Von Vaskút nach Görlitz

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Von Vaskút nach Görlitz
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Stefan Raile

Von Vaskút nach Görlitz

oder Sehnsucht nach Schneewittchen

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Inhaltsverzeichnis

Titel

ERSTER TEIL: DAS DORF IN DER EBENE VASKÚT

ZWISCHENSPIEL: DAS LAGER IN DEN BERGEN, PIRNA

ZWEITER TEIL: DIE STADT AM FLUSS, GÖRLITZ

Impressum neobooks

ERSTER TEIL: DAS DORF IN DER EBENE VASKÚT

Obwohl die Ereignisse weit zurückliegen, kann ich mich daran erinnern, als wäre alles vor kurzem geschehen. Wenn ich die Augen schließe, erblicke ich das am Rande der Puszta gelegene Dorf Vaskút mit seinen schlichten, sauberen Häusern, rieche den betörenden Duft der Akazienblüten, schmecke das köstliche Aroma der Aprikosen, Pfirsiche, Maulbeeren, höre die schweren Fuhrwerke rumpeln, spüre den feinen Staub, den ihre Räder aus den zerfahrenen Wegen wirbeln, auf meinen Lippen.

Unser Haus stand in der Gróf-Széchenyi-utca. Das hintere, noch mit Reet gedeckte Gebäude beherbergte neben Kelterraum, Weinkammer und Sommerküche eine geräumige Stellmacherwerkstatt. Doch sie wurde schon lange nicht mehr genutzt, Vater befand sich seit Jahren im Krieg, es war Anfang August 1943.

Wir hatten eine Kuh, zwei Schweine, etliche Enten und drei Dutzend Hühner. Um die Tiere kümmerte sich Mutter, und mehrmals in der Woche half sie Nachbarn auf deren Feldern, um einige Pengö zu verdienen.

Großmutter blieben Küche und Garten. Sie pflanzte Melonen, Paprika, Tomaten, Gurken, Mohrrüben und vielerlei Gewürze an. Besonders aber hegte sie die in drei Längsreihen angeordneten Rebstöcke. Ihre schillernden Trauben reiften ungewöhnlich früh und brachten uns Jahr für Jahr einen schönen Erlös.

Während des Sommers begab sich Großmutter zweimal wöchentlich in die sieben Kilometer entfernte Kreisstadt Baja, um Obst und Gemüse auf dem Markt feilzubieten. Mit dem ersten Hahnenschrei verließ sie unser Haus und trug die Erzeugnisse den gesamten Weg in einem runden, aus Weidenruten geflochtenen, Korb auf dem Kopf. Es ging ihr weniger darum, das Geld für die Eisenbahn zu sparen. Vor allem wollte sie, um rasch und günstig verkaufen zu können, eher da sein als die Bäuerinnen, die mit dem Zug fuhren.

Meist brachte sie mir eine Kleinigkeit aus der Stadt mit: etwas Schokolade, ein paar Kekse, ein Spielzeug. Die Geschenke ließen mich meinen Wunsch nicht vergessen, sondern verstärkten ihn noch. Seit Wochen bettelte ich darum, Großmutter bei einem ihrer Marktgänge begleiten zu dürfen. Doch sie hatte mich wieder und wieder vertröstet.

Eines Nachmittags hockte sie sich auf die Stufe vor der Sommerküche und bedeutete mir, neben ihr Platz zu nehmen.

„Morgen ist wieder Markt“, sagte sie. „Möchtest du noch mit?“

„Natürlich“, erwiderte ich sofort.

„Es ist aber sehr weit.“

„Ich weiß.“

„Du müsstest die ganze Strecke laufen.“

„Macht nichts.“

„Und du würdest wirklich durchhalten?“

„Ganz bestimmt!“

Eine Weile blickte sie mich aus ihren blaugrauen Augen an. Dann stimmte sie zu und schlug vor, dass wir gleich die Weintrauben ernten könnten. Sie schnitt die prächtigsten Früchte ab und legte sie vorsichtig in den runden Korb, den ich Stück um Stück nachrückte.

Als wir fast fertig waren, trat der alte Klock, unser linker Nachbar, an den Lattenzaun. „Soll’s wieder auf den Markt gehen?“, fragte er in seinem leicht schleppenden Tonfall. „Wenn ihr wollt, nehme ich euch mit, Nachbarin. Ich fahr morgen zu meiner Tochter.“

„Wann?“, wollte Großmutter wissen.

„Zeitig genug, dass ihr alles verkaufen könnt“, entgegnete er.

In diesen Augenblicken glaubte ich an doppeltes Glück. Ich hoffte nicht nur, mitgenommen zu werden, sondern sogar auf dem Kutschbock sitzen zu dürfen.

Doch Großmutter lehnte ab, weil es ihr zu unsicher erschien. Wahrscheinlich fürchtete sie, dass die Fahrt ausfallen könnte, da Klock seinen Sinn schon manchmal über Nacht geändert hatte.

Er habe es nur gut gemeint, beteuerte er und fügte dann mit bedenklicher Miene hinzu: „Man hört, dass im Alten Forst wieder Zigeuner sein sollen.“

Großmutter schien zu erschrecken, weil die Zigeuner überall, wo sie auftauchten, Unruhe auslösten. Dabei waren sie in unsrer Gegend längst nicht so schlimm wie ihr Ruf. Seit sich durch den Krieg immer seltener Gelegenheitsarbeiten für sie ergaben, mussten sie ihre Familien von Waldfrüchten und Kräutern, durch Wilderei und Diebstahl ernähren. Sie hausten in armseligen Hütten. Bessere zu errichten hielten sie für sinnlos, weil sie täglich damit rechneten, dass Gendarmen kämen, um sie zu vertreiben. Die Tatsache, dass sie wiederholt schuldlos angefeindet wurden, erbitterte sie, vermehrte ihre Not und trieb sie zu verzweifelten Handlungen.

Da ich damals nichts von diesen Zusammenhängen wusste, fürchtete auch ich mich vor ihnen und wünschte mir, dass sich Großmutter umstimmen ließ. Doch ich wusste, dass sie ihre Entscheidung selten änderte. Hinzu kam, dass sie Klock nicht sonderlich mochte, da er ihr zu geschwätzig erschien.

„Sie werden uns schon nichts tun“, sagte sie dann auch zu meinem Bedauern.

Am liebsten wäre ich ihr ins Wort gefallen, unterdrückte mein Verlangen aber, weil ich fürchtete, sie könnte mich für bequem und ängstlich halten.

Der alte Klock hob die Schultern und wandte sich ab. Großmutter erntete noch einige Trauben und trug den vollen Korb in unsren kühlen Kelterraum.

Bald danach kehrte Mutter heim. Sie hatte Lackner, der uns gegenüber wohnte, auf dem Feld geholfen. Als sie erfuhr, dass ich in die Stadt mitgenommen werden sollte, war sie zunächst dagegen. Erst durch mein Bitten und Großmutters Versprechen, mich nicht aus den Augen zu verlieren, wurde sie umgestimmt. Ein wenig ließ sie sich vielleicht auch davon leiten, dass sie einen weiteren Tag mit Lackner und seiner Frau zur Getreideernte fahren konnte.

Vor Aufregung schlief ich spät ein, und gegen Morgen begann ich zu träumen: Ich ging mit Großmutter durch einen Wald. Plötzlich versperrten uns Zigeuner den Weg. Sie hatten lange, pechschwarze Haare, blickten finster und kamen drohend auf uns zu. Einer zog sein Messer. Die Klinge war auf mich gerichtet. Ich wollte zurückweichen, konnte mich aber nicht rühren.

Ein Händedruck an der Schulter weckte mich, und ich hörte Großmutters gedämpfte Stimme. „Es ist so weit, Jani“, sagte sie.

Benommen erhob ich mich, trank schlaftrunken meine Milch, aß ein Marmeladebrot und schlüpfte in die bereitgelegte Jacke. Großmutter zog ihren weiten Rock an, in dessen Falten sie mehrere Taschen genäht hatte.

Draußen war es noch dunkel. Obwohl Großmutter den schweren Korb auf dem Kopf trug, schritt sie rasch aus. Schon nach einer Weile bekam ich Mühe, ihr zu folgen, und ich stellte mir vor, wie schön es wäre, neben dem alten Klock auf dem Kutschbock zu sitzen.

Während wir uns dem Forst näherten, kam es mir vor, als ob Großmutter noch schneller würde. Wollte sie rasch an dem Waldstück vorbei, weil auch ihr nicht ganz geheuer war?

Besorgt schaute ich mich um. Doch auf dem Abschnitt, den ich im Dämmer überblicken konnte, war kein Mensch zu entdecken. Es schien, als wären wir weit und breit allein auf der schnurgeraden Landstraße.

Die sechs Gestalten tauchten so unerhofft vor uns auf, dass wir erschrocken stehen blieben. Meine Furcht ließ erst ein wenig nach, als Großmutter meine Hand ergriff. Der eine Zigeuner kam näher. Er war barfuß, zerlumpt und noch jung wie die andren. Barsch forderte er Großmutter auf, ihnen den Korb zu geben.

Sie stellte ihre Last langsam ab, als müsste sie überlegen, ob sie den Befehl befolgen sollte. Während sie sich aufrichtete, langte sie blitzschnell in eine Rockfalte, zog eine kurzstielige Peitsche hervor und ließ sie mit einem wuchtigen Hieb schnalzen.

„Spitzbuben!“, schrie sie dabei, „Taugenichtse! Redliche Christenmenschen auf offener Straße überfallen. Euch werd ich’s zeigen!“

Ihre Peitsche knallte erneut, und der Zigeuner, der uns am nächsten stand, wich zurück. Die Übrigen schwärmten auseinander und begannen, uns einzukreisen.

Es sind zu viele, dachte ich. Sie werden uns überwältigen!

Indessen fuchtelte Großmutter weiter mit der Peitsche und hielt die Zigeuner auf Abstand. Doch wie lange noch?

Als von links zwei auf uns zusprangen, vernahmen wir hinter uns ein Rumpeln, das sich rasch verstärkte. Es wurde durch schrille Schreie übertönt. Sollten sie die Pferde antreiben oder unsre Gegner einschüchtern?

Die Zigeuner stutzten. Augenblicke wirkten sie unschlüssig. Dann erklang ein Zuruf, und sie verschwanden im Wald.

„Brr!“

Als die Rappen vor uns gezügelt wurden, rissen sie wiehernd die Köpfe hoch. Auf dem Kutschbock erkannte ich den alten Klock. „Sapperlot“, rief er. „Das war verdammt knapp!“

Gleich darauf forderte er uns zur Eile auf, weil die Zigeuner zurückkommen könnten.

Großmutter wuchtete ihren Korb hoch und erkletterte nach mir den Kutschbock.

„Die Unruhe hat mich rausgetrieben, als ich euer Tor zufallen hörte“, sagte Klock, sobald wir fuhren. „Wahrscheinlich bin ich grade noch zurecht gekommen.“

 

Er schwatzte fast pausenlos, während Großmutter einsilbig blieb. Es passte ihr wohl nicht, dass ausgerechnet er uns geholfen hatte und überall damit prahlen würde. Ich aber genoss es, fahren zu dürfen, wie ich es mir gewünscht hatte.

Ohne weiteren Zwischenfall erreichten wir die Stadt. Gegen vier kehre er zurück, meinte der alte Klock am Markt. Wenn wir wollten, könnten wir am Stadtrand auf ihn warten.

Großmutter sagte weder zu noch ab. Zielstrebig trug sie den Korb zu einem freien Platz. Unsre Weintrauben ließen sich leicht verkaufen. Ehe Großmutter ihren Preis nannte, wog sie die Früchte auf der Hand. Die meisten Kunden zahlten, ohne zu feilschen.

Danach verzehrten wir unsre Brote, tranken an einem Ausschank Sodawasser und bewegten uns im Gedränge weiter. Neben Obst und Gemüse wurden Geschirr, Gartengeräte, Werkzeug, Bekleidung, lebendes Geflügel, Honig, Schuhe, Stiefel, Blumen und Süßigkeiten angeboten.

Fast am Marktende angelangt, trat Großmutter an einen Stand, vor dem sich mehrere Leute anstellten. Als sie zurückkam, ließ sie etwas in einer ihrer Rocktaschen verschwinden. Ich vermutete, dass sie Mutter mit einem Geschenk überraschen wollte.

In der angrenzenden Geschäftsstraße, wo ich die Auslagen bestaunte, kaufte mir Großmutter ein Eis. Wir setzten uns auf eine Bank, wo ich es ungestört essen konnte. Die Sonne stand ein Stück über den Häusern und sengte bereits.

„Am besten, wir gehen zurück, ehe es noch heißer wird“, sagte Großmutter. Sie kenne einen Weg, wo viel Schatten sei. Erst hinter dem Alten Forst würden wir die Landstraße erreichen.

Ich fragte mich, warum sie so drängte. Hoffte sie, um diese Zeit auf keine Zigeuner zu stoßen? Wollte sie gar deshalb die andre Strecke benutzen?

Der schmale, von hohen Buchen gesäumte Weg war wirklich schattig. Nur der pulvrige Boden, der unter unsren Sohlen verrutschte, erschwerte das Gehen. Ich war so erregt, dass ich es kaum bemerkte, und vor dem Forst beschlich mich erneut Furcht. Was würde, wenn doch irgendwo Zigeuner lauerten?

Als sie in einer Kurve vor uns standen, glaubte ich zuerst, dass ich mich täuschte. Aber Großmutter hielt mich jäh zurück, ließ den leeren Korb fallen und stieß mit dem Fuß so heftig in den Wegstaub, dass eine dicke Wolke auf die Zigeuner zuwehte. Gleichzeitig langte sie in ihre Rocktasche und warf mehrmals etwas nach vorn. Es krachte, als ob Schüsse fielen. Danach sprangen aus Großmutters Hand zahllose Funken und sprühten den Zigeunern entgegen. Durch das feurige Geriesel sah ich, dass sie zurückwichen.

Im nächsten Augenblick fühlte ich mich von Großmutter mitgezogen. Hinter der ersten Wegbiegung drängte sie mich in ein Holundergebüsch. Atemlos kauerte ich neben ihr unter den dichten Zweigen und lauschte beklommen. Durch Großmutters Geistesgegenwart, die auf dem Markt für Silvester gekauften Feuerwerkskörper zu benutzen, hatten wir einen Vorsprung ge­wonnen. Doch warum versteckten wir uns? Wäre es nicht besser gewesen weiterzulaufen?

Da näherten sich bereits rasche Schritte, und ich dachte: Was wird, wenn sie uns entdecken?

Aber sie hasteten weiter, und die Geräusche wurden rasch schwächer. Großmutter schob mich aus dem Unterschlupf. Hand in Hand eilten wir zurück. An der Stelle, wo uns die Zigeuner aufgelauert hatten, hoben wir den leer zurückgelassenen Korb auf, verließen den Weg und benutzten einen Feldrain. Dicht stehende Maisstauden verbargen uns.

Wieder fragte ich mich, wohin Großmutter wollte. Entfernten wir uns nicht immer mehr vom Dorf?

Plötzlich entdeckte ich ein Pferd, das an eine Akazie gebunden war. Nähergekommen, erkannte ich Lackners Fuchsstute und begriff, warum wir hierher geflohen waren.

Der Bauer mähte Weizen, seine Frau und Mutter bündelten die Halme zu Garben. Erst als wir sie erreichten, fühlte ich mich in Sicherheit.

In den nächsten Wochen erlebte ich nichts Außergewöhnliches, und auch Großmutter blieb auf dem Marktweg unbehelligt. Trotzdem nahm sie mich, um mich keiner neuen Gefahr auszusetzen, zunächst nicht wieder in die Stadt mit.

Vormittags besuchte ich den Kindergarten, nachmittags spielte ich mit meinen Freunden Jakob, Feri und Christian, baute mit Edit, der Tochter unsrer rechten Nachbarn, in ihrem großen Sandkasten märchenhafte Burgen, beschäftigte mich mit unsrem braun-weißen Mischlingshund Betyár, sammelte die frisch gelegten Hühnereier ein, half Großmutter im Garten, Obst und Gemüse zu ernten, beobachtete, wie sich die Schwalben auf den Elektrodrähten scharten und in Schwärmen südwärts flogen.

„Ob sie über Vater hinwegfliegen?“, fragte ich Mutter.

„Schon möglich“, entgegnete sie.

„Ist er weit weg?“

„Ziemlich weit.“

„Und wann darf er uns wieder besuchen?“

„Vielleicht schon bald.“

Doch es dauerte bis zu jenem Abend, als der erste starke Schnee fiel. Durch die geöffnete Tür, vor der Vater Augenblicke stehen blieb, stoben dicke Flocken in unsre Winterküche. In seinem feuchten Soldatenmantel, der ihm schwer auf den Schultern lastete, erkannte ich ihn erst, sobald er die Mütze abnahm und mich ansprach. Trotzdem erschien er mir, solange er die Uniform trug, weiterhin fremd.

Da es die ganze Nacht schneite, mussten wir morgens auf der Straße und im Hof mühsam Gassen in die hohe, wattige, blütenweiße Schicht schaufeln. Ich half, bis meine Finger klamm wurden. Während ich sie über dem schon heißen Sparherd wärmte, begannen mir die Nägel zu bitzeln. Erst beim Frühstück hörte der Schmerz auf. Wir löffelten noch dampfende Einbrennsuppe. Im Brotkörbchen lagen frisch geschnittene Laibscheiben. Daneben stand ein Teller mit Schinken, Speck und Salami. An dem, was wir selbst zu erwirtschaften vermochten, kannten wir – anders als die meisten Stadtbewohner, bei denen die Lebensmittel bereits zunehmend knapper wurden – zu diesem Zeitpunkt noch keinen Mangel.

Wir waren hungrig, weil bereits anstrengende Tätigkeiten hinter uns lagen: Mutter hatte Rosi gemolken, unsre Schweine gefüttert und das Frühstück bereitet, Großmutter Feuer entfacht und mit mir Schnee geschippt, Vater seit dem Morgengrauen in der Werkstatt gearbeitet.

Der alte Klock, der beinah alles mitbekam, was sich ringsum abspielte, war, noch ehe ich mich richtig an unsren Besucher gewöhnen konnte, bei uns erschienen, um den Bau eines Wagenrads zu erbitten, und Vater hatte bereitwillig zugesagt. Mir blieb unklar, ob er Klock bloß nicht enttäuschen wollte oder ihn ebenso der Verdienst reizte, da er sicher von Mutter wusste, wie sehr wachsende Steuern und Verbindlichkeiten, die es seit dem Neubau des Vorderhauses zu erfüllen galt, das Ersparte geschmälert hatten.

Bestimmt wäre es besser für ihn gewesen, sich in den wenigen Urlaubstagen auszuruhen. Er sah blass aus, hatte ein eingefallenes Gesicht mit müden, entzündeten Augen, die in tiefen Höhlen lagen, und sein schütter gewordenes Haar begann an den Schläfen schon zu ergrauen. Vor mir erzählte er nichts über den Krieg, doch ich merkte auch so, wie sehr ihn das, was er an der Front erlebte, zu belasten schien.

Um ihn zu erfreuen, half ich Großmutter, Strudel zu backen, den Vater so sehr wie ich mochte. Während ich Mohn mahlte, walkte sie den Teig. Als er nicht mehr an ihren Fingern haftete, formte sie ihn zu einem Laib, der geraume Zeit mit einem Tuch abgedeckt wurde.

Ohne die kleinste Pause einzulegen, bereitete sie aus Quark, Apfelstücken, Weichselkirschen, Nüssen, Rosinen, Zucker und dem locker gewordenen Mohn die sämigen Füllungen vor. Bis heute frage ich mich, woher sie die Ausdauer nahm. Sie war damals fast sechzig und von kleiner, beinah zierlicher Gestalt. Doch in ihrem schmächtigen Körper steckte eine erstaunliche Kraft, die sich auch zeigte, wenn sie mich, sobald ich auf dem Weg in den Weingarten ermüdete, größere Strecken huckepack trug.

Sie hantierte weiter ohne ein deutliches Zeichen der Erschöpfung. Nur ihr Atem ging etwas schneller, und auf der Stirn glänzte ein wenig Schweiß, den ich bemerkte, wenn sie zur Wanduhr mit den zylindrischen Ganggewichten blickte, als wollte sie sich vergewissern, ob sie alles schnell genug schaffte.

Spannend wurde es, während sie den Teig auf der bemehlten Tischdecke mit einem Nudelholz ausrollte und dann, indem sie darunter langte, nach allen Seiten zu ziehen begann, bis er ganz dünn wurde. Diese Tätigkeit, die beachtliches Geschick erforderte, verrichtete sie lange stumm. Erst wenn die Fließpapier ähnliche Teighaut irgendwo einriss, nahm sie ihre Stimme zu Hilfe.

„Willst nicht, wie ich will, du Pitanka!“, schimpfte sie, und ihr Tonfall verriet, wie sehr sie sich ärgerte, dass ihr ein Fehler unterlaufen war.

Das Wort Pitanka benutzte sie immer wieder. Wahrscheinlich half es ihr, nachdrücklich hervorgestoßen, unerwarteten Verdruss leichter zu überwinden.

Da sie nicht gut genug Ungarisch konnte, hatte sie wohl keine Ahnung, was der Begriff eigentlich bedeutete; denn gottesfürchtig, wie sie war, hätte sie nicht auf herkömmliche Art zu fluchen gewagt. Auch mir blieb der Ausdruck seinerzeit unklar, und ich zähle ihn zu jener erst später erfassten Merkwürdigkeit, dass in einem mehrsprachigen Gebiet zuweilen Wörter übernommen und für den eigenen Bedarf abgewandelt werden, ohne sich der Herkunft und des Sinns bewusst zu sein. Inzwischen weiß ich, dass Pitanka von dem ungarischen „bitang“ abgeleitet ist, was übersetzt Schurke heißt und entgegen Großmutters Annahme, ihre Stimmung durch lautere Mittel auszugleichen, strenggenommen doch eine Art Fluch darstellte. Vielleicht ahnte sie aber auch, dass manche ihrer Worte, die sie in aufgebrachtem Zustand benutzte, lästerlich sein könnten. Das würde erklären, dass sie, um mögliche Vergehen vorsorglich zu sühnen, häufiger als üblich zu ihrem Rosenkranz griff.

Wir rollten den Teig, auf dem die Füllung gleichmäßig ausgebreitet worden war, mit Hilfe der Tischdecke, die wir stückweise anhoben, vorsichtig zusammen, verteilten das lange, schlauchförmige Gebilde, mehrfach gewunden, in zwei hochwandige Bleche und trugen sie über den vom Schnee verwehten Säulengang zur Sommerküche.

Mutter hatte längst den Backofen angeheizt, was auch Vater zugutekam, da die heiße Rückwand, die halbrund in die Werkstatt ragte, reichlich Wärme abstrahlte.

Weil die Küche etwas eng war, setzte ich mich, um nicht hinderlich zu sein, auf meinen Lieblingsplatz – die sechste Stufe der Bodentreppe, von wo ich alles, was geschah, ungestört beobachten konnte.

In einer Ecke rekelte sich unsre schwarz-weiße Katze Schneewittchen. Sie wirkte satt und träge, weil sie wahrscheinlich ein Stück vom Geflügelfleisch bekommen hatte, das frisch zerlegt in einer Schüssel lag, die auf dem Tisch stand. Ich ahnte, dass Satan, unser prächtigster Hahn, den Mutter schon länger für die Bratpfanne bestimmt hatte, geschlachtet worden war, weil er immer öfter wie ein gereizter Puter auf Besucher losging, ihnen auf die Schulter flatterte und sie mit seinen mächtigen Schwingen traktierte. Obwohl er auch mich bereits angefallen hatte, trauerte ich um ihn.

Als Mutter es bemerkte, gab sie mir einige Pengö und schickte mich, damit ich abgelenkt würde, ins Geschäft, um Essig, Pfeffer und Salz zu kaufen.

Den Mantelkragen hochgeschlagen und meine Wollmütze tief ins Gesicht gezogen, weil die trockene Kälte heftig zwickte, überlegte ich vor der Haustür, wohin ich mich wenden sollte. Ich konnte zwischen zwei Läden wählen, die etwa gleich weit entfernt waren. Wie gewöhnlich entschloss ich mich, zu Armin zu gehen, obwohl ihn damals bereits viele mieden. Wenn gesagt wurde, es geschehe, weil er Jude sei, verstand ich die Begründung so wenig wie das Verhalten. Der Händler hatte keinem etwas getan, bediente weiter jeden freundlich, ohne unterwürfig zu sein, und steckte mir, wenn ich ins Geschäft kam, so freigebig wie früher einige Bonbons zu.

Verändert hatte sich lediglich sein Aussehen. Er war mager geworden und blickte, sobald er sich unbeobachtet fühlte, verstört aus umschatteten, glanzlosen Augen. Dadurch wirkte er um Jahre gealtert, und selbst seine Glatze, die von einem kurz geschnittenen, schwarzen Haarkranz begrenzt wurde, schien sich unaufhaltsam zu vergrößern.

Es hatte aufgehört zu schneien, und überall war eine schmale Gasse freigeschaufelt, so dass ich mühelos vorankam. Selbst jetzt, da die hohe, glitzernde Schneeschicht dem Auge keine Abwechslung bot, fand ich unsre Straße am schönsten. Sie war so breit, dass sich neben den Häuserzeilen außer Gehsteigen noch jeweils zwei Baumreihen erstreckten, woran sich Fahrwege anschlossen, die ein schmaler, in der Mitte verlaufender Wassergraben voneinander trennte. Hier sollten, falls die Überlieferung stimmte, die ersten Häuser mit reetgedeckten Dächern und gestampften Lehmfußböden entstanden sein. Es hieß, dass unsre Vorfahren, durch Maria Theresia ins Land gerufen, 1742 nach einem abenteuerlichen Zug vom südlichen Schwarzwald in die abgeschiedene Gegend östlich der Donau gelangt waren und beschlossen hatten, inmitten der Wildnis zu siedeln. Ob damals die Türkenhügel südlich des Dorfes wirklich schon standen, vielleicht gar durch ihre Auffälligkeit die Ortgründung bestimmten, wage ich nicht zu behaupten. Sie bildeten weit und breit die einzige Erhebung in dem sonst ebenen Gebiet. Man er­zählte, dass sie durch Freischärler, die Erde in ihren Mützen herbeitrugen, vor einem Gefecht gegen die türkischen Eindringlinge als Wall aufgehäuft worden seien.

 

Für sicher halte ich dagegen, dass der Landstrich vor Ankunft der ersten Einwanderer nahezu menschenleer war. Oft von Hunger und Durst geplagt, nicht selten durch wilde Tiere bedroht, nie sicher vor Überfällen durch heimtückische Räuber, von früh bis spät zu härtester Arbeit gezwungen, muss der Beginn den Ankömmlingen die letzten Kräfte abverlangt haben. Die Ersten ereilt der Tod, die Zweiten leiden Not, die Dritten erst haben Brot, sagt ein Siedlerspruch, der damals entstanden sein könnte.

Mühsal, Fleiß, Entschlusskraft, Ausdauer und Findigkeit bewirkten, dass im Lauf der Jahre aus der Öde ein schmuckes, beinah städtisch anmutendes Dorf wuchs, dessen Bevölkerung sich stetig vermehrte. Während meiner Kindheit lebten über fünftausend Menschen dort. Neben Deutschen, die in der Überzahl waren, gehörten Ungarn, Serben, Bunjewatzen, Slowaken und Juden zu den Bewohnern. Die schnurgerade angelegten Straßen schnitten sich rechtwinklig. Im Volksmund hatten sie unverwechselbare Namen, die wahrscheinlich bis in die Gründerzeit zurückreichten. Sie verwiesen nicht nur auf örtliche Gegebenheiten, sondern spiegelten auch das Bestreben nach einfacher, treffender Aussage wider. Etliche Bezeichnungen sind mir im Gedächtnis geblieben: Großgasse, Kleingasse, Erdhasengasse, Spatzengasse, Sandreihe, Kirchreihe, Storchenschnabel.

Die gemischte Bevölkerung soll lange einträchtig gelebt haben. Größere Spannungen waren wegen ungarischer Machenschaften im Ersten Weltkrieg entstanden. Nach seinem Ende hatten sie sich durch Vergehen serbischer Besatzungstruppen gesteigert. Noch schlimmere Zwietracht aber entwickelte sich, seit der Volksbund bestand, und seine Mitglieder immer lauter riefen, dass sie heim ins Reich wollten. Sie schmähten die übrigen Einwohner, ächteten sämtliche Juden und schürten ständig neue Feindseligkeiten.

Armin, der stets bestrebt gewesen war, mit allen einvernehmlich zu leben, schien der Wandel äußerst zu bekümmern. Als ich seinen Laden betrat, in dem mich eine verwirrende Vielfalt von Gerüchen empfing, stapelte er, da es außer mir niemand zu bedienen gab, Waren in ein Regal. Überrascht drehte er sich um, trat ans Verkaufspult, zeigte auf drei große, mit Bonbons gefüllte Gläser und fragte: „Süß, scharf oder sauer?“

„Süß“, sagte ich und beobachtete, wie er ins mittlere Glas langte, zwei eingepackte Bonbons herausnahm und mir reichte. Erst dann erkundigte er sich nach meinem Begehr, holte das Gewünschte, packte es in meinen Korb, gab mir das Wechselgeld und bestellte Grüße an Mutter. Ich sah, dass ihm der graue Kittel um den Körper schlotterte, und seine Arme schlaff he­rabhingen.

Wieder im Freien, trieb mich die Kälte heimwärts. Als ich fast unser Haustor erreicht hatte, wurde es von innen geöffnet. Eine junge Zigeunerin, die ein durch zwei Tücher gehaltenes Kleinkind auf dem Rücken trug, trat heraus. Ihre bloßen, durch den Frost stark geröteten Füße steckten in Holzpantinen. Ich war sicher, dass sich in ihrem Beutel auch von uns Lebensmittel befanden; denn wir schickten trotz des Zwischenfalls auf dem Marktweg niemand, der bedürftig zu uns kam, mit leeren Händen fort.

Ich schob mich an der armselig gekleideten Frau mit dem langen, blauschwarzen Haar vorbei. Kaum im Hof, hörte ich ein knarrendes, schleifendes Geräusch. Gleich darauf bemerkte ich, dass Mutter in dem nach vorn offenen Schuppen, der an die Werkstatt gebaut war, das große, verquollene Schwungrad drehte, damit Vater die Radnabe drechseln konnte. Es war eine sehr schwere Tätigkeit, die sich von einer Frau kaum bewältigen ließ. Ganz mit seinem Werkstück beschäftigt, schien Vater gar nicht wahrzunehmen, dass Mutter bereits heftig keuchte. Vielleicht hielt er es aber auch für normal, weil seine Arbeit ihn oft härter forderte. Noch heute bewundere ich, wie er, nur mit seiner Muskelkraft, einfachen Geräten und hilfreichen Kniffen ausgestattet, so gediegene Erzeugnisse herstellen konnte.

Schon damals beeindruckte es mich, wenn er im Freien mehrere Meter lange Hartholzstämme mit der Faustsäge durchtrennte, um Balken, Bohlen oder Bretter zu gewinnen. Dagegen nahm sich die Arbeit in der Werkstatt, wo er Felgen, Speichen, Deichseln und andre Wagenteile fertigte, beinah leicht aus.

Er hatte den Beruf bei einem entfernten Verwandten erlernt, und ich glaube, an die Lehre, die ihm, einem Zwölfjährigen – die Volksschule endete seinerzeit nach der sechsten Klasse – anfangs alles abverlangte, erinnerte er sich lieber als an seine Kindheit, die vom frühen Tod des Vaters überschattet worden war. Nicht minder litt er wohl unter der Niedergeschlagenheit seiner Mutter, die nur schwer verwand, dass sie sich als Tagelöhnerin verdingen musste, um den Sohn und die zwei Jahre ältere Schwester durchzubringen.

Er bemühte sich, mir die Zuneigung zu schenken, die ihm versagt geblieben war, konnte aber nicht verhindern, dass er mitunter bereits wegen kleinster Vergehen wütend wurde und mich unangemessen hart bestrafte.

Während ich ihm bei der Arbeit zusah, brauchte ich freilich nichts zu befürchten, weil er sich an der Hobelbank, wo ihm die schwierigsten Werkstücke gelangen, vollkommen ausgeglichen fühlte. Trotzdem vermochte er selbst hier nicht immer zu vergessen, was ihm als Kind widerfahren war, und wenn ihm seine Tätigkeit genug Atem ließ, sang er manchmal jenes traurige Lied, das ich mir gemerkt habe:

Die Sonne sank im Westen

In Bosnien in der Schlacht,

Und mitten unter den Toten

Lag sterbend ein Soldat.

Dabei dachte er an seinen Vater, der ihm nur schwach in Erinnerung geblieben sein konnte, weil der schmächtige blonde Mann mit dem dünnen Schnurrbart, den ich von Fotos kannte, bei einem Sturmangriff auf serbische Truppen bereits in der fünften Kriegswoche gefallen war.

Die Bilder, die ich oft betrachtete, belebten meine Vorstellungskraft so sehr, dass es mir manchmal schien, als ob ich ihn gekannt hätte und früher an seiner Hand durchs Dorf gegangen wäre. Noch stärker redete ich es mir bei meinem andren Großvater ein, da ich über ihn aus Großmutters Erzählungen wesentlich mehr wusste. Es geschah, dass ich ihn mit mir spielen, Schnee kehren und die Hühner füttern sah, und mitunter meinte ich sogar, er hantiere an der Hobelbank, die seit seinem Tod – er starb ein Jahr vor meiner Geburt an einer rätselhaften Krankheit – ungenutzt an der Seitenwand stand.

Ich war Vater, sobald er die Nabe gedrechselt hatte, in die Werkstatt gefolgt. Dort setzte ich mich auf die warme Ofenbank und schaute ihm zu. Er arbeitete, ohne aufzublicken, um das Rad rasch fertig zu stellen. Trotzdem kam er gleich mit, als Mutter uns zum Mittagessen rief.

Derweil wir Hühnersuppe, gekochtes Rindfleisch mit Weichselsoße, Geflügelpaprikasch, Pfirsichkompott und von dem besonders gelungenen Strudel aßen, fühlte ich mich wohl wie lange nicht, rückte alles Unangenehme weg, dachte keiner daran, dass Vater bald wieder an die Front musste.

Die gute Stimmung hielt auch nachher an. Großmutter setzte sich ans Spinnrad, Mutter stopfte Strümpfe, ich malte einen Weihnachtsmann, der einen großen Sack auf seinem Rücken trug, und Vater arbeitete weiter am Wagenrad.

Als er gegen Abend, gut gelaunt durch das bewältigte Tagewerk, zu uns kam, erzählte er mir Märchen. Er konnte es nicht so gut wie Großmutter, und ich spürte, dass es ihm, durch die lange Abwesenheit aus der Übung gekommen, Mühe bereitete. Trotzdem waren es für mich seit langem die schönsten Geschichten. Nachher lag ich wie früher zwischen meinen Eltern in den Betten, fühlte mich von zwei Seiten beschützt und schlief, durch die zahlreichen Eindrücke ermüdet, rasch ein.