Der Alte vom Berge

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Kapitel 3

Mossul,

Hotel, Zimmer von Professor Atkins

P

rofessor Atkins hob sein Glas gegen Jack, der halb im Sessel lag. »Verehrte Sally, lieber Jack … zunächst ein Glas auf die zweifache Lebensrettung und den kühnen Retter!«

»Hören Sie um Himmels willen damit auf, Professor«, wehrte Jack mit einer wegwerfende Handbewegung ab, als sie getrunken hatten. »Ich kann Weihrauch auf den Tod nicht ausstehen. Außerdem war es halb so schlimm. Viel gefährlicher sah es im Polizeipräsidium aus.«

»Sie sagten bei der Vernehmung, dass Sie und Ihre Schwester zu Ihrem Vergnügen hier sind«, lächelte Atkins, der sich von Jacks Gefühlsausbruch nicht beirren ließ. »Als ehemalige Studenten der Archäologie wenig glaubhaft. Wenn Sie mögen, können Sie mich begleiten. Ich werde mit einigen Leuten bei ›Dur Scharrukin‹, der ›Sargonsburg2 graben. Von denen ist ständig die Hälfte krank, da kann ich jede helfende Hand brauchen.« Er sah die beiden auffordernd an. »Schlagen Sie ein, Sally? … Jack?«

Sally warf ihrem Bruder einen fragenden Blick zu.

»Wir wollten hier doch etwas sehen und … erleben.«

Atkins lachte. »Sind Sie in Ihrer kurzen Zeit mit mir nicht schon auf Ihre Kosten gekommen?«

»Besteht denn begründete Hoffnung, dass sich diese Anschläge wiederholen werden?«, grinste Jack und richtete sich ein wenig auf.

»Den Warnungen nach zu urteilen, die mir in den letzten vier Tagen zugeschickt wurden, steht mir noch allerhand bevor, wenn ich die Grabungen nicht einstelle.«

»Bei der Vernehmung haben Sie nichts davon erwähnt, Professor«, warf Sally Hemsworth augenzwinkernd ein.

»Ich kann mich hüten, Sally«, wehrte Aktins ab. »Die hätten mir doch gleich das Graben verboten, aus Angst, dass mir etwas passieren könnte. Mit pfundschweren Touristen wollen sie auf keinen Fall Scherereien haben.«

»Sie sollten diese Todesdrohungen nicht auf die leichte Schulter nehmen, Professor«, bemerkte Jack.

»Aber mein Bruder hat ja recht«, gab Sally zu bedenken. In ihrer Stimme schwang ein nachdenklicher Unterton mit. »Die Ereignisse heute Nachmittag haben doch deutlich genug gezeigt, dass diese Bande ernst macht.«

»Nachdem ich weiß, wo ich zu graben habe, werde ich doch nicht diese einmalige Chance fahren lassen, nur weil ein paar Verrückte glauben, mich mit ihrem Schmus davon abhalten zu können. ›Wächter der alten Schätze und Wahrer der Religion der assyrischen Könige‹. Wenn ich das schon höre! Da steckt doch etwas anderes dahinter.«

»Vielleicht wollen sie nur Geld?«, meinte Sally.

»Das glaube ich weniger«, erwiderte Atkins, seinen Kopf ungläubig wiegend. »Danach klingen mir die Warnung wirklich nicht.«

»Können Sie mir die Briefe einmal zeigen, Professor?«, meldete sich Jack wieder zu Wort.

John B. Atkins ging zum Schreibtisch und suchte etwas in einem Seitenfach und nahm es heraus. Als er zu seinen beiden jungen Leuten zurückkam, hielt er einige Papiere in der Linken. Doch bevor er sie dem Geschwisterpaar überreichte, schenkte er beiden einen Fingerbreit Whisky nach. »Cheers!«, lächelte er. »Hier in meinem Appartement werden wir wenigstens nicht gestört.« Er drückte ihm die Warnungen in die Hand.

Jack Hemsworth nahm die Zettel, die offenbar aus einem Notizbuch gerissen worden waren. Sich dem Licht einer Kerze zuwendend, begann er zu lesen:

Warnung für Professor Atkins!

Gehen Sie nicht nach ›Niniveh‹! Wer die ›Sargonsburg‹

entweiht, ist gerichtet. Niniveh wird Ihr Tod sein.

Ungläubige sterben durch die Hand der Götter.

Der Alte vom Berge,

Oberhaupt der Assassinen.3

Als Jacks Blick auf das oben rechts eingetragene Datum fiel, sah er überrascht auf und reichte das Papier an seine Schwester weiter. 3

»Das wurde ja in Damaskus geschrieben, Professor.«

»Ja, gleich nach meiner Ankunft vor drei Wochen. Ich habe dort vor einem kleinen Kreis die Bedeutung des von mir gefundenen Keilschrifttextes erklärt und auch gesagt, wo ich graben würde … Ich hatte nach langwierigen Verhandlungen allein die Erlaubnis der Regierung Mossul dafür erhalten.«

Jack las die zweite Nachricht, die vor einer Woche geschrieben war. Sie enthielt den gleichen Text. Dann nahm er sich die dritte vor, die auf den Vortag datiert war:

Morgen, um fünf Uhr am Nachmittag, wird mein Beauftragter Sie im ›Lion of Niniveh‹ aufsuchen. Falls Sie ihm nicht verbindlich bestätigen, dass Sie aus gesundheitlichen Gründen das Land verlassen müssen, sind Sie innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden ein toter Mann.‹

Jack pfiff durch die Zähne.

»Verdammt, Professor! Davon haben Sie der Polizei nichts gesagt. Sie müssen doch einsehen, dass es die Bande ernst meint.«

»Sie und Ihre Schwester sind noch nicht lange hier, Jack. Die Polizei in Mossul ist den politischen und religiösen Banden gegenüber völlig machtlos. Allein in der Umgebung von Mossul hat eine Bande über einhundertneunzig Morde gegen Bezahlung begangen. Es ist die gleiche Bande, die das Attentat auf den Polizeichef verübte.«

»Da sehe ich für Sie augenblicklich nur zwei Möglichkeiten, Professor«, stellte Sally fest. »Entweder lassen Sie alles im Stich, wofür Sie jahrelang gekämpft haben, oder … Sie bleiben hier!«

»Ich habe mich für das Letztere entschieden, Sally!«

»Unter Umständen ist das eine tödliche Entscheidung.« Jack runzelte die Stirn.

Der Professor nickte ernst und räusperte sich. »Vielleicht. Ja, vielleicht ist sie das wirklich. Aber ich habe mich entschieden … und werde in den nächsten Wochen ganz sicher keinen Kriminalroman mehr als Schlummerlektüre brauchen.«

Sally machte mit ihren Händen eine fragende Geste.

»Dort in dem Koffer sind meine Krimis. Wissen Sie, ich kann einfach nicht einschlafen, wenn ich nicht zuvor etwas Aufregendes gelesen habe.«

»Dann haben Sie sich aber für heute diese Form der Lektüre gespart«, meinte Sally lächelnd und gab Jack ein Zeichen. »Wir werden jetzt auch verschwinden, Professor.«

Jack erhob sich und machte einen Schritt auf seine Schwester zu, um mit ihr das Zimmer zu verlassen.

»Moment mal!«, hielt sie Atkins zurück. »Was halten Sie von der Einladung, die uns Mister Wrightley zukommen ließ, als wir aus dem Präsidium kamen?«

»Da morgen Sonntag ist und Sie erst am Montag nach ›Niniveh‹ wollen, werden wir annehmen«, entschied Sally. »Einverstanden, Jack?«

»Wir verdanken es Wrightleys Tochter, dass wir mit heiler Haut davongekommen sind«, stimmte Jack indirekt zu. »Und ein guter Whisky ist nicht zu verachten. Wo soll das ganze denn stattfinden?«

»Im Garten des ›Lion of Niniveh‹«, antwortete Atkins.

»Also gut, Professor! Wir sind dabei. Schließlich kommt es ja nicht darauf an, ob wir schon morgen oder erst am Montag nach ›Niniveh‹ aufbrechen.«

»Dann sind Sie beide am Montag auch in meiner Näher, falls ich Hilfe oder einen Beschützer brauche. Denn die von ›Sargon dem Jüngeren‹ gegründete ›Sargonsburg‹, in der ich mit der Arbeit beginne, liegt am nordöstlichen Rand von ›Niniveh‹.«

»Wollten Sie nicht in ›Imgur-Enlil‹4 graben, Professor?«, fragte Sally erstaunt. »Ich erinnere mich genau, dass Sie über die Sommerresidenz ›Assurbanipals‹5 geschrieben haben.«

Professor Atkins grinste spitzbübisch, was ihm im Verein mit der Brille ein etwas eulenhaftes Aussehen verlieh.

»Das habe ich zur Tarnung ausgestreut«, räumte er ein. »In Damaskus aber musste ich die Katze aus dem Sack lassen.«

»Ich habe zwar viel über Assyrien gelesen, aber diese Fülle von Namen sind bei mir inzwischen ein wenig durcheinander geraten«, lachte Jack.

»Dann wird es Zeit wieder Ordnung zu schaffen«, schallt ihn Sally mit einem Augenzwinkern.

»Vielleicht kann ich Morgenabend, wenn ich von einer kleinen Erkundung zurück bin, die Kenntnisse Ihres Bruders ein wenig auffrischen?«, scherzte Atkins in Sallys Richtung.

»Machen Sie das, Professor!«

»Dann … also … Gute Nacht!«, endete Jack.


Sally und Jack durchquerten den Flur bis zum Treppenhaus. Ihre Zimmer lagen eine Etage höher. Sie waren längst nicht so luxuriös wie das Appartement des Professors, das ihm vom ›Archäologischen Institut‹ der Universität Oxford bestellt worden war, in dessen Auftrag er diese Ausgrabungen durchführte.

Mit einer Umarmung entließ er seine Schwester in das Zimmer neben seinem. Als er sein Appartement betrat schloss er zunächst die Fensterläden, um Nachtfalter auszusperren, ehe er die Petroleumlampe entzündete.

»Sieht ja toll aus!«, sagte er in einer Art von Selbstgespräch. »Schon drei Tage hier, und noch immer nicht alles verpackt.«

Die Jacke auf das Bett werfend, zog sich Jack schnell aus und huschte in das, was man hier unter einem Bad verstand. Er stellte sich mit den Füßen in die Metallwanne, die zugleich auch als Waschbecken diente, und übergoss sich aus einem Krug mit zimmerwarmem Wasser.

War das eine Hitze hier in Mossul zu Beginn des Sommers! Das ›Lion of Niniveh‹ schien die Hitze des Tages förmlich aus allen Fugen wieder auszuschwitzen, die der glühend über der Stadt stehende Sonnenball während der Tagesstunden auf die Stadt hinuntergeschleudert hatte.

 

Er frottierte sich ab und begann seine gymnastischen Übungen. Spielerisch boxte er gegen seinen Schatten, der an der Wand des Badezimmers herumgeisterte.

Es war immer gut, wenn man körperlich auf der Höhe blieb, dachte er bei sich. Das hatte der heutige Tag wieder einwandfrei bewiesen. Als Schwergewichtsmeister im Boxen habe ich an der Universität schließlich auch meinen Mann gestanden.

Seine Gedanken wanderten zu Professor Atkins. Er warf sich den Morgenmantel über, verließ das Bad, löschte die Petroleumlampe, öffnete die Fensterläden wieder und trat hinaus auf den Balkon.

Er stand jetzt hoch über der Stadt. Licht schimmerte in der Finsternis. In westlicher Richtung standen ein paar Bohrtürme. Dort waren die Ölfelder von William Knox D‘Arcys ›AngloPersian Oil Company‹. Und der Mond stand wie ein arabisches Krummschwert im Osten über dem fernen ›Zāgros‹-Gebirge6.



Kapitel 4

Mossul,

Hotel, Zimmer von Jacob Hemsworth

J

ack erwachte von einem Geräusch, von dem er zunächst nicht wusste, woher es kam. Dennoch war er sofort hellwach. Darum bemüht, keine hastige Bewegung zu machen, glitt seine Rechte empor und griff unter das Kopfkissen, unter dem sein Webley-Revolver lag. Sein Finger spürte die Kühle des Metalls. Stück um Stück zog er die Waffe vorsichtig unter dem Kissen hervor.

Die Augen zu schmalen Schlitzen geschlossen, versuchte er, die Dämmerung zu durchdringen. Aber nichts war zu sehen. Und dennoch spürte er wieder das Kribbeln im Nacken, das ihn immer schon gewarnt hatte.

In der linken Hälfte des Raumes befand sich niemand. Wenn Jack auch nach rechts forschen wollte, musste er sich umdrehen. Unruhig, wie ein Träumender, warf er sich auf die rechte Seite. Tief durchatmend, täuschte er einen Schlafenden vor.

Abermals öffnete er die Augen einen Spaltbreit. Das Mondlicht fiel durch die geöffnete Tür zum Balkon ins Zimmer. Nichts war zu sehen. Dann erkannte Jack plötzlich, dass sich einer der zurückgezogenen und in der Ecke zusammengerafften Vorhängte bewegte.

Jacks Blick konzentrierte sich auf diese Stelle. Eine kleine Gestalt schlüpfte mit behänden Bewegungen hinter dem Vorhang hervor und kam vollkommen lautlos quer durch den Raum auf ihn zu. Vor dem Bett blieb der nächtliche Eindringling stehen. Als er den Arm hob erkannte Jack an der Reflexion des Lichtes die Klinge eines Dolches.

Die Rechte zum Stoß erhoben, griff der kleine Mann mit der Linken ans Ende des Moskitonetzes, das seitlich unter der Matratze festgesteckt war.

Weiter kam der Mann nicht …

Jacks hundertachtzig Pfund Lebendgewicht hinderten ihn daran. In einer schnellen, fließenden Bewegung war Jack hochgeschnellt und hatte den Eindringling beim Aufprall zu Boden geschleudert.

Jacks Hände verstrickten sich im Moskitonetz. Er spürte einen stechenden Schmerz im Oberarm. Dann endlich bekamen seine Finger den Hals des Gegners zu fassen.

Mit beiden Beinen um sich tretend, versuchte der Überrumpelte, sich zu befreien. Doch vergebens. Als seine Bewegungen ermatteten, ließ Jacks Rechte los und stieß wie ein Rammpfahl in das Netzgewirr hinein, in dem er schemenhaft das Gesicht seines Gegners erkannte.

Jack hatte den Schlag mit aller Kraft ausgeführt. Er traf den ungebetenen Besucher am Kinn und setzte ihn augenblicklich außer Gefecht.

Kaum war Jack auf die Füße gekommen, befreite er sich vom Moskitonetz. Dann legte er die Fensterläden vor und machte Licht. Mit der Vorhangschnur fesselte er dem unbekannten Eindringling die Hände auf den Rücken. Erst danach kam er dazu, die Stichwunde an seinem linken Oberarm in Augenschein zu nehmen. Zum Glück war es nur ein Kratzer, den er mit etwas Jod einpinselte und mit einer Mullbinde umwickelte.

Er wollte gerade einen Knoten in die Enden machen, als ihn ein Geräusch veranlasste, sich blitzschnell zu seinem Gefangenen umzudrehen.

»Na? … Was verschafft mir die Ehre deines nächtlichen Besuches?«

Der Gefangene antwortete nicht. Stattdessen riss er an seinen Fesseln. Als er erkannte, dass seine Hände zu gut verschnürt waren, ergab er sich endlich in sein Schicksal.

»Geh zur Hölle, du ›Kafir7! Ungläubiger!«, presste er in gutturalem Englisch heraus.

»Falls ich dort sein werde, wenn du des Weges kommst, werde ich dir dort den wärmsten Platz reservieren«, erwiderte Jack, böse lächelnd. »Und jetzt los! Heraus mit der Sprache! Was wolltest du von mir? … Geld?«

Verächtlich schnaubte der Gefangene durch die Nase. Erst jetzt bemerkte Jack, dass sich auch dieser Mann in einem Drogenrausch befand. Seine Erkenntnis wurde auch sofort bestätigt.

»›Der Alte vom Berge‹ will deinen Tod. Mir hat er den Ausblick ins Paradies gezeigt.«

»Du bist also ein ›Opferbereiter‹, ein ›Fedajin8«, stellte Jack immer noch lächelnd fest. »Falls du erwartest, dass ich dich töte, jetzt, wo du versagt hast …«

»Der Tod ist für mich keine Drohung, ungläubiger Engländer! Ich werde die Brücke ›as-Sirāt9 überqueren und bei den ›Huris10 im ›Dschanna11 sein.«

Die Stimme des Mannes überschlug sich vor Entzücken. Mit einem Anflug von Entsetzen erkannte Jack Hemsworth, was die für dunkle Geschäfte missbrauchten Menschen alles zu tun imstande waren, wenn sie derart mit Drogen vollgepumpt und von gewissenlosen Verbrechern auf menschliche Ziele ›angesetzt‹ wurden. Auch wenn dieser Eindringling ihm nach dem Leben getrachtet hatte, empfand er Mitleid mit diesem Mann.

»Was hat Professor Atkins dem ›Alten vom Berge‹ denn getan?«, fragte plötzlich eine weibliche Stimme aus dem Hintergrund.

Sally Hemsworth hatte schon immer einen leichten Schlaf und die Geräusche im Zimmer ihres Bruders vernommen. Durch die Verbindungstür hatte sie das Zimmer betreten.

Der ›Fedajin‹ hielt die Augen geschlossen und antworte nicht mehr.

»Was willst du mit ihm machen, Jack?«

Ihr Bruder blieb ein paar Sekunden grübelnd im Zimmer stehen, ehe er ihr antwortete:

»Du verwahrst doch unsere Reisemedikamente. Ich gebe ihm eine ordentliche Dosis Schlafmittel. Dann wird er nur länger schlafen als sonst, und dass, ohne gleich im Paradies aufzuwachen.«

Sally nickte und verschwand, nur um eine Minute später mit der gewünschten Ledertasche zurückzukehren.

»Nimm bitte nicht Zuviel davon«, mahnte sie ihn. »Denk an Celestes Worte, als sie uns die Tasche gepackt hat.«

Jack nickte ihr zu und löste ein wenig ›Barbital‹-Pulver12 in einem Glas auf. Dann kniete er sich neben dem Eindringling nieder. Mit der linken hielt er ihm die Nase zu und zwang ihn auf diese Weise zu trinken.

Schon wenig später tat das starke Schlafmittel seine Wirkung.

»So, mein Freund! Jetzt haben wir die nächsten zwölf Stunden Ruhe vor dir!« Er wandte sich an seine Schwester. »Ich will vorsichtshalber nachsehen, ob wir noch anderen Besuch zu erwarten haben ... Du wartest hier!«

Jack öffnete die Fensterläden ein wenig und gab sich Mühe, möglichst vollkommen geräuschlos zu sein. Nachdem er nichts Ungewöhnliches ausmachen konnte, begab er sich zum Balkon. Auch hier war nichts zu sehen. Mit schussbereiter Waffe überstieg er das Eisengitter, das seinen Balkon von dem des Nebenzimmers trennte. Nur über den zu seiner Rechten konnte der Eindringling in sein Zimmer gelangt sein – das andere zur Linken gehörte Sally.

Die Tür des Nebenraumes stand halb offen. Der leichte Nachtwind, der ein wenig Kühle vom Tigris mitbrachte, spielte mit dem Vorhang. Entschlossen schnellte Jack in den unbekannten Raum hinein und ließ sich zu Boden gleiten …

… nichts geschah!

Regungslos blieb er liegen und erwartete den Feuerstrahl eines Schusses. Dieser Schuss blieb aus. Eine Minute später kroch er zum Bett hinüber und von dort zum Bad. Diese Tür stand ebenfalls einen Spalt auf. Aber auch hier befand sich niemand.

Erst als Jack sicher war, dass er sich allein in dem Appartement befand, schloss er geräuschlos die Fensterläden, zog die Vorhänge vor und entzündete den Docht einer Petroleumlampe.

Systematisch ging er dazu über den Schrank auszuräumen. Er durchwühlte die gesamte Kleidung. Dann kamen die Koffer an die Reihe. Doch auch hier war nichts zu finden, das ihm weitergeholfen hätte.

Unschlüssig wog er das Reisenessecaire in der Hand. Rein zufällig nahm er das Rasiermesser aus dem Etui. Als er die Klinge herausklappen ließ, fiel ein kleiner Zettel heraus, der mit winzigen arabischen Zeichen bedeckt war. Mit einem grimmigen Lächeln begann er, die Zeichen zu kopieren. Dann steckte er die Vorlage wieder in den Apparat zurück, klappte die Klinge ein und legte das Etui an den alten Platz zurück.

Er öffnete die Tür zum Flur, lehnte sie leicht an und kehrte über das Geländer des Balkons wieder in sein Zimmer zurück.

»Komm! … Hilf mir, Sally«, sagte er zu seiner Schwester, während er mit seinen Armen unter die Achseln seines Angreifers packte. »Nimm die Füße … Er hat sein Zimmer nebenan. Wir legen ihn auf sein Bett.«

Seine Schwester nickte ihm stumm zu.

Zehn Minuten später hatten sie den schlafenden Eindringling unbemerkt in sein Zimmer zurückgebracht und auf das Bett gelegt. Jack hatte ihm die Fessel gelöst und ihn dann zusammen mit seiner Schwester schlafend verlassen.

»Der wird sich noch wundern und denken, alles geträumt zu haben«, schmunzelte Jack.

»Hoffen wir es, Bruderherz!«, murmelte sie. »Wir sollten noch alle Anzeichen eines Kampfes beseitigen. Es sei denn, Du hast danach Verlangen, auf dem Präsidium wieder peinlichst befragt zu werden.«

»Womöglich werde ich sogar in Schutzhaft genommen«, meinte Jack. »Ich habe nicht vor, lange hier zu bleiben. Schließlich haben wir nur zwei oder drei Tage für ›Niniveh‹ vorgesehen, ehe wir nach Babylon zurückkehren wollten. Ich werde uns schon zu schützen wissen, Sally.«

Nachdem sie alle Spuren beseitigt hatten, holte er die Kopie der Notiz hervor, die er gefunden hatte.

»Was hast du da?«, wollte seine Schwester wissen.

»Schau es dir an.«

Gemeinsam begannen sie am Sekretär, die arabischen Schriftzeichen zu entziffern. Dabei gratulierten sie sich zu ihrem ›heldenhaften‹ Studium der arabischen Sprache und der verteufelt krausen Schrift.

Als sie am Ende ihrer Übersetzung waren, verdüsterten sich ihre Gesichter.

»Wenn der Professor morgen seinen Ausflug zur ›Sargonsburg‹ macht, wird es ihm das Genick brechen«, sagte Sally erschrocken und Jack las:

›Nach Erledigung Auftrag Jack Hemsworth, sofort neuer Einsatz ›Sargonsburg‹. Punkt Steinerner Löwe, über Wildstier und Abu.‹

»Wir sollten jetzt etwas schlafen, Schwesterherz«, suchte er Sally aufzumuntern. »Morgen werden wir weitersehen. Wir werden uns dort umschauen. Vielleicht entdecken wir den Professor und dann sollen diese komischen Vögel ruhig kommen.«

Er begleitete sie in ihr Zimmer und blieb, bis sie sich hingelegt hatte. Dann huschte er in sein Appartement, kontrollierte noch einmal die Fensterläden und prüfte die Tür. Anschließend warf auch er sich aufs Bett und schlief gleich darauf ein.