Chassidismus

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Chassidismus
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Susanne Talabardon

Chassidismus

Mohr Siebeck GmbH & Co. KG


Inhaltsverzeichnis

  Vorwort

  1. Warum es so schwierig ist, den osteuropäischen Chassidismus zu beschreiben 1.1. Im Schatten der Aufklärung 1.2. Sozial-ökonomisch geprägte Ursachenforschung 1.3. Die zweite Generation von Historikern des Chassidismus 1.4. Die Suche nach dem religionshistorischen Kontext des Chassidismus 1.5. Die gegenwärtige Forschungslandschaft

  2. Chassid und Zaddik: Thema und Variationen in der jüdischen Tradition 2.1. In der Epoche des Zweiten Tempels (4. Jh. BCE bis 1. Jh. CE) 2.2. In der rabbinischen Literatur (2.–7. Jahrhundert CE) 2.3. Im mittelalterlichen Aschkenas 2.4. In der philosophischen und ethischen Literatur des Mittelalters 2.5. In der kabbalistischen Literatur 2.6. Bei den Kabbalisten von Zefat/Safed

  3. Die Vorgeschichte: Jitzchak Luria und die Chassidim ‚alter Schule‘ 3.1. Die Verbreitung der lurianischen Kabbala 3.2. Die Übernahme von Riten der Gemeinschaft von Zefat 3.3. Ba’alé Schem und die praktische Kabbala 3.4. Der Begründer des Chassidismus als Ba’al Schem

 4. Die Erste Generation: Der Ba’al Schem Tov und sein Kabbalistenzirkel (bis 1760)4.1. Hagiographie mit FußnotenExkurs: Biographische Rekonstruktionen aus hagiographischen Legenden4.2. Vom Leben des Israel ben Eli’eser4.3. Der etablierte Mystiker: In MiędzybożExkurs: Konkurrierende kabbalistische Studienzirkel im Umfeld des Besch“t4.4. Die Lehre des Ba’al Schem Tov4.5. Kontrastprogramm: Schabtai Zvi (1626–1676) und seine Nachfolger4.6. Neuansätze in der Lehre des Ba’al Schem Tov

  5. Jakob Josef ben Zvi ha-Kohen Katz von Połonne: Der erste Theoretiker der neuen Strömung 5.1. Das Leben des Jakob Josef von Połonne 5.2. Kabbalistische Gesellschaftskritik: Das Konzept des Jakob Josef 5.3. Der Zaddik 5.4. Die Lehre vom Abstieg des Zaddik 5.5. Die Einheit der Schöpfung als Ziel der Geschichte

 6. Die Zweite Generation: Dov Ber, der Große Maggid6.1. Das Leben des Dov Ber von Międzyrzecz6.2. Alles und Nichts: Die Lehre des Großen MaggidExkurs: Lurianische Kabbala6.3. Vom Ba’al Schem Tov zum Großen Maggid: Wandel und Kontinuität

  7. Die Dritte Generation: Die Schüler des Großen Maggid als Zaddikim (bis 1815) 7.1. Der Chassidismus in Polen und Galizien 7.2. Die chassidischen Zentren in Weißrussland und Litauen 7.3. Zaddikim der dritten Generation in Wolhynien und Podolien 7.4. Ausblick

  8. Gewichtige Gegenspieler: Der Gaon von Wilna und die Gegner des Chassidismus 8.1. Der Gaon von Wilna und die frühen Mitnagg’dim 8.2. Die ersten antichassidischen Sendschreiben 8.3. Die Phase der aktiven Verfolgung des Chassidismus in Litauen 8.4. Die Angriffe der Maskilim 8.5. Die Reaktion der chassidischen Führung auf die Mitnagg’dim

  9. Keines Meisters Schüler: Nachman von Brazlav (1772–1810) 9.1. Einzigartig wider Willen: Das Leben des Nachman von Brazlaw 9.2. Zaddik ha-Dor 9.3. Der Gottesdienst in Einfachheit: Nachman als Lehrer 9.4. Eine letzte Landnahme: Uman

  10. Die Schüler der Schüler: Der Chassidismus der Höfe und Dynastien (bis ca. 1880) 10.1. Der Chassidismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts 10.2. Przysucha: Der Weg der polnischen Zaddikim 10.3. Chabad-Lubawitsch – Die Erben des Schne’ur Salman 10.4. Die „königlichen“ Höfe Podoliens und Wolhyniens 10.5. Die beginnende Krise des Chassidismus

  11. Zwischen der Alten und der Neuen Welt. Das Ende des osteuropäischen Chassidismus (bis 1945) 11.1. Die Pogrome von 1881–1884 und der Beginn der Auswanderung 11.2. Die Rebbes von Ger (Góra Kalwaria) 11.3. Der Erste Weltkrieg und die revolutionären Wirren in Russland 11.4. Die Rebbes von Lubawitsch 11.5. Schoa

  12. Chassidismus nach der Schoa 12.1. Brooklyn: Osteuropa in der Neuen Welt 12.2. Sehnsucht nach dem Moschiach: Der Sibenter Rebbe und die neue Chabad 12.3. Kontrapunkt: Die Satmar-Chassidim 12.4. Der Chassidismus in Israel 12.5. Aus den Neuen Welten in die Alte und zurück

  13. Wirkungen des Chassidismus in der westlichen Welt 13.1. Chassidismus in der westlichen Welt 13.2. Neochassidismus: Martin Bubers Versuch zur Rettung des westeuropäischen Judentums 13.3. ‚Neo-Chassidismus‘ und Hippie-Kultur 13.4. Wirkungen des Chassidismus

  Glossar

  Orte in Ost(mittel)europa

  Abbildungsverzeichnis

 Literaturverzeichnis1. Quellen2. Sekundärliteratur

  Personenregister

  Sachregister

[Zum Inhalt]

 

|1|Vorwort

Diese Einführung in ‚den Chassidismus‘ kommt in mancherlei Beziehung viel zu früh. Die moderne Forschung zu jener vielgestaltigen, dynamischen jüdischen Strömung steckt noch in ihren Anfängen. So sind zwar außerordentlich tragfähige und teilweise umfassende historische und religionsgeschichtliche Arbeiten zu den frühen chassidischen Meistern entstanden, zu bemerkenswerten späteren Entwicklungen existieren jedoch allenfalls Einzelstudien. Manche Region, die erst im Laufe des 19. Jahrhunderts bedeutende chassidische Gruppierungen beheimatete – man denke an das slowakisch-ungarische Grenzgebiet oder Bessarabien – hat bisher kaum systematische Beachtung erfahren. Einen wirklichen Überblick über die höchst verschiedenfarbigen Gemeinschaften und ihre theoretischen Konzepte, inklusive ihrer Entstehungsbedingungen oder der Wechselwirkungen zwischen ihnen, kann derzeit eigentlich niemand wissenschaftlich verantwortlich vermitteln. Das vorliegende Buch kann daher höchstens als deskriptive Momentaufnahme einer baulichen Struktur gelten, deren Konstruktionspläne noch nicht bekannt sind.

Andererseits erscheint es für den deutschen Sprachraum überfällig, eine auf modernen Forschungen basierende Übersicht zur Geschichte des Chassidismus anzubieten. Trotz grundlegender Arbeiten deutscher Judaisten wie Karl Erich Grözinger oder Michael Brocke ist das Bild jener osteuropäischen Reformbewegung in der hiesigen Öffentlichkeit noch weithin geprägt von den romantischen Entwürfen Martin Bubers (1878–1965). In der Tat spielte der Religionsphilosoph eine entscheidende Rolle dabei, den Westen Europas auf den Chassidismus aufmerksam zu machen. Dass Bubers Hörer und Leser es letztlich allerdings mit einer von ihm selbst transformierten und den westlichen Bedürfnissen angepassten Form jüdischer Theosophie und Lebensweise zu tun bekamen, ahn(t)en die meisten nicht.

Auch das zweite, im deutschen Sprachraum weit verbreitete Referenzwerk, die zweibändige „Geschichte des Chassidismus“ von Simon Dubnow, entspricht in vielerlei Hinsicht nicht dem gegenwärtigen Forschungsstand. Das gilt insbesondere für dessen Grundannahme, der Chassidismus sei etwa ab dem Jahre 1815 zu einem „Zaddikismus“, einer blindwütigen, von abergläubischen Vorstellungen gespeisten Verehrung von chassidischen Heiligen degeneriert. Krisen- und Katastrophentheorien, die bis in die achtziger |2|Jahre des 20. Jahrhunderts die Forschungslandschaft prägen sollten, werden heute kaum mehr vertreten. Wer indessen derlei neuere wissenschaftliche Erkenntnisse in deutscher Sprache rezipieren möchte, ist in der Regel an Essays oder Aufsätze gewiesen, die nur Teilaspekte des Gesamtbildes in neuer Perspektive vermitteln können.

Angesichts dieser Diagnose könnte man den Versuch einer umfassenden Darstellung des osteuropäischen Chassidismus (in deutscher Sprache) legitimieren. Es ist womöglich besser, etwas Vorläufiges zur Kenntnis zu nehmen, als sich mit veralteten oder nicht als wissenschaftliche Darstellung gedachten Auskünften zum Thema zufrieden zu geben.

Leider müssen wir diesen ersten Warnhinweisen weitere Einschränkungen folgen lassen. Die vorliegende Einführung hat aus der Vielzahl der Phänomene, Gruppen und Strömungen eine Auswahl treffen müssen, die sich vor allem an der vorfindlichen Forschungslage und der Bedeutung einiger Spielarten des Chassidismus für die Gegenwart orientiert. Manche Regionen, die insbesondere im 19. und 20. Jahrhundert (vor der Schoa) bedeutende chassidische Dependancen aufzuweisen hatten, wie vor allem Ungarn, die Bukowina und Moldawien, finden sich im Folgenden kaum berücksichtigt. Gleiches gilt für den Chassidismus in Westeuropa nach 1945.

Etliche Probleme bereiteten auch die geographischen Bezeichnungen für Orte und Regionen in Ost- und Mittelosteuropa. Die häufig wechselnden Zugehörigkeiten bestimmter Landschaften zu polnischen, russischen oder österreichischen Herrschaftsräumen, manch kurzes nationalstaatliches Intermezzo, die zumeist multiethnische Besiedlung, die späte Herausbildung von Namen für Territorien und für deren Bewohner (man denke nur an „Ukraine“ oder „Weißrussland“), sorgen für konstante Verwirrung. Je nachdem, ob man eine polnische, russische, hebräische oder jiddische Quelle nachschlägt, differieren die Bezeichnungen für ein und dieselbe Stadt- oder Landgemeinde erheblich. Die Notlösung für die folgende Darstellung besteht darin, in der Regel die polnische Bezeichnung für einen Ort zu verwenden, ungeachtet etwaiger Herrschaftswechsel in späterer Zeit. Für die chassidischen Gruppen und deren Rebbes, die sich nach einer bestimmten (galizianischen, podolischen, wolhynischen) Lokalität benannten, wurde hingegen – so der Name etabliert ist – auf die zumeist dem Jiddischen entlehnte Bezeichnung zurückgegriffen (etwa: Lubawitscher, statt Ljubavicher). In einer Synopse am Schluss des Buches kann man sich über die verschiedenen Namensvarianten in anderen gängigen Sprachen informieren. Die wenigen in deutschem Gebrauch fest verankerten Bezeichnungen (zum Beispiel Warschau, Wilna oder Lemberg) wurden beibehalten.

|3|Noch ein wenig komplexer gestaltete sich die Suche nach praktikablen Benennungen der regionalen Schauplätze des osteuropäischen Chassidismus. Hier hat man in der Regel die Wahl zwischen historischer Korrektheit (Podolien, Wolhynien, Galizien) – wobei kaum jemand diese Landschaften heutzutage noch orten kann – oder Verständlichkeit bei gleichzeitig schwerem Anachronismus (etwa Ukraine oder Weißrussland). Eine wirklich befriedigende Lösung, so muss die Verfasserin eingestehen, wurde nicht gefunden. Der Kompromiss besteht darin, wo immer möglich die historisch korrekten Termini zu verwenden und dem Buch mehrere Landkarten beizufügen. Schwierigkeiten bereitete insbesondere das Territorium zwischen Litauen und dem südlich davon gelegenen Gebiet Podolien. Es ist für die Entwicklung des Chassidismus essentiell, hatte aber im 18. und 19. Jahrhundert keinen allgemein anerkannten Namen. Ich habe es hin und wieder als Weißrussland bezeichnet, wohl wissend, dass es nicht wirklich stimmt.

Vom Chaos bei Personennamen und den vielfältigen Transkriptionstücken will ich gar nicht erst anfangen. Auch hier häufen sich Kompromisse. Die Transkription hebräischer, jiddischer und russischer Begriffe und Bezeichnungen orientiert sich an deutschen Ausspracheregeln und erhebt nicht den Anspruch, eindeutig zu transliterieren.

Für Leser/innen, die mit der jüdischen Tradition noch nicht so vertraut sind, empfiehlt es sich, das zweite Kapitel der Darstellung zunächst zu überspringen. Es enthält eine sehr kurzgefasste Beschreibung der Entwicklung der Begriffe Chassid und Zaddik im Laufe der jüdischen Religionsgeschichte.

Ohne die Hilfe und die Mitwirkung etlicher Freunde und Kollegen wäre das vorliegende Buch vermutlich nichts geworden. Ich danke von ganzem Herzen meinem verehrten akademischen Lehrer, Herrn Prof. Dr. Karl Erich Grözinger, für allerlei fachliche Unterstützung und seinen steten moralischen Beistand, Herrn Raphael Pifko für Losch’n-Hilfe und guten Rat und Herrn Dr. Felix Schnell für seine äußerst kundige Unterstützung bei der Navigation durch osteuropäische Geschichte und Geographie. Meine Studierenden in Bamberg waren dazu bereit, sich lesenderweise durch Probekapitel und hörenderweise durch eine Vorlesung über den Chassidismus zu quälen, und halfen mir, klarer zu denken, indem sie meine Ausführungen mitunter als zu kompliziert brandmarkten. Annette Strobler, der eigentliche spiritus rector meiner Professur, half mir beim Korrekturlesen – aus reiner Freundlichkeit. Ihnen allen sei ganz herzlich gedankt!

(Alle verbleibenden Fehler und Unzulänglichlichkeiten sind natürlich von mir selbst zu verantworten.)

[Zum Inhalt]

|5|1. Warum es so schwierig ist, den osteuropäischen Chassidismus zu beschreiben

Dan, Joseph, A Bow to Frumkian Hasidism, Modern Judaism 11, 1991, S. 175–193.

Davidowicz, Klaus, Gerschom Scholem und Martin Buber. Die Geschichte eines Mißverständnisses, Neukirchen-Vluyn 1995, besonders S. 104–143.

Elior, Rachel, The Mystical Origins of Hasidism, Oxford, Portland 2008, besonders S. 195–205.

Etkes, Immanuel, The Study of Hasidism: Past Trends and New Directions, in: Rapoport-Albert, Ada (Hg.), Hasidism Reappraised, London, Portland 2008, S. 447–464.

Grözinger, Karl Erich, Chassidismus und Philosophie – Ihre Wechselwirkung im Denken Martin Bubers, in: Licharz, Werner/Schmidt, Heinz (Hg.), Martin Buber (1878–1965). Internationales Symposium zum 20. Todestag. Bd. 1: Dialogik und Dialektik, Frankfurt/M. 1989, S. 281–294.

Schatz-Uffenheimer, Rivka, Hasidism as Mysticism: Quietistic Elements in Eighteenth Century Hasidic Thought, Princeton, Jerusalem 1993, S. 15–51.

Der Chassidismus, der im Ostmitteleuropa des 18. Jahrhunderts seine historischen Wurzeln hat, gehört heute zu den einflussreichsten jüdischen Strömungen. Die Zahl derjenigen, die sich zu einer seiner zahlreichen Gruppierungen zählen, steigt beständig. Die Vielfalt, Wandlungsfähigkeit und das gleichzeitige Beharrungsvermögen, die diesen haredischen (‚orthodoxen‘) Zweig des Judentums kennzeichnen, erstaunen so manchen Beobachter. Seit dem erstmaligen Auftreten seiner ungewöhnlichen sozialen Struktur und seiner auffälligen spirituellen Ausdrucksformen fragen sich sowohl Sympathisanten als auch Gegner, Zeitzeugen und Wissenschaftler, weshalb sich der osteuropäische Chassidismus so geschwind verbreitete und warum er bei weiten Teilen der jüdischen Bevölkerung Podoliens, Wolhyniens, Galiziens und Kleinpolens derartige Erfolge verzeichnete.

1.1. Im Schatten der Aufklärung

Die ersten, die sich dem Phänomen Chassidismus gewissermaßen als Außenbeobachter widmeten und eine westeuropäisch geprägte Öffentlichkeit davon in Kenntnis zu setzen suchten, waren Maskilim – von der jüdischen Aufklärung (השכלה/Haskala) geprägte Intellektuelle |6|wie Josef Perl (1773–1839) oder Isaak Ber Levinsohn (1788–1860). Josef Perl und Isaak LevinsohnFür diese Männer, die sich dem Kampf um die moderne Bildung und Emanzipation der osteuropäischen Juden verschrieben hatten, stellte sich der Chassidismus als Rückfall in äußerste Rückständigkeit und als ein Paradebeispiel für denjenigen Obskurantismus dar, den man unbedingt bekämpfen wollte. In Denkschriften an die christliche Obrigkeit – wie Perls „Uiber das Wesen der Sekte der Chassidim. Aus ihren eigenen Schriften gezogen“ (1816) – und in zahlreichen Satiren und Parodien (vgl. die דברי צדיקים/Divré Zaddiqim; „Worte der Gerechten“, die Perl gemeinsam mit Levinsohn verfasste) attackierten sie die sich weiter ausbreitende Bewegung.

Heinrich GraetzEine ähnliche Haltung eignete auch dem großen Historiker Heinrich Graetz (1817–1891), der in seiner berühmten „Geschichte der Juden. Von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart“ (11 Bände, 1853–1875) „das neue Chaßidäertum“ (Bd. 11, S. 95) geradezu als Trotzreaktion der ‚Altfrommen‘ gegen das vernünftige Denken Moses Mendelssohns (1729–1786) deutete.

Die neue Sekte, eine Tochter der Finsternis, ist im Dunkel geboren und wirkt auch noch heute auf dunkeln Wegen fort. Nur wenige Umstände, die zu ihrer Entstehung und Fortpflanzung beigetragen haben, sind bekannt. Ihre ersten Begründer waren Israel aus Miedziboz (geb. 1698, starb 1. Juni 1759) und Beer aus Mizricz (geb. um 1700, starb 1772). Der erstere erhielt von seinen Verehrern und Gegnern in gleicher Weise den Beinamen […] Baal-Schem oder Baal Schemtob und in der damals beliebten Abkürzung Bescht. So unschön wie der Name Bescht, war das Wesen des Stifters und der Orden, den er ins Leben gerufen hat. (Graetz, ibid., S. 96; Hervorhebungen im Original)

Simon DubnowEtwas differenzierter, aber dennoch von der aufklärerischen Gegnerschaft zu „Wunderglauben“ und „Phantasmen“ (Bd. 1, S. 23) bestimmt, beschrieb Simon Dubnow (1860–1941) in seiner „Geschichte des Chassidismus“ (Berlin 1931) das nämliche Phänomen. Das zweibändige Werk, während seines Berliner Exils vollendet, wird noch heute viel rezipiert. Es ist die erste Arbeit, die tatsächlich auf umfangreichem Quellenstudium fußt. Andererseits sah sich der Historiker Dubnow, der damaligen Interpretation von Wissenschaft folgend, in einer Doppelrolle als „Forscher und Richter“ (S. 12), was den Wert seiner Darstellung zuweilen beeinträchtigt. So nahm er den osteuropäischen Chassidismus als eine nach einigen hoffnungsfrohen Ansätzen degenerierte Unternehmung wahr. Während er den charismatischen Führungsgestalten (צדיקים/Zaddikim) der ersten Generationen noch kreative und innovative Ansätze zugestand, betrachtete er die Strömung ab etwa 1815 wegen des „Zaddikismus“, dem alle positiven Ansätze absorbierenden Kult um den Zaddik, als im Niedergang begriffen.

 

|7|1.2. Sozial-ökonomisch geprägte Ursachenforschung

Ein kollektiver Hang zum Obskurantismus konnte jedoch die Verbreitung des osteuropäischen Chassidismus nicht befriedigend erklären. Die Doyens seiner wissenschaftlichen Erforschung wie Simon Dubnow, Benzion Dinur (1884–1973) oder Raphael Mahler (1899–1977) interpretierten daher die Entstehung und den Erfolg des Chassidismus als ein Krisenphänomen. Dubnow erblickte im sozial-ökonomischen Niedergang der jüdischen Gemeinden innerhalb der polnischen Adelsrepublik im Gefolge der Chmielnicki-Massaker 1648/49 eine wesentliche Ursache für den Erfolg der chassidischen ‚Erweckung‘:

Der Chassidismus stellt als Ganzes betrachtet eine der bedeutendsten und originellsten Erscheinungen nicht allein in der Geschichte des Judentums, sondern auch in der Entwicklungsgeschichte der Religionen überhaupt dar. […] Mit den Mitteln mächtiger seelischer Beeinflussung gelang es dem Chassidismus, den Typus eines Gläubigen zu schaffen, der die Innigkeit des Gefühls höher als die Werkheiligkeit, die Gottseligkeit und religiöse Inbrunst höher als Spekulation und Thorastudium stellte. […] Zugleich bot aber der Chassidismus ein Gegenmittel auch gegen die Not und Unterdrückung, die im jüdischen sozialen Leben herrschte […]. Zwar dachte der Chassidismus nicht im entferntesten daran und konnte auch nicht daran denken, die Entrechtung und Knechtung der Juden zu beseitigen, gleichwohl erreichte er kraft der von ihm ausgehenden psychischen Einwirkung, daß seine Anhänger für das Joch der Sklaverei und des Galuth [des Exils] weniger empfindlich wurden. (Dubnow, Geschichte, Bd. 1, S. 67–68; Hervorhebung im Original)

Benzion DinurDer Zionist Benzion Dinur betrachtete den (vermeintlichen) Niedergang des polnischen Judentums hingegen eher als eine politische Führungskrise mit sozialen Auswirkungen. Das Scheitern der messianischen Hoffnungen, die sich auf Schabtai Zvi (1626–1676) gestützt hatten, sowie der Untergang der überregionalen jüdischen Selbstverwaltung (ועד ארבעת ארצות/Wa’ad Arba’at Arazot; Vier-Länder-Kongress) im Jahre 1764/65 hätten das Vertrauen in die Führungsschicht nachhaltig erschüttert. Der Chassidismus präsentierte sich ihm als eine Strömung, welche die messianischen Energien der jüdischen Bevölkerung und deren Erwartungen an die eigene Elite in neue Bahnen lenkte.

Raphael MahlerAuch der (marxistisch geprägte) Raphael Mahler beschrieb jene osteuropäische Reformströmung als ursprünglich sozial orientierte Opposition, die den jüdischen Massen die Möglichkeit zum Widerstand gegen die verbreitete ökonomische Unterdrückung eröffnete. Erst nachdem sich die neue chassidische Führung mit ihren einstigen Gegnern (Mitnagg’dim), der traditionell-rabbinischen Elite, zusammengetan habe, um mit ihnen gemeinsam die Haskala zu |8|bekämpfen, habe der Chassidismus seine sozial-revolutionäre Ausprägung verloren (vgl. Hasidism and the Jewish Enlightenment).