Postkoloniale Theologien

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2.3 „Schwarz bin ich und schön.“ (Hld 1,5Hld 1,5 ). Rassistische Traditionen

Bei dem Bibelvers, der in der Überschrift zitiert wird, steckt der Teufel im Detail: Maricel Mena LópezMena López, Maricel, Claudia Pilar de la Callede la Calle, Claudia Pilar und Loida Sardiñas IglesiasSardiñas Iglesias, Loida weisen auf die Problematik hin, die mit der Übersetzung eines kleinen Wörtchens verbunden ist1: Was genau bedeutet „und“? In der Vergangenheit wurde dieses Wort häufig adversativ übersetzt. Auch die Einheitsübersetzung 2016 schreibt hier „Schwarz bin ich, doch schön“, versteht also beide Adjektive im Gegensatz zueinander, während die Lutherübersetzung 2017 an derselben Stelle formuliert: „Ich bin schwarz und gar lieblich“. Im Hebräischen Text steht ein waf, heißt es also „und“.

Die drei Autorinnen verweisen auf den Kommentar der Jerusalemer Bibel (brasilianische Ausgabe von 1998), für den „eine sonnenverbrannte Frau, die Weinberge hütet, nichts anderes als eine Sklavin sein kann, anders als Frauen mit heller Haut“2, und sie zitieren aus dem Kommentar:

„Die alten arabischen Dichter setzen die helle Haut der Mädchen von guter Abstammung (hier die Töchter Jerusalems) den Sklaven und Sklavinnen entgegen, die Arbeit im Freien verrichteten.“3

Hier wird das brasilianisch-koloniale Verhältnis von weißen SklavenbesitzerInnen und schwarzen SklavInnen in die Zeit des Hoheliedes zurückprojiziert. Im Bibeltext ist nicht davon die Rede, dass die Töchter Jerusalems und die Sprecherin zu verschiedenen sozialen Klassen gehören oder dass erstere eine hellere Hautfarbe haben. Diese Rassistische Interpretation des Hoheliedesrassistische Interpretation des Anfangs des Hoheliedes hat allerdings schon eine lange Tradition. Die drei Theologinnen zitieren daher auch den Kirchenvater OrigenesOrigenes, der diese Stelle aufgreift:

„Schwarz durch die Schmach der Rasse, aber schön durch Buße und Glauben; Schwarz durch Sünde, aber schön durch Buße und die Früchte der Buße (…) Sie, die schwarz ist, ist weder von Natur aus noch vom Schöpfer so geschaffen, sondern hat diese Situation versehentlich erlitten.“4

OrigenesOrigenes vergleicht die schöne schwarze Frau mit der Seele, die durch die Sünde schwarz geworden sei, aber durch das Zurückweisen der Schwärze zum Licht aufsteigen könne. ‚Schwarz‘ gilt ihm also als negativ und von Gott entfernt, ‚weiß‘ als erlöst und von der Sünde befreit. Dass es tatsächlich Menschen gibt, deren dunklere Hautfarbe „vom Schöpfer so geschaffen“ ist, scheint ihm nicht in den Sinn gekommen zu sein.

In dieser Metaphorik steckt ein tiefer Rassismus, der sich in der Hartnäckigkeit der adversativen Übersetzung des Verses zeigt und damit Schwarze Mädchen und Frauen einer positiven Identifikationsmöglichkeit mit sich selbst, ihrer Hautfarbe, „ihrer Erotik, Sinnlichkeit und Schönheit“5 beraubt. Die Übersetzung und Wirkungsgeschichte von Hld 1,5Hld 1,5 ist nur ein Beispiel für den Rassismus, der christliche Theologien prägt, seit sie in Europa Fuß gefasst und sich europäisch entwickelt haben.

In den postkolonialen Studien wird der europäische Rassismus als eine der prägendsten Grundstrukturen des Kolonialismus und der postkolonialen Verhältnisse angesehen. Für Aníbal QuijanoQuijano, Aníbal stellt die heutige globalisierte Welt „die Vervollkommnung eines Prozesses dar, der mit der Gründung Amerikas und des kolonial/modernen und eurozentrischen Kapitalismus begann“6, wobei er hier mit „Amerika“ die Erfindung einer für die EuropäerInnen neuen Welt westlich Europas bezeichnet. Der Rassismus ist in diesem Prozess „eine der fundamentalen Achsen“7, die auf einer Teilung der Menschheit gemäß der „phänotypischen Differenzen zwischen Siegern und Besiegten“8 beruhe. Gemäß QuijanoQuijano, Aníbal ist der Rassismus

„die soziale Klassifikation der Weltbevölkerung gemäß der Idee der ‚Rasse‘, eine mentale Konstruktion, die die Grunderfahrung der kolonialen Herrschaft zum Ausdruck bringt, und die seither die wichtigsten Dimensionen der weltweiten Macht durchdringt.“9

Diese soziale Klassifikation setzt sich bis in die Gegenwart fort, da auch im globalisierten Kapitalismus „eine Systematische rassistische Arbeitsteilungsystematische rassistische Arbeitsteilung“ herrsche, in der „jede Weise der Arbeitskontrolle mit einer bestimmten ‚Rasse‘ verbunden“ ist10.

Auch Achille MbembeMbembe, Achille verbindet die Eroberung Amerikas, den Sklavenhandel, den europäischen Rassismus und die Entstehung der Moderne zu einer Einheit, die ihre Konsequenzen bis in die Gegenwart nach sich zieht:

„In mehrfacher Hinsicht ist unsere Welt, auch wenn sie das nicht zugeben möchte, bis heute eine ‚Welt der Rassen‘ geblieben. Der Rassensignifikant ist immer noch die unumgängliche, wenngleich gelegentlich bestrittene Sprache der Darstellung des Selbst und der Welt, des Verhältnisses zum Anderen, zum Gedächtnis und zur Macht. Die Kritik der Moderne wird unabgeschlossen bleiben, solange wir nicht verstanden haben, dass ihre Entstehung mit dem Erscheinen des Rassenprinzips und der langsamen Umwandlung dieses Prinzips in die privilegierte Matrix der Herrschaftstechniken zusammenfällt.“11

In der kolonialen Missionsgeschichte wurde diese rassistische Deutung der Welt aufgegriffen und durchzog die missionarische Praxis. Richard HölzlHölzl, Richard zeigt in einer missionsgeschichtlichen Untersuchung, wie deutsche AfrikamissionarInnen in verschiedenen Epochen des deutschen Kolonialismus zwar unterschiedlichen Gebrauch von rassistischen Vorurteilen machten, jedoch nie frei vom Rassismus waren12.

Ein wesentliches Element spielte dabei über die Jahrhunderte hinweg eine Rassistische Interpretation der Noah-Geschichterassistische Interpretation der Noah-Geschichte: Weil Noah nach Gen 9,20-27Gen 9,20-27 seinen Enkel Kanaan (und mit diesem seinen Sohn Ham) verflucht und in Gen 10,6Gen 10,6 Ham zum Stammvater einiger afrikanischer Völker erklärt wird, argumentierten viele Theologen seit dem 16. Jahrhundert, dass der Fluch Noahs die Menschen Afrikas insgesamt getroffen habe.13

HölzlHölzl, Richard zitiert einen Reisebericht des Spiritaner-Superiors Anton HornerHorner, Anton (1827–1880), der – aus heutiger Sicht – drastische Rassismen enthält:

„Unter den fünf Welttheilen ist ohne Widerrede Afrika der unglücklichste und verlassenste. […] Von Cham, Noe’s zweitem Sohne bevölkert, liegt jener Welttheil noch heute unter dem schweren Druck des Vaterfluches.“14 „Die schwarze Farbe der Nachkommen Chanaan’s bezeugt noch, daß ihre Rasse schon im Anfang vom Zorn des Himmels getroffen worden.“15

Durch die Mission und die erhoffte Taufe lassen sich nach Ansicht dieser Missionare die fatalen Folgen des biblischen Fluchs ‚erlösen‘, jedoch nicht die angenommene und behauptete Minderwertigkeit der Menschen Schwarzer Hautfarbe beseitigen.

Späteren AkteurInnen attestiert HölzlHölzl, Richard zwar eine vorurteilsfreiere Annäherung durch ethnografische Untersuchungen. Der Rassismus nahm aber dann andere Formen an, indem beispielsweise Einzelbeobachtungen unter bestimmten afrikanischen Völkern generalisiert, essentialisiert und „aus der sozialen Interaktion von Beobachter und Beobachtetem gelöst und als zeitlose Andersartigkeit konstruiert“16 wurden.

Auch scheinbar positive und wohlwollende Beschreibungen können dabei eine rassistische Schieflage beinhalten. HölzlHölzl, Richard zitiert den Reisebericht des Missionsbenediktiners Alfons AdamsAdams, Alfons von 1899:

„Wenn ich bei Gelegenheit die Wahehe mit ihrem kühnen Gesichtsausdruck und ihren kräftigen Gestalten in fröhlicher Unterhaltung beim Feuer am Boden hockend oder auf der Kuhhaut liegend einen Krug Bier nach dem andern vertilgen sah, mußte ich unwillkürlich an unsere Heldenvorfahren, die Germanen, denken, die den zivilisierten Römern schon allein durch ihren gewaltigen Durst imponierten.“17

Der Verweigerung der ZeitgenossenschaftVergleich mit den Germanen ist hier zwar schmeichelhaft gemeint, reproduziert jedoch nicht nur ein klassisches ↗ Othering, sondern verweigert durch die Parallelisierung mit ‚unseren Vorfahren‘ die Gleichwertigkeit durch Zeitgenossenschaft. Diese Praxis wird in der kritischen Ethnografie als „denial of coevalness“18, also Verweigerung der Zeitgenossenschaft, gekennzeichnet.

In einer späteren Epoche identifiziert HölzlHölzl, Richard bei den MissionarInnen einen selbstkritischeren und verdeckten „Rassismus hinter vorgehaltener Hand“19 nach einem Konzept von Homi BhabhaBhabha, Homi, in dem die Abwertung afrikanischer Menschen nicht mehr offen ausgesprochen oder gar theologisch begründet wurde, sondern „mit den Mitteln des Unausgesprochenen, der Ironie und der Beiläufigkeit“20 so in den Diskurs eingebracht wurde, dass Vorurteile und Stereotypen nicht mehr explizit benannt werden mussten, sondern als bekannt vorausgesetzt und so indirekt abgerufen werden konnten. Äußerst aufschlussreich für diesen Aspekt sind die Analysen einiger Fotografien aus missionarisch-kolonialen Kontexten des 20. Jahrhunderts, mittels derer HölzlHölzl, Richard die in den Bildkompositionen erkennbaren rassistischen Beziehungen und Vorstellungen aufdeckt21.

Der Begriff des Rassismus ist in der Gegenwart einigen Erweiterungen und Präzisierungen unterworfen. Fabian LehrLehr, Fabian, deutsch-österreichischer Marxist, macht in einer kritischen Analyse etwa darauf aufmerksam, dass gerade in Europa Rassismus sich nicht nur im Verhalten Schwarzen Menschen gegenüber äußert22.

Dies ist eine wichtige Ergänzung zu den antirassistischen Überlegungen im Postkolonialismus, da diese sich häufig an den Beziehungen zwischen Menschen aus Europa und aus Afrika und den anderen Kolonialstaaten orientieren sowie Menschen gegenüber, die durch den internationalen SklavInnenhandel in andere Regionen und Kulturkreise entführt wurden. Lehr zeigt hingegen, dass daneben ein kulturell tief verwurzelter Rassismus in den westeuropäischen Staaten besteht, der sich gegen Menschen aus Osteuropa richtet, und der seine Ursprünge mindestens bereits im Mittelalter habe. Rassistische Vorurteile gegenüber Menschen aus dem ehemaligen ‚Ostblock‘ (auch dieser Begriff enthält eine essentialistische Veranderung) weist er bis in die Gegenwart nach.

 

Gleichgültig, ob man mit Lehr diese Erweiterung der Rassismuskonzeption vornehmen möchte, verweist sie doch darauf, dass eine einseitige Festlegung des Rassismusbegriffs auf Beziehungen zwischen Menschen bestimmter Hautfarbe ebenfalls essentialisierende Züge annimmt und in der Gefahr ist, selbst rassistische Positionen zu besetzen. Antirassistische Analysen aus postkolonialen Studien und Theologien können insofern auch die Beziehungen zwischen anderen Menschen, die essentialistisch verschiedenen sozialen Gruppen zugeordnet wurden, erhellen. Sie machen an ihrer Wurzel häufig auf das Problem der Konstruktionen europäischer Überlegenheit aufmerksam.

2.4 Konstruktionen europäischer Überlegenheit

Die Erfindung der Anderen und die ↗ Essentialisierung ihrer Identitäten standen im Zeitalter des europäischen Kolonialismus häufig im Dienst der Konstruktion europäischer Überlegenheitsansprüche in zahlreichen kulturellen Bereichen. Gerade auch europäische Wissenschaften und Rationalität galten als überlegen im Vergleich zu denjenigen außereuropäischer Kulturen1.

Ein solcher Überlegenheitsanspruch lässt sich auch heute noch identifizieren. Inzwischen wird er selten in einem geografischen Sinn auf Europa bezogen. Jedoch gelten in einem kulturellen und historischen Sinn auch heute noch europäische Denktraditionen, von der Antike über die Renaissance und die Aufklärung bis in die Postmoderne als universal wegweisend. Häufig wird dieses europäische Denken immer noch für weiter fortgeschritten, rationaler, kritischer und effizienter als die Denktraditionen anderer geografisch-kultureller Räume gehalten.

Es tritt zudem mit dem Anspruch der Universalität auf. Die genannten europäischen Denktraditionen werden nicht mehr als europäisch im Sinn einer regionalen kulturellen Prägung, sondern als universell, der Menschheit gehörig und der Realität angemessen eingestuft2. Ihre europäische Herkunft wird dabei – in einem historischen Sinn – oft nicht geleugnet, dient aber nicht ihrer kulturellen Kontextualisierung, sondern in einem Zirkelschluss als Ausweis der europäischen Überlegenheit, da diese scheinbar universale Rationalität eben ihre historischen Wurzeln in Europa besitze.

Als Beispiel für einen solchen Zirkelschluss führt der aus Deutschland stammende und in den USA lehrende Theologe → Jörg RiegerRieger, Jörg eine Überlegung von Friedrich SchleiermacherSchleiermacher, Friedrich an, der die politische Überlegenheit der Europäer in den Kolonien als Beleg für die bessere Entwicklung ihrer Kultur und für die Richtigkeit ihrer Religion wertete: Angesichts der gewaltigen Überlegenheit der christlichen NationenÜberlegenheit der christlichen Nationen in Hinblick auf Zivilisation und Macht benötigten die zeitgenössischen Missionare nach Auffassung von SchleiermacherSchleiermacher, Friedrich keine weitere Legitimation durch mirakulöse Zeichen3.

Auch in der Theologie zeigt sich dieses europäische Überlegenheitsdenken4. Die kulturelle Kontextualisierung des Christentums im griechisch‐römischen Denken, die bereits zur Zeit der Abfassung des Neuen Testaments beginnt, wird zur Basis einer universalen Theologie erklärt, aus der sich die Theologien anderer Kulturkreise nähren sollen. Die Herkunft des Christentums aus einer nichteuropäischen Kultur wird dabei geflissentlich unterschlagen; seine jüdischen Wurzeln zum letztlich verzichtbaren „Partikularismus“5 erklärt. Europäische Theologien werden auf diese Weise zum Maßstab der Theologie überhaupt. Edward SchillebeeckxSchillebeeckx, Edward vermerkt daher auch kritisch: „Früher nahm man an, daß die Theologie der Kirchen des Westens selbstverständlich überregional, universal gültig und für jeden Menschen – unabhängig aus welcher Kultur er stammt – sofort zugänglich sei“.6

Theologische Aufbrüche auf anderen Kontinenten können auf diese Weise immer mit dem Verweis auf den universellen Anspruch der europäischen Theologie abgewehrt werden. Diese Tendenz lässt sich sogar in der frühen Rezeption der Theologie der Befreiung durch die Neue Politische Theologie nachweisen, in der die Abhängigkeit der ersteren von der letzteren unterstellt wurde7.

Paulo SuessSuess, Paulo kritisiert den Universalanspruch der europäischen Theologie als eine Verfälschung des Christentums8. Für Suess steht dieser Universalismus in einem engen Zusammenhang mit dem Anspruch des europäischen Denkens, Wissenschaft im Singular zu repräsentieren und damit alternative oder konkurrierende Formen des Wissens abzuwerten oder auszuschließen:

„Der Universalismus überlässt das erste und das letzte Wort der Wissenschaft, die er als universal ansieht, weil sie keinem kontextuellen Einfluss unterliegt. Deshalb ist das lokal verankerte Wissen aufgrund seiner regionalen Reichweite auf einer niedrigeren Stufe anzusiedeln und von einem Dialog mit der Wissenschaft ausgeschlossen. Der wissenschaftliche Universalismus wurde ebenso wie der Rassismus und das Patriarchat zu einem Herrschaftsinstrument. Im Bereich der Theologie taucht diese Frage in Gestalt des Streits zwischen universaler Theologie und lokalen Theologien […] auf“9.

Die europäische Theologie kann aber nicht beanspruchen, eine ‚universale‘ Theologie zu sein, sondern ist selbst eine lokale, kontextuelle Theologie, die im unmittelbaren Austausch mit ihren lokalen Kontexten und deren epistemischem Horizont steht. Die Dekonstruktion dieses europäischen Universalanspruchs ist ein wichtiges Thema des indischen Historikers Dipesh ChakrabartyChakrabarty, Dipesh, Provinzialisierungder von der Notwendigkeit spricht, Europa zu ↗ „provinzialisieren“10, also dem Kontinent den regionalen (und intern pluralen) Charakter zurückzugeben, der ihm tatsächlich eigen ist, und so den universellen Anspruch als den Versuch zu enttarnen, das globale Denken zu hegemonisieren.

Der deutsche Fundamentaltheologe Elmar KlingerKlinger, Elmar nimmt diese Herausforderung der Provinzialisierung an, wenn er schreibt:

„Die europäische Theologie ist es nicht gewohnt, der europäischen Theologie den Titel europäisch zu geben. […] Der Titel ‚europäisch‘ für sie muß in den Ohren eines europäischen Theologen daher wie eine Herausforderung klingen, und er ist es auch. Denn er ist nach Meinung jener Theologen, die ihn für sie verwenden, ein Titel, mit dem sie als einem bestimmten Kulturkreis zugehörig und in ihrem Blickwinkel eingeengt bezeichnet wird.“11

Konstruktionen europäischer Überlegenheit und der Anspruch auf die universelle Bedeutung des Eigenen finden sich auch versteckt in der Geschichte der europäischen Theologie. Häufig üben sie dadurch bis heute ihren Einfluss aus, ohne dass dies unmittelbar zu erkennen ist.

Überlegenheitsdenken historisch-kritischer BibelwissenschaftSimon WiesgicklWiesgickl, Simon etwa macht am Beispiel der Entwicklung der historisch-kritischen Methode in der deutschsprachigen Bibelwissenschaft sichtbar, welche vielfältigen Wechselwirkungen zwischen dem europäischen Überlegenheitsdenken, dem Kolonialismus des 18./19. Jahrhunderts und der Entstehung einer bis in die Gegenwart äußerst einflussreichen exegetischen Methode bestand12. Denn die kritische Analyse der Kontexte, in denen biblische Erzählungen situiert oder redigiert wurden, bediente sich häufig der orientalistischen Konstruktionen kolonialer Reisebeschreibungen.

WiesgicklWiesgickl, Simon macht sich Edward SaidSaid, Edwards Kritik dieser europäischen Vorstellungen vom Orient zu eigen. So arbeitet er heraus, dass Bibelwissenschaftler, die zu den Gründern der historischen Kritik zählen, sich religiöse, politische und wirtschaftliche Kontexte für biblische Texte vorstellen, die zwar mehr oder weniger denselben geografischen Raum, jedoch völlig andere historische und kulturelle Epochen betreffen. Zudem beschreibt Wiesgickl die bei den Wissenschaftlern des 18./19. Jahrhunderts anzutreffende Vorstellung einer abgestuften Entwicklung der Menschheit, wonach sowohl die biblischen Kontexte wie die Unterworfenen der zeitgenössischen Kolonien sich in einer Art „Kindheitsalter der Menschheit“13 befänden, während Europa bereits im Erwachsenenalter angekommen sei.

Besonders drastisch wirkt dieses europäische Überlegenheitsdenken in der von WiesgicklWiesgickl, Simon dokumentierten Vorstellung historisch-kritischer Bibelwissenschaftler, die in der Umstellung, Kürzung oder Korrektur biblischer Überlieferungen einen Beitrag zur Verbesserung des Bibeltextes zu leisten meinten:

„Die biblischen Bücher galten den Wissenschaftlern als ein Hort unsortierter, nicht nach Gattung, Echtheit und Charakter unterschiedenes Sammelsurium an Texten, in die nun deutsche Alttestamentler Ordnung zu bringen hätten.“14

Denn „deutsche Wissenschaft“, so belegt WiesgicklWiesgickl, Simon mit Dokumenten aus der Zeit, „verstehe ihr Gegenüber besser als dieses selbst zu vergegenwärtigen vermag“15. Dass dies ausgerechnet der deutschen Literaturwissenschaft und Theologie besser als anderen europäischen Wissenschaften möglich sein solle, ist kein Zufall und wurde in der untersuchten Zeit mit nationalistischen und chauvinistischen Argumenten untermauert. Wiesgickl deckt dabei auch Wechselwirkungen von Antijudaismus und Bibelwissenschaft auf, insofern eine hohe und zugleich chauvinistische Wertschätzung der alttestamentlichen Texte mit einer radikalen Abwertung und Ablehnung des zeitgenössischen jüdischen Zugangs zu den eigenen heiligen Texten einhergehen konnte16.

Die von WiesgicklWiesgickl, Simon kritisierte europäische Idee der Entwicklung der Menschheit wird vom brasilianischen Theologen Alfredo J. GonçalvesGonçalves, Alfredo mit HegelsHegel, Georg Wilhelm Friedrich Lehre vom Weltgeist in Verbindung gebracht: Die Menschheit würde nach dieser Vorstellung „in jeder Etappe ihrer Geschichte immer zivilisierter, das heißt, fortschrittlicher und moderner werden“17. Dies würde dann selbstverständlich unter der Führung Europas geschehen, so dass die anderen Teile der Welt sich immer in einer Etappe ihrer Entwicklung befinden würden, die einer früheren Geschichtsepoche Europas entsprechen würde. Sie hinken also gewissermaßen immer und uneinholbar den europäischen Entwicklungen hinterher.

→ KwokKwok, Pui-lan Pui-lan zeigt, dass dieses Fortschrittsdenken auch Konsequenzen in den europäischen Religionswissenschaften nach sich zog. Nichtchristliche Religionen wurden als noch nicht so hoch entwickelte Formen der Religion betrachtet, sozusagen als Vorstufen zum Christentum. Kolonisierung und Mission würden dann der Weiterentwicklung und Modernisierung dieser Religionen dienen. So könnten sie ein ähnlich hoch entwickeltes Stadium wie das Christentum erreichen. In der protestantischen Religionswissenschaft gilt noch zur Zeit der Missionskonferenz von Edinburgh 1910 das Christentum als Erfüllung aller ReligionenChristentum als die Erfüllung aller Religionen18.

Aber auch in der Gegenwart lassen sich ähnliche Vorstellungen von einem Christentum, das einfach weiter fortgeschritten sei als andere Religionen oder von einem europäischen Christentum, dem gegenüber die Kirchen anderer Kontinente weniger entwickelt seien, nachweisen. KwokKwok, Pui-lan nennt für den protestantischen Bereich den Einfluss von Karl BarthBarth, Karl, dessen Trennung von Glaube und Religion wiederum neu zu einer Abwertung der nichtchristlichen Religionen geführt habe19.

Die kolumbianische Bibelwissenschaftlerin Maricel Mena LópezMena López, Maricel dekonstruiert auf geschickte Weise die Hegemonie weißer, europäischer Stereotypen in der Bibelwissenschaft: Sie untersucht die afrikanischen und asiatischen Wurzeln der biblischen Texte20. Denn die Bibel ist kein europäisches Buch, auch wenn sie in Lateinamerika mit diesem Anspruch aufgetreten ist. Sie ist auch nicht „zu 100 % semitisch“21, wie Mena LópezMena López, Maricel unterstreicht, sondern entstand in einem jahrhundertelangen Dialog mit Völkern, Religionen und Kulturen einer breiten geografischen Region, die sich über Asien, Europa und Afrika erstreckt. Die Bibel steht daher über Ägypten und Kusch hinaus mit Afrika in vielfältiger und unmittelbarer Verbindung und kann so auch mit heutigen afroamerikanischen Kulturen in Lateinamerika in Beziehung gesetzt werden, ohne dafür den Umweg über die europäischen Eroberer nehmen zu müssen.