.«

Mum: »Wir könnten uns nach einer Privatschule umsehen.«

Mup: »Und wie um Himmels willen würden wir das bezahlen?«

Schweigen. Dann:

Mum: »Er tut mir so furchtbar leid.«

Mup: »Ich weiß. Mir auch. Aber lass es uns ein paar Tage probieren. Ich bin sicher, die finden die Person, die dafür verantwortlich ist, und dann …«

Mum: »Hängen wir sie an den Füßen auf, pulen ihr mit einem Löffel die Augäpfel raus und weiden sie anschließend mit einem rostigen alten Messer aus …«

Mup: »Hach, du bist so eine Löwenmama.« Wieder wurde es still, aber dieses Mal war ich ziemlich sicher, dass sie sich küssten. Also ging ich ins Bett und versuchte, die fiesen Gedanken aus meinem Hirn zu vertreiben. Stattdessen stellte ich mir vor, ich sei in einer Scheune, zusammen mit den Tieren aus Wilbur und Charlotte, meiner absoluten Lieblingsgeschichte, und nach einer Weile schlief ich schließlich ein.


Die Schule fand den Übeltäter fast im Handumdrehen. Poppy, ein Mädchen in meiner Stufe, erzählte der Direktorin, sie habe gesehen, wie Tyler Kertz den Brief aufgehoben habe, nachdem Mr Markowitz ihn fallen gelassen hatte.

Ich hatte nur ein einziges Mal mit Tyler geredet, als ich in der Klasse neben ihm saß. »Schicker Hut«, hatte er gesagt.

»Danke. Ist ein echter Fischerhut.« Dann: »Ich bin Wilbur Cézar Hernandez-Schott.« Ich streckte die Hand aus.

Er ergriff sie nicht. Er ignorierte sie. »Hast du irgend ’ne Krankheit oder so was?«

»Was?«

»Deine Augen. Die sind glubschig.«

»N-n-nein. Die sind einfach so –«

»Siehst aus wie ’n Frosch. Oder ’n Mops.«

Da kam Mr Markowitz herein, und schon war’s vorbei.

Dennoch – oder vielleicht deswegen? – gab Tyler Mr Markowitz den Umschlag nicht einfach zurück, als er meinen Namen darauf entdeckte. Er öffnete ihn, las alles – und beschloss, alle anderen müssten das ebenfalls lesen.

Als man ihn aufforderte, sich dazu zu äußern, sagte er der Direktorin, er habe das »bloß zum Spaß« gemacht. Er hatte es nicht böse gemeint.

Kertz wurde für eine Woche von der Schule suspendiert und musste mir einen Entschuldigungsbrief schreiben.

Und ich?

Ich war verdammt zu einer Ewigkeit in der Hölle.

Machtlos. Im freien Fall mein Leben
Meine innersten Gedanken – der Welt preisgegeben

aus ›Ohne Fallschirm‹ von Wilbur Hernandez-Schott

»Die Zeit heilt alle Wunden«, sagt Mup gerne. »Und die Zeit verwundet alle Heiler.« Ich habe Mup wirklich lieb. Aber ihre Plattitüden sind manchmal echt kompletter Schwachsinn.

Nach Tylers Ausschluss vom Unterricht setzten wir uns zu einer unserer Familienbesprechungen zusammen. »Wir finden, du solltest versuchen, noch ein bisschen durchzuhalten«, sagte Mup. »Vor deinen Problemen wegzulaufen ist ein Rennen, das du niemals gewinnen wirst.« Mum stieß einen Würgelaut aus, und Mup nahm ihre Hand und drückte sie fest. Ich war mir ziemlich sicher, dass sie unterschiedlicher Meinung waren, sich jedoch darauf verständigt hatten, als geschlossene Front aufzutreten.

»Nur einen Monat, Gürkchen«, sagte Mum. »Wenn es danach nicht besser ist, holen wir dich raus.« Sie hörte sich an, als redete sie von einem Gefängnisausbruch.

Also ging ich weiter auf die Pierre-Elliott-Trudeau-Schule.

Und es war ein Albtraum.

Die Witze über Jeremiah nahmen kein Ende. Ein paar Kinder versuchten mich zum Weinen zu bringen, und ich muss leider zugeben, dass es ihnen bisweilen gelang. Noch schlimmer: Niemand nannte mich mehr Wilbur. Ich hatte einen neuen Spitznamen. Keiner von uns – weder ich noch Mum noch Mup – hatte je das Akronym bemerkt, das die Initialen meines Namens bildeten. WiCHS.

Ich hasste die Schule. Ich beschloss, den Mumps nach Ablauf des Monats zu sagen, dass ich da raus wollte.

Und prompt überrollte uns kurz vor Ende September eine Unglückslawine.


Eines Tages kam Mup ganz aufgewühlt von der Arbeit nach Hause. »Die haben mich durch einen Roboter ersetzt.« Sie arbeitete Vollzeit als Kassiererin in einem Lebensmittelladen. Vor Kurzem waren Selbstbedienungskassen angeschafft worden, und da man Mup als Letzte eingestellt hatte, war sie die Erste, die gehen musste. Ein paar Tage später löste sich Mums Fernsehsendung – ihre erste Hauptrolle, der Grund, weshalb wir nach Toronto gezogen waren – in Rauch auf. Jennica Valentine und meine Mum, Norah Schott, spielten in Wo ein Wolf ist die Anführerinnen eines Rudels weiblicher Werwölfe. Doch nur zwei Wochen nach Drehbeginn wurde der Produzent wegen etwas namens Geldwäsche festgenommen und die Produktion eingestellt.

Die Mumps rackerten sich ab, um Arbeit zu finden, irgendeine Arbeit. Spät nachts hörte ich sie reden; sie hatten furchtbare Angst, wir könnten das Haus verlieren, das wir erst vor Kurzem im Zentrum von Kensington Market gekauft hatten. »Wir haben das Fell verteilt, bevor wir den Bären erlegt hatten«, sagte Mup.

Sie waren komplett überlastet.

Als unsere Familienbesprechung wegen der Schule anstand, sagte ich deshalb bloß: »Ist okay. Alles gut. Die Schule läuft gut.« Und die vielen kleinen Muskeln in ihren Gesichtern entspannten sich, und mir war klar, dass sie unendlich erleichtert waren, sich um eine Sache weniger, und zwar mich, sorgen zu müssen.

Nur zwei Jahre, sagte ich mir. In der Oberschule würde ich ganz neu anfangen.

Ich Trottel.

Die Pierre-Elliott-Trudeau-Oberschule ist direkt neben der Pierre-Elliott-Trudeau-Mittelschule.

Und so zogen Tyler – und Wichs – zusammen mit mir um.


»Ey, Fichs, ist das ’ne halbe Packung Atemfrisch-Kaugummis in deiner Hosentasche oder freut sich Jeremiah bloß so, mich zu sehen?«, brüllte Kertz heute Morgen quer über den Flur, am ersten Tag nach den Weihnachtsferien. Fichs ist eine Abwandlung meines Spitznamens, wie er mir hilfreicherweise erläuterte: »Ist ’ne Kombination aus Wichs und Freak.« Ganz ausgefuchst.

»Du bist lahmer als ein Faultier, Wic… – ich meine, Wilbur! Noch eine Runde«, sagte unser Sportlehrer, Mr Urquhart, in der Sportstunde, denn ja, selbst er kennt meinen unseligen Spitznamen.

»Der Platz ist schon besetzt, Wichs«, sagte Poppy im Englischunterricht; Poppy, die immer nett zu mir gewesen war, bis Tyler, als Willkommensgeschenk in der Oberschule, das Gerücht verbreitete, ich würde gern an den Fahrradsätteln der Mädchen schnüffeln. Also echt. Ich habe noch nie, nicht ein einziges Mal, an einem Fahrradsattel gerochen. Eigentlich an keiner Art von Sitzgelegenheit, wenn ich so darüber nachdenke. Doch einige Mädchen haben ihm geglaubt und weigern sich seitdem, in meiner Nähe zu sitzen.

»Verzeihung, Wichs, dürfte ich mir einen Bleistift ausborgen?«, fragte Jo Lin in Mathe. Das versetzte mir den tiefsten Stich, weil Jo Lin wirklich aufrichtig freundlich ist, zu mir und zu allen Leuten. Sie wollte nicht gemein sein, sie denkt einfach, dass ich so heiße.

Obwohl ich vierzehn bin, haftet mir wie ein übler Geruch ein Brief an, den ich mit elf – elf! – geschrieben habe. Es ist, als hätte sich in all den Jahren nichts verändert. Als hätte ich mich nicht verändert. Ich habe mich aber verändert. Zum Beispiel bin ich jetzt viel größer. Die Mumps hatten recht, ich bekam einen gewaltigen Wachstumsschub. Es ging so schnell, dass sie witzelten, sie könnten meine Knochen knarzen hören. Ich hatte buchstäblich Wachstumsschmerzen. Nun bin ich über einsachtzig groß. Aber meine Körpergröße ist kein Vorteil; ich spiele weder Basketball noch sonst eine Mannschaftssportart, weil ich ein totaler Trampel bin und dazu neige, mich zu ducken, sobald irgendeine Art von Ball in meine Richtung geworfen wird. Außerdem bin ich zwar größer geworden, aber trotzdem immer noch pummelig und weich. Und meine Haare haben so eine komisch drahtartige Struktur; Tyler sagt gern, sie sähen aus wie ein Haufen braune Schamhaare. Und, na ja, außer sie auszureißen kann ich an meinen Glubschaugen nicht viel machen.

Jeremiah ist mit mir mitgewachsen, also, im Verhältnis. Niemand würde ihn für einen Porno oder so was anheuern. Aber er ist durchschnittlich, wie der Mensch, an dem er hängt. Und seine willkürlichen Regungen gehören (weitgehend) der Vergangenheit an.

Was den Rest meiner Liste angeht, so kann ich stolz verkünden, dass ich die Tierschutzwerbung in mindestens vierzig Prozent aller Fälle anschauen kann, ohne zu weinen. Noch besser, ich habe einen tollen Freund – zwei, wenn man Templeton mitzählt –, und eine Zeit lang waren Alex und ich Freunde, aber ich bin mir nicht so sicher, wie da momentan die Lage ist.

Ich schreibe immer noch pausenlos, mittlerweile allerdings hauptsächlich Gedichte; Geschichten über Dinosaurier und das Weltall waren Kinderkram (na gut, ich gestehe: Ich liebe Dinosaurier immer noch, aber mal im Ernst, wer denn bitte nicht?). Und nein, ich habe noch nichts veröffentlicht. Aber ich sage mir, dass mein Leid einen besseren Schriftsteller aus mir machen wird. Gepeinigter Künstler und so.

Hinsichtlich Nummer sieben überrascht es nicht, dass ich da in epischem Ausmaß gescheitert bin. Nie im Leben werde ich vor dem Schulabschluss eine liebe- und einvernehmlich respektvolle Beziehung (© Mumps) haben. Dafür hat Kertz gesorgt. Die Mädchen in meiner Schule beäugen mich misstrauisch, vorsichtig oder mitleidig – manchmal auch alles in einem.

Und acht – ein besserer Mensch werden, mutig sein, blablabla – ja klar. Heutzutage sind meine Ziele sehr viel simpler: einfach bloß den Tag überstehen. Kopf runter, Mund zu. Zieh keine unnötige Aufmerksamkeit auf dich. Wer nichts wagt, gewinnt vielleicht nichts, aber, Achtung, Eilmeldung, verliert vielleicht auch nichts! Ich habe nämlich schon ein paar ziemlich hochwertige Sachen verloren, wie a) meine Würde, b) meine Selbstachtung und c) jegliches Selbstvertrauen, das ich irgendwann mal hatte.

Aktuell mein einziges Ziel: versuchen zu überleben.

Wer bin ich?

Beim Blick in den Spiegel erkenne ich wen?

Mein Bild von mir selbst

oder das, was die anderen seh’n?

Welcher ist echt?

Welcher bloß Schein?

Wichs oder Wilbur? Will am liebsten nur schrei’n.

Wenn im Wald ein Baum fällt,

kracht es laut oder ist nichts vernehmbar?

Wird der Abgestempelte irgendwann sein Stempel?

(tiefgründig, schon klar)

Keine wird mich jemals lieben

als Wichs

Bin Außenseiter oder noch schlimmer

ein Nix.

Einer gehört angeklagt

trägt Schuld an meinen Qualen

Er weiß, wer er ist, doch sein Name bleibt ungesagt

Ich stoß meinen Quäler, im Traum oder Wahn,

in eines seelensaugenden Dementors Bahn

Und wenn ich ihn vor eine Dampfwalze bugsiere

bleibt nichts weiter übrig als klebrige Schmiere.

von Wilbur Hernandez-Schott