Read the book: «Sealed»

Font:

Stephan Kesper

Sealed

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

2035

2042

2050

2058

2060

2062

-17940

2063

2064

Impressum neobooks

2035

Hendriks Blick fiel durch das Fenster hinaus zu den Baumkronen, die sich majestätisch im Wind hin und her wiegten. Das Rauschen der trockenen Zweige, die aneinander rieben, drang deutlich durch den undichten Fensterrahmen. Weiße Wolken jagten über den tiefblauen Himmel und die Sonne schien so hell, dass sie in seinen Augen schmerzte. Die letzten kalten Tage lagen hinter ihnen, der Frühling begann mit endlos scheinender Kraft und würde es bald unmöglich machen, ohne Schutz draußen herumzulaufen.

»Hendrik Prescott!«, die Klassenlehrerin Miss Turner hatte sich vor ihm aufgerichtet und starrte ihn wutentbrannt an. Im Klassenraum herrschte Stille und er spürte die Blicke der anderen Schüler wie Nadelstiche auf der Haut.

»Pass gefälligst auf, sonst kannst du den Nachmittag beim Nachsitzen verbringen.«

Die Highschool wurde ihm immer lästiger. Nichts von dem, was sie ihm erzählten, interessierte ihn. Und das, was ihn interessierte, brachten sie ihm nicht bei. Mathematik stand zwar auf dem Lehrplan der Schule, doch die Themen, die ihn interessierten fehlten dort.

Miss Turner versuchte seit einigen Wochen, am Rande der Verzweiflung, der Klasse die Grundlagen der Differentialrechnung beizubringen. Dabei hatte Hendrik dieses Stadium bereits hinter sich gelassen. Differentialrechnung, Differentialgleichungen, partielle Differentialgleichungen, nichtlineare partielle Differentialgleichungen, elliptische nichtlineare partielle Differentialgleichungen und so weiter. All das hatte auf seinem eigenen Lehrplan des vergangenen Jahres gestanden.

Die Hitzewelle des letzten Sommers hatte er in der Nähe der Klimaanlage der College-Bibliothek verbringen müssen. Die Stadt konnte sich keine eigene Bibliothek leisten, daher durften die Bewohner des Städtchens Lakeview die Bibliothek des Colleges mitbenutzen. Der Deal mit der Hochschule bestand daraus, dass die Stadt sich an den Betriebskosten beteiligte, einen Mitarbeiter stellte und das College kümmerte sich um den Rest. So durften die Schüler dort ihre Bücher ausleihen und sich im Lesesaal aufhalten, solange sie »die Regeln« beachteten. Die Erste und Wichtigste von diesen: leise sein! Die meisten Schüler schafften das nicht, da sie immer in Gruppen in den Lesesaal polterten, sich unterhielten und Unsinn trieben und so auch gleich wieder hinausgeworfen wurden.

Hendrik tauchte immer alleine auf und wurde so zum Liebling des alten Charles Fitch – des von der Stadt gestellten Mitarbeiters – der im Lesesaal für Ruhe und Ordnung sorgen sollte. Mr. Fitch, ein ehemaliger Soldat, zog aufgrund einer Kriegsverletzung aus dem zweiten Irak-Krieg sein rechtes Bein nach. Seine grauen Haare wuchsen dicht und er brauchte zum Lesen eine kleine Brille, die er meistens in der Brusttasche seines Holzfällerhemdes trug.

»Also Hendrik, kannst du mir sagen, was dabei herauskommt, wenn man die Funktion f von x ist gleich x hoch zwei ableitet?«, unterbrach Miss Turner seine Gedanken.

»Ja«, die Frage hielt er für eine Unverschämtheit. Natürlich konnte Miss Turner das nicht wissen, aber Hendrik hatte keinesfalls vor, auch nur ein weiteres Wort darauf zu verschwenden. Sein Blick wandte sich wie von selbst wieder den Baumkronen zu und seine Ohren konzentrierten sich auf das Rauschen des Windes, der mit den nackten Zweigen spielte.

Dann traf Hendrik eine Papierkugel am Hinterkopf. Beim Umdrehen erkannte er bereits die vom Hass verzerrten Gesichter seiner Mitschüler.

»Danke, du Arsch!«, zischte ihm Tommy-Lee zu, der zwei Bänke weiter saß.

»Auch du, Hendrik. Alle Bücher zu, wir schreiben einen Test. Bedankt euch bei eurem Klassenkameraden.«

Er seufzte tief, denn er wusste, was das bedeutete und was in den nächsten Wochen auf ihn zukam. Er konnte den zugeklebten Schulschrank schon vor seinem inneren Auge sehen. Wie seine Turnschuhe sich »zufällig« hoch oben in den Ästen eines Baumes wiederfanden, oder »von selbst« plötzlich über einer Stromleitung hingen. Er wusste, dass er viele platte Fahrradreifen würde aufpumpen müssen. Halt genau die Art von Rache, die seine Mitschüler aus dem Effeff beherrschten.

Er zog ein Blatt Papier aus dem Block, der vor ihm auf dem Pult lag, beantwortete die beleidigend einfachen Fragen in wenigen Minuten und verließ den Raum, lange bevor die Anderen auch nur daran denken konnten. Er legte den Zettel mit den Antworten auf den Tisch von Miss Turner, die ihn vorwurfsvoll ansah und sich gleich an die Korrektur machte. Augenblicke später hüpfte er bereits die Stufen der Treppe des Haupteingangs hinunter, lange bevor seine Klassenkameraden ihn abpassen und einem spontanen, überaus kreativen Racheakt unterziehen konnten. Denn die Mathematik-Stunde beendete den Schultag. Er nutzte die Gelegenheit, schwang sich auf sein Fahrrad und verschwand vom Schulgelände.

Er suchte seinen Lieblingsplatz am See auf, den er genauso einsam wie immer vorfand. Er brauchte diese Abgeschiedenheit, mit den Jungs seines Alters konnte er nicht viel anfangen. Und die Mädchen schienen umgekehrt mit ihm ein Problem zu haben.

Die Sonne glitzerte auf den kleinen Wellen auf dem Wasser des Stausees. Das Gelände gehörte der Stadt. Dort hatten vor Jahrzehnten einige Gebäude gestanden. Sie waren mittlerweile abgerissen worden und nur zwei der Fundamente erinnerten noch daran. Zwischen Bodenplatten und den Rissen wuchsen Gräser und kleine, blau blühende Pflanzen.

Als er sich auf den Beton einer ehemaligen Halle setzte, spürte er die Kälte der Platte durch seine Jeans hindurch. Er zog das Schulmathematik-Heft aus der Tasche (in das er nur das unwichtige Zeug aus der Schule hineinschrieb) und benutzte es als Unterlage für seinen Hintern.

Dann nahm er das »richtige« Heft hervor, sowie ein Buch mit dem Titel »Advanced Calculus«, schlug es auf und begann die Aufgaben am Ende des dritten Kapitels zu bearbeiten, zur Vertiefung des Inhalts.

Nachdem er das vierte Kapitel zur Hälfte durchgearbeitet hatte, sah er auf, blinzelte in das helle Licht und bemerkte, dass die Sonne auf ihn herunter brannte. Er stand auf und zog seine Jacke aus. Als er sich umdrehte, sah er ein Mädchen, das schräg hinter ihm auf einem alten, umgefallenen Baumstamm saß. Er erschrak so, dass er sich beinahe auf den Hintern gesetzt hätte – woraufhin sie so heftig lachen musste, dass sie in Gefahr geriet es ihm gleichzutun.

»Du warst total weg und hast mich gar nicht bemerkt«, das schien sie außerordentlich zu amüsieren.

Hendrik spürte, wie ihm Blut ins Gesicht schoss.

»Was machst du hier?«

Sie setzte eine verdutzte Mine auf: »Brauche ich deine Erlaubnis, um hier zu sein?«

»Nein ... aber sonst kommt nie jemand her. Ich bin immer alleine hier.«

»Und so gefällt es dir?«

»Nicht immer - wenigstens besteht hier keine Gefahr, in einen Schrank gesteckt zu werden.«

Sie lachte wieder.

»Was machst du?«, fragte er mit einem Blick auf den Block, den sie auf ihrem Schoß balancierte.

»Ich zeichne nur etwas - katastrophal. Meine Karriere als Künstlerin ist in diesem Augenblick zu Ende gegangen.«

»Wann hat sie denn angefangen?«

»Vorhin«, Hendrik konnte nicht anders und stimmte in ihr Lachen ein.

Dann nahm er all seinen Mut zusammen und versuchte beiläufig zu klingen: »Es ist ganz schön warm, willst du ein Eis?«, ihm wurde heiß im Gesicht, das hieß, es musste eine puterrote Farbe angenommen haben. Pochend machte sich sein Herz bemerkbar.

»Fragst du mich nach einem Date?«

»Nein«, log er. »Es ist einfach nur warm. Mr. Winback wird mit dem Eiswagen wohl noch nicht vor dem Schwimmbad stehen, also müssen wir zum Supermarkt laufen, hast du Lust?«

»Wer ist Mr. Winback?«

»Er fährt im Sommer immer mit diesem weißen Monstrum von einem Eiswagen durch die Gegend. Meistens, wenn es besonders heiß ist, steht er beim Schwimmbad und verkauft über den Zaun Eis an die Kinder.«

»Hmm, kann sein, dass ich ihn schon einmal gesehen habe.«

Sie stand auf, packte ihren Zeichenblock und die Stifte in ihre Tasche und legte sich den Riemen auf die Schulter. Da sie kein Fahrrad dabei hatte, bot er ihr den Gepäckträger an, doch sie lehnte ab.

»Rachel«, sagte sie plötzlich am Waldrand, wo der Weg nach Lakeview entlang führte.

»Hendrik«, antwortete er.

Sie kamen auf die North-Lake Road und folgten ihr hinunter in das Stadt-Zentrum hinein. Den gesamten Weg musste er sein Fahrrad schieben, aber es machte ihm nichts aus.

Auf der linken Seite tauchte die Lewis & Clark-Mall auf. Sie »Mall« zu nennen grenzte an eine freche Übertreibung. Der Laden bestand lediglich aus vollgestopften zwanzig Quadratmetern Verkaufsraum. Es gab ein mageres Supermarktsortiment, eine Selbstbedienungsmaschine zum Ausdrucken von digitalen Fotos, einen kleinen Tabakshop sowie ein verschlossenes Regal mit Spirituosen. Hendrik schloss sein Fahrrad ab, sie gingen hinein und kauften für Rachel ein Himbeer-Limetten-Popsicle und für ihn ein Ben & Jerry's Chunky Monkey.

Als sie wieder rauskamen, brüllte jemand von hinten: »Prescott, du blödes Arschloch!«. Tommy-Lee stand dort, mit seinen geschätzten 200 Pfund Fleisch und Fett, sowie den zwei Gehilfen Brad und Ted an der Seite, die zu jeder Zeit um ihn herumwieselten.

Tommy-Lee machte einige Schritte auf Hendrik zu und blieb Bauch-an-Bauch vor ihm stehen, ihre Nasen berührten sich beinahe. Dann schrie er mit hochrotem Kopf: »Deinetwegen kann ich jetzt meine Mathe-Note vergessen!« Er riss Hendrik das Chunky-Monkey aus der Hand und wollte es ihm ins Gesicht drücken. Hendrik wäre nicht zur Seite gewichen, wie es jeder halbwegs intelligente Junge getan hätte, denn seine angeborene Sturheit stand ihm dabei im Weg.

In dem Moment, als Tommy-Lee seine Faust samt Ben & Jerry-Spezialität in Hendriks Gesicht versenken wollte, schrie er laut auf, ließ sich rückwärts auf den Boden fallen und hielt wimmernd seine Genitalien fest. Rachel machte einen Schritt vorwärts und sah über ihr Popsicle Brad und Ted an.

»Möchtet Ihr auch noch was abhaben?«, fragte sie die beiden in einem Ton, der Hendrik das Blut in den Adern gefrieren ließ.

Die Handlanger halfen ihrem zu Boden gegangenen Anführer auf die Beine und trugen ihn aus der Kampfarena. Als sie abzogen, drehte sich Rachel fröhlich um, als sei nichts geschehen: »Du brauchst ein neues Eis.«

Es lag auf dem Asphalt. Sie warf es in den Mülleimer und sah Hendrik freudestrahlend an.

Wortlos, erstaunt und stolz, ein solches Mädchen zu kennen, ging er hinein und kaufte eine zweite Portion.

Auf dem Rückweg nahm Rachel das Angebot, auf dem Gepäckträger zu sitzen an, und er bemerkte erfreut, dass sie sich während der Fahrt an ihn lehnte. So dauerte es nur wenige Minuten, bis sie seinen Platz am See wieder erreicht hatten. Sie wählten ein Fleckchen auf der Wiese in der Sonne und sprachen über alles und nichts: Die Schule. Ihre Probleme damit. Ihre Eltern, Musik, Kino und ihre Telefone. Ob der neue Apple-Kommunikator die Übermacht der chinesischen Produkte endlich doch noch brechen konnte, nach dem das iPhone 12 zu einem wirtschaftlichen Debakel geworden war, ob sie studieren wollten und wo. Ob Autos mit Brennstoffzellen einen geringeren ökologischen Fußabdruck hatten, als solche mit Batterien. Den Geschmack von Popcorn. Und vieles mehr.

Nach der ersten Stunde ihres Gesprächs fiel Hendriks Schüchternheit von ihm ab und er redete mit Rachel wie mit seinen ältesten Freunden – er hatte genau drei. Als sich die Sonne hinter den Baumwipfeln auf der anderen Seite des Sees versteckte, begann es kalt zu werden. Ihre Hände und Lippen liefen blau an. Hendrik sprang sofort auf, als er es bemerkte und wollte sie nach Hause bringen. Doch sie sah ihn aus tief-schwarzen Augen an und flüsterte ihm zu: »Ich will aber noch nicht nach Hause.«

In diesem Moment platze ihm beinahe seine Halsschlagader vor Glück, eine Wolke von Adrenalin tanzte durch seinen Kreislauf, machte ihn unempfindlich gegen negative Umwelteinflüsse. Er zog die Jacke aus, und legte sie sanft über Rachels Schultern. Dann setzte er sich neben sie und rieb vorsichtig mit der Hand ihren Rücken, um ihr Wärme zu spenden. Als Reaktion darauf bekam er den ersten Kuss eines Mädchens auf die Lippen, was seinen Adrenalinspiegel weiter in die Höhe trieb und die Jeans zu eng werden ließ.

Rachel redete noch eine Weile, doch Hendrik bekam nicht viel davon mit. Er sah sie wie durch einen rosa Filter an und hörte, wie sie seltsame Laute von sich gab. Irgendwann wurde es Rachel endgültig zu kalt. Sie stand auf und reichte Hendrik seine Jacke.

Da sie sich nicht dem Fahrtwind aussetzen wollte, verweigerte sie erneut den Gepäckträger. Sie gingen den Weg zu ihrem Haus zu Fuß.

Die Manchesters lebten in einem zweistöckigen Holzhaus mit einer großen, überdachten Veranda, die fast um das gesamte Untergeschoss herumführte. Es stand auf einer sanften Erhöhung über der Straße. Die Wände hatten sie in hellem Grau gestrichen, genau wie die Säulen der Veranda. Türen und Fensterrahmen in Weiß. Es machte einen eleganten und teuren Eindruck. In der Einfahrt stand ein schwarzer BMW, aus dem in diesem Moment ein großgewachsener Mann in einem dunklen Anzug ausstieg. Er sah Rachel und winkte ihr zu. Dabei betrachtete er Hendrik freundlich, aber mit den wachsamen Augen des Vaters einer erwachsen werdenden Tochter.

»Ist dein Vater Großindustrieller?«, raunte Hendrik Rachel zu und hob seine Hand zum Gruß.

»Nein«, flüsterte sie zurück, »meine Mutter hat Geld. Er ist Physikprofessor.«

Hendrik fielen spontan dreißig oder mehr Fragen ein, die er Rachels Vater stellen wollte. Aber dann sah er wieder in ihre dunklen Augen und wie von einer Windbö verweht, erreichten sie niemals sein Sprachorgan.

»Hast du Lust, morgen etwas zu unternehmen?«, fragte er.

»Klar«, und ihre Augen strahlten in der beginnenden Dämmerung. »Selbe Zeit, selber Ort?«

»Ich bin da.«

Unter den wachsamen Augen des Elternteils traute sie sich nicht, ihm einen Abschiedskuss zu geben. Aber ihre Augen sagten ihm, dass er einen bekommen hätte, wenn sie alleine gewesen wären. Und das reichte ihm.

Er schwebte wie auf Wolken mit seinem Fahrrad durch die leeren Straßen. Den ganzen Abend über dachte er immer wieder an die magischen Momente dieses Nachmittags. Nach dem Abendessen verschwand er zur Überraschung seiner Eltern früh in seinem Zimmer, schloss leise die Tür ab und widmete sich unter der Decke einer intensiven Aufarbeitung der Geschehnisse.

* * *

Aus irgendeinem Grund hatte Hendrik Rachel vor ihrem ersten Treffen am See nie wahrgenommen. Jetzt leuchtete sie aus der Menge auf dem Schulhof heraus, als wäre sie permanent von einem Suchscheinwerfer bestrahlt. Um Probleme in der Schule bereits im Ansatz zu vermeiden, hatten sie verabredet, sich auf dem Schulgelände aus dem Weg zu gehen. Trafen sie sich dennoch zufällig, warfen sie sich verstohlene Blicke zu und lächelten oder berührten sich unauffällig an den Händen, wenn sie glaubten, nicht beobachtet zu werden.

Am letzten Tag des Schuljahres – einem brütend heißen Tag Mitte Juli – trafen sie sich nachmittags wieder am See. Sie hatten fast drei Monate freie Zeit vor sich. Weder Rachels noch Hendriks Eltern erwarteten von ihnen, dass sie einen Job über den Sommer annahmen. Hendriks Eltern galten nicht als reich im klassischen Sinn, aber die Familie gehörte der oberen Mittelschicht an – einer immer kleiner werdenden Klasse. Im Gegensatz dazu hatten Rachels Eltern viel Geld, aber sie zeigten es nicht. Sie besaßen ein schönes Haus, aber nicht übertrieben. Sie fuhren gute Autos und ernährten sich gesund. Wie reich sie jedoch wirklich waren, blieb ein Geheimnis.

Von daher mussten die beiden nicht ihr Taschengeld aufbessern. Und da sie keine Anschaffungen zu tätigen hatten, freuten sie sich auf einen langen, heißen Sommer, den sie überwiegend miteinander verbringen wollten.

Rachel trug an dem Tag eine enge Jeans, die knapp unterhalb ihrer Knie aufhörte, ein weites T-Shirt und klobige Arbeitsschuhe, die gerade als modern galten. Letztere zog sie aus und stellte sie neben die Decke, auf der sie sich niedergelassen hatten.

Hendrik zog seine Schuhe, Strümpfe, Hose und T-Shirt aus – die Badehose hatte er bereits an – und setze sich neben Rachel. Er spürte, wie die Sonne in den wenigen Minuten, in denen die Decke auf der Wiese lag, bereits den Stoff aufgeheizt hatte.

Rachel sah sich um, ob sie beobachtet wurden. Sie konnte niemanden sehen. Dann zog sie einen roten Fetzen Stoff aus ihrer Tasche, zog unter ihrem T-Shirt ihren B.H. aus, das Bikini-Oberteil an und entledigte sich dann des weiten Shirts. Hendrik beobachtete sie dabei und wie so oft befürchtete er insgeheim, seine Halsschlagader (oder seine Hose) würde platzen. Unter ihrer Jeans trug sie bereits ihre Bikini-Hose. Dann sprangen sie gemeinsam ins Wasser, das ihnen einen kleinen Kälteschock versetzte.

Nach einer Weile kamen sie wieder raus und legten sich ausgekühlt auf die heiße Decke.

»Was sollen wir mit dem Sommer anfangen?«, fragte Rachel irgendwann zusammenhangslos.

»Ich dachte, wir verbringen ihn zusammen?«

»Ja schon, aber das hindert uns doch nicht daran, irgendetwas zu tun. So schön es hier am Wasser ist, könnte es auf die Dauer langweilig werden«, sie schirmte ihre Augen vor der Sonne ab und sah ihn an.

»Was wolltest du schon lange mal machen, hattest aber nie die Zeit oder wolltest es nicht alleine machen?«

Er überlegte: »Ohne Einschränkungen?«

»Okay«, sie wurde neugierig.

»Ich würde unheimlich gerne mal ein Observatorium besuchen. Mauna-Kea zum Beispiel.«

Sie starrte ihn an, als hätte er gerade seinen Kopf abgenommen und aus seinem Hals wäre eine Jack-in-the-box Clownsfigur herausgesprungen. Seine Antwort musste falsch sein!

»Was würdest du gerne tun?«, Hendrik hatte den Eindruck, seine erste, wirklich wichtige Lektion im Umgang mit Frauen gelernt zu haben.

»Ich will nach San Francisco. Oder in irgendeine andere große Stadt. Mir geht dieses Nest auf die Nerven.«

»Und was willst du in der Stadt machen?«

»Alles Mögliche, in coolen Cafés sitzen, shoppen gehen, vielleicht mal in ein Museum.«

Nun war es an Hendrik den Jack-in-the-box-Blick aufzusetzen. Zumindest brachte sie die Unterhaltung zum Lachen und wurde nicht der Grund für einen Streit.

Rachel fischte aus ihrer Tasche zielsicher eine Flasche Sonnencreme heraus und hielt sie ihm hin. Dann nahm sie ihre schulterlangen Haare, drehte sie vom Rücken weg und legte sich auf den Bauch. Er ließ kleine weiße Kleckse auf ihren Rücken fallen und verrieb sie ungeschickt. Rachel öffnete das Oberteil ihres Bikinis, sodass er sie leichter eincremen konnte. Danach wechselten sie. Schließlich blieben beide auf dem Bauch auf der Decke liegen und sprachen von ihrem letzten Schultag.

Irgendwann ließ Rachel die Bombe platzen: Sie erzählte ihm, dass sie sich auf dem Schulhof in ihn verknallt hatte, aber keine Chance gesehen hatte, wie sie sich in der Schule kennenlernen konnten. Also hatte sie ihm bis zum See verfolgt und tauchte dort einige Tage später auf – total »zufällig« natürlich.

Erst gegen acht Uhr zogen sie sich wieder an. Die Sonne hatte noch nicht die Bäume am Ufer gegenüber erreicht. Als Rachel ihre Jeans hochzog, sagte sie plötzlich »Scheiße«, und drückte mit einem Finger auf ihren Unterschenkel, der den Nachmittag über in der Sonne gebraten hatte. Ein weißer Fleck bliebt im Rot zurück, das sie vorher nicht bemerkt hatte.

Sie begutachtete Hendriks Beine, deren Färbung sie an gekochten Hummer erinnerte.

»Das gibt einen Sonnenbrand. Wir hätten uns sorgfältiger eincremen sollen.«

Hendrik brummte zustimmend.

Auf der Rückfahrt schrie sie auf Hendriks Gepäckträger vor Schmerz auf, wenn er über eine Bodenwelle fuhr und ihre Hose am Sonnenbrand rieb. Lachte aber auch gleichzeitig dabei. Sie nannte so etwas immer keinen »richtigen« Schmerz.

Als sie bei Rachels Haus ankamen, stand ihre Mutter in der Einfahrt, lud Einkäufe aus ihrem SUV aus und bekam einen Schreck, beim Anblick ihrer Tochter.

»Seid Ihr wahnsinnig? Wisst Ihr denn nicht, was Ihr damit Eurer Haut antut?«, sie nahm Rachels Kinn in die Hand, drehte es hin und her, um ihr Gesicht zu untersuchen. Dann erst bemerkte sie die starke Rötung an Rachels Beinen und gab einen lang gedehnten, wimmernden Ton von sich.

»Und du bist auch keinen Deut besser«, warf sie Hendrik vor.

»Das ist nicht so schlimm, es ist kein richtiger Sonnenbrand. Es ist nur rot und morgen wird man es kaum noch sehen«, entschuldigte sich Rachel. Ihre Mutter bedachte die Bemerkung nur mit einem kritischen Blick, bei dem sie ihren Mund zu einem waagerechten Strich werden ließ.

»Komm' rein, ich mache gleich Abendessen«, sagte sie dann resignierend. »Willst du mit uns essen?«

Hendrik wusste nicht, was er tun sollte, die Einladung kam überraschend. Er sah zu Rachel herüber, die kurz lächelte. Dann wusste er Bescheid und nickte Mrs. Manchester zu.

Sie drückte beiden jeweils eine braune Papiertüte mit Einkäufen in die Hand. Rachel ging vor und zeigte Hendrik den Weg. Die Wohnzimmereinrichtung zeugte von gutem (teurem) Geschmack. Eine aus zwei dunklen Couchen bestehende Sitzgruppe orientierte sich zu einem breiten Kamin, der mit rötlichem Holz abgesetzt den Raum dominierte. Im hinteren Bereich hatte Rachels Vater eine Arbeitsecke. An einem Whiteboard an der Wand standen diverse mathematischen Berechnungen, die so kompliziert waren, dass Hendrik sie nicht einmal ansatzweise verstand.

Ohne zu fragen, ging er näher heran, um sie sich genauer anzusehen. Im Vorbeigehen bemerkte er, dass unter dem Schreibtisch ein voluminöser Computer stand. So etwas benutzen Leute seit Jahren nicht mehr. Der Rechner musste entweder alt oder sehr leistungsfähig sein, sodass er nicht in die übliche, integrierte Bauweise passte. Er gab ein sehr leises Rauschen von sich. Ein Lüftungssystem, dachte Hendrik.

Dann wanderte sein Blick wieder zum Whiteboard. Er sah Differentialgleichungen, diverse Symbole, die er nicht zuordnen konnte und Integrale. Aber die Integralrechnung hatte er sich erst für nächstes Jahr vorgenommen. Daher wusste er darüber noch nichts.

»Hallo?«, Rachels Stimme riss ihn aus seinem Staunen heraus.

Hendrik wurde rot, »Entschuldige, ich wollte nur mal schauen.«

»Das ist das Zeug, mit dem sich mein Vater beschäftigt – total langweilig, wenn du mich fragst.«

Hendrik schüttelte den Kopf: »Ich wünschte, mein Vater würde sich mit so was beschäftigen.«

Sie gingen in die Küche, wo Rachels Mutter die Einkäufe in die Schränke verteilte. Auch die Küche konnte als innenarchitektonische Meisterleistung durchgehen. Modern und offen, mit weitläufigen Flächen dunklen Holzes, sodass der Landhausstil des restlichen Hauses erhalten blieb.

»Und damit beschäftigt sich meine Mutter«, ätzte Rachel.

»Mit der Küche?«, fragte Hendrik verwirrt.

»Mit vielen verschiedenen Küchen«, erklärte Mrs. Manchester, »Ich verkaufe in meiner Firma hochwertige Kücheneinrichtungen.«

»Zu astronomischen Preisen, in sofern haben sich meine Eltern einander angenähert.«

Sie ignorierte die zynische Bemerkung ihrer Tochter: »Wir beliefern fast die gesamte Westküste mit unseren acht Filialen, von Seattle bis San Diego.«

»Gähn, komm, wir gehen nach oben.«

»Sag' deinen Eltern Bescheid, dass du zum Essen hier bleibst«, rief Rachels Mutter Hendrik hinterher. Er nickte eifrig, machte eine Handbewegung über seiner Uhr, welche die Nummer seiner Mutter wählte. Sie meldete sich und ihr winziges Bild erschien im runden Ziffernblatt.

»Hallo Mom, ich bleibe heute zum Essen bei Rachel, wenn das okay ist?«

»Wenn das ihren Eltern recht ist?«

»Ja, Mrs. Manchester hat mich eingeladen.«

»Dann viel Spaß. Soll ich dich nachher abholen?«

»Nein, schon gut. Ich habe mein Fahrrad dabei.«

Er drückte auf die Uhr und das Bild seiner Mutter wurde wieder durch die Darstellung eines Zifferblattes ersetzt.

Durch das Telefonat hatte er Rachel aus den Augen verloren und stand am Ende der Treppe auf einer Galerie, von der einige Türen abgingen, die alle offen standen.

»Rachel?«

Sie erschien an einem Türrahmen mit einem Handtuch vor ihrem Oberkörper. Er folgte in ihr Zimmer und sah dabei, dass sie kein Oberteil mehr trug. Im Raum herrschte eine fürchterliche Unordnung – ganz im Gegensatz zu seinem eigenen. Er setzte sich auf die Bettkante, einer der wenigen freien Stellen, wo er Platz zum Sitzen fand.

Im Gehen öffnete sie mit einer Hand den Gürtel ihrer Jeans, die über ihren Hintern rutschte und auf dem Boden liegen blieb. Sie drehte sich so, dass sie ihren Rücken in der Spiegel-Tür des Schranks sehen konnte und zog die Bikini-Hose zu einem Streifen zusammen, sodass sie auch ihre Pobacken betrachten konnte. Zwei harte Grenzlinien verliefen quer über ihren schmalen Hintern. Dort wo ihre Bikini-Hose die Sonne abgeschirmt hatte, trennte sie weiße von roter, verbrannter Haut.

»Oh, Mann, ich glaube, wir hätten doch besser aufpassen sollen. Mom wird durchdrehen, wenn es morgen noch rot ist.«

Hendrik glotze auf ihren Hintern und dachte an andere Dinge als Rachels Mutter.

Sie nahm aus dem halboffenen Schrank ein weiches, hellgrünes Sommerkleid an einem Bügel heraus. Dann ließ sie ohne Vorwarnung das Handtuch fallen und Hendrik blickte auf die schönsten Brüste, die er je gesehen hatte. Sein Bauch drehte sich im Kreis, seine Gedanken überschlugen sich und er versuchte, dabei so cool wie nur irgend möglich auszusehen.

Sie warf sich das Kleid über den Kopf und verdeckte die Aussicht. Dann griff sie mit ihren Händen unter das Kleid und zog ihre Bikini-Hose aus, ohne dass Hendrik etwas sehen konnte. Aber er wusste, dass sie fortan nichts unter ihrem Kleid trug.

Schließlich kam sie auf ihn zu, strich ihm über die Wange, drehte sich um und verließ das Zimmer.

»Es ist noch so schön draußen«, rief sie ihm über ihre Schulter zu. Das sollte wohl bedeuten, dass sie nicht im Haus bleiben wollte.

Nachdem sie eine Weile auf der Veranda bei einem kalten Apfelsaft verbracht hatten, bog der schwarze BMW von Rachels Vater lautlos in die Einfahrt ein.

»Jetzt kannst du ihm deine brennenden Fragen stellen«, sagte sie nicht ohne eine gehörige Portion Sarkasmus.

Hendrik wollte in der Tat Fragen stellen, doch dann begriff er, dass er einen guten Zeitpunkt dafür abpassen sollte. Und es konnte keine gute Sache sein, mehr Gesprächsthemen mit dem Vater seiner Freundin gemein zu haben als mit ihr selbst. Die zweite Lektion, die er lernte.

Mr. Manchester kam die Treppen zur Veranda herauf und stutzte kurz bei Hendriks Anblick.

»Ich glaube, wir kennen uns noch nicht«, sagte er freundlich und kam auf Hendrik zu. Er stand auf und reichte Rachels Vater die Hand.

»Nein, Sir. Ich bin Hendrik Prescott. Rachel und ich besuchen dieselbe Highschool.«

»Wohnst du in der Nähe?«

»Ja, in der Cedar Road, gleich um die Ecke.«

Manchester nickte, strich im Vorbeigehen seiner Tochter über den Kopf und ging hinein. Hendrik fühlte sich unbehaglich.

»Habt Ihr ein Problem miteinander?«

Rachel schüttelte nur wortlos den Kopf. Das Gespräch kam nicht mehr in Gang, bis ihre Mutter kurz den Kopf aus der Tür steckte und ihnen sagte, dass das Essen fertig sei.

Als er zur Tür hereinkam, bemerkte er, dass im Haus eine Klimaanlage lief. Das Wohnzimmer war angenehm herunter gekühlt und nicht mehr so stickig, wie am Anfang, als sie die Tüten hereingetragen hatten.

Hendrik merkte, wie sein vom Schweiß leicht feuchtes T-Shirt blitzartig kalt wurde und er erschauerte etwas.

»Mom!«, rief Rachel, »Warum hast du es wieder so kalt gemacht? Wir brauchen doch nur die Fenster aufzumachen!«, das blieb allerdings ohne Reaktion. Hendrik bemerkte auf Rachels Armen Gänsehaut.

Sie setzten sich gemeinsam an den Esstisch. Hendrik bemerkte erfreut, dass sie kein Gebet sprachen.

»Gib mir deinen Teller, Hendrik«, sagte Mrs. Manchester und hielt ihre Hand in seine Richtung. Er gab ihn ihr und sie häufte gedünstetes Gemüse, einen Getreide-Bratling und ein paar Kartoffeln auf den Teller. Hendrik wollte protestieren, dass es zu viel sei - zu spät.

»Wir essen vegetarisch. Daran musst du dich gewöhnen, solltest du öfters herkommen«, sagte sie, als sie ihm den Teller zurückreichte. Rachel verdrehte die Augen.

Sie begannen wortlos zu essen. Dann plötzlich durchbrach Mr. Manchester die Stille: »Hat jemand mitbekommen, dass in Nordkorea ein Putsch stattgefunden hat? Kim-Jong-Un wurde getötet und ein großer Teil seiner Leibgarde. Die Chinesen sind nicht gerade begeistert.«

Keine Reaktion von Rachel oder ihrer Mutter – Hendrik begann, sich unwohl zu fühlen.

Rachels Vater schnaubte laut durch seine Nase, dann wandte er sich an Hendrik: »Hendrik, was möchtest du einmal werden?«

»Ich möchte Physik studieren. Ich interessiere mich sehr für Astrophysik.«

Manchester hob die Augenbrauen und deutete mit der Hand auf ihn und sah triumphierend seine Frau an.

Als niemand mehr ein Wort sagte, ergriff Hendrik die Initiative: »Sie haben da ein paar ziemlich komplizierte Gleichungen an Ihrem Whiteboard. Worum geht es da?«

Manchester lächelte, dann überlegte er kurz: »Weißt du, wo die Kometen herkommen?«

»Aus der Oortschen Wolke?«

»Genau. Weißt du auch, wie die Oortsche Wolke geformt ist?«

»Mehr oder weniger kugelförmig?«

»Kann man so durchgehen lassen. Bei einer Kugelform ist es wahrscheinlich, dass die Objekte der Wolke sich in einer Umlaufbahn um die Sonne befinden. Sehr langsam zwar, aber trotzdem sind sie gravitativ an die Sonne gebunden. Trotzdem gibt es aber immer wieder Ausreißer. Und die häufen sich sogar. Etwa alle 26 bis 30 Millionen Jahre gibt es eine Häufung von Meteoriteneinschlägen auf der Erde, die statistisch mit diversen Massensterben in der erdgeschichtlichen Urzeit korrelieren. Natürlich gibt es zu wenig Daten, um verlässliche Aussagen zu treffen, aber es gibt Hinweise. Und aus Hinweisen erwachsen Theorien.«

$8.81