Sturm über Lich - 2022

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From the series: Zeitreise-Roman Band #9
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Sturm über Lich - 2022
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Stefan Koenig

Sturm über Lich - 2022

Fantastischer Zeitreise-Roman

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Utopia

Das völlig unnötige Vorwort

Der, die, das. Wer, wie, was?

Wer nicht fragt, bleibt dumm.

Schicksalstage

Ein Schneemann im Sommer

Dem Tod ins Auge schauen

Die Flut

Die Villa und der Fremde

Kurz vor Weihnachten

Lamor

Als das Unglück begann

Im Rathaus

Der Sturm und der Mord

Das Protokoll & zwei Tote mehr

Im »Sonnenschein«-Kinderland

Zappelnde Beine & eine Spritze

War es Zufall?

Postskriptum

Zu guter Letzt

Dank

Statt eines Nachwortes:

eine kleine Werbepause …

Wieso, weshalb, warum?

Teil 1

Teil 2

Es folgt nun

Impressum neobooks

Utopia

Stefan Koenig

Sturm über Lich

2022

Eine fantastische

Roman-Zeitreise

Ergänzungsband zu

Freie Republik Lich - 2023

© 2021 by Stefan Koenig

Mail-Kontakt zumAutor:

juergen.bodelle@t-online.de

Die Geschichte zählt,

nicht der Erzähler.

Stellt euch einmal uns‘re Welt vor

Ohne Krieg, ohne Gewalt

Ohne Bosse, ohne Herrscher

Jeder ist dem Ander‘n Halt

Ohne Ehrgeiz, ungehetzt

Alle leben nur im Jetzt

Ohne Himmel, ohne Hölle

Einfach nur im Jetzt und Hier

Diese Welt gehört uns allen

Ohne Grundbesitz und Gier

Stell dir vor wir leben sie

Diese schöne Utopie

Nennt mich gerne einen Spinner

Der nicht passt in uns‘re Zeit

Doch ihr lebt in einem Albtraum

Mein Traum ist die Wirklichkeit

Eine Welt ganz ohne Grenzen

Und statt Wettbewerb und Neid

Teilen wir endlich gleichberechtigt

Uns‘re Freude, unser Leid

Wäre diese Welt nicht hier

Wüssten wir doch nichts von ihr

Nein, der Mensch ist nicht so schlecht

Wie‘s die Herrschenden gern hätten

Es ist unser aller Recht

Uns vor diesem Trug zu retten

Und wir wollen, dass uns‘re Welt

Sich nicht an deren Regeln hält

Nennt mich gerne einen Spinner

Der nicht passt in uns‘re Zeit

Doch ihr lebt in einem Albtraum

Mein Traum ist die Wirklichkeit

Nennt es weltfremd, nennt es Wahnsinn

Doch ich träume nicht allein

Ist denn nicht allein die Liebe

Grund und Sinn von allem Sein?

(Konstantin Wecker)

___________

Noch immer widme ich das Buch

all jenen Licher Bürgern,

die sich nicht damit abfinden können,

dass über ihre Interessen hinweg

entschieden wurde.

Und natürlich widme ich es meinen treuen

Leserinnen und Lesern, immer in der Hoffnung,

dass sie noch gut schlafen können.

Das völlig unnötige Vorwort

Ich glaube zu wissen, dass auch Sie Vorworte nicht mögen. Vielleicht hassen Sie sie nicht, denn – Sie erinnern sich gewiss der Worte von Arnold Aurora – nur wer nicht geliebt wird, hasst. Nur wer nicht geliebt wird!

Aber Sie … Sie mögen es einfach nicht. Sie mögen nicht das Palaver vor der schönen Geschichte. Nicht mögen und hassen – das sind wirklich zwei völlig verschiedene Zustände. Und dennoch: Wer garantiert Ihnen hier überhaupt eine „schöne Geschichte“?

Eine Bitte vorab: Lassen Sie sich weder vom Autor noch von seiner Story belästigen. Ich fände es äußerst unfair, wenn Sie nach zwanzig oder dreißig Jahren kommen und sagen, man hätte Sie damals, 2021, als junger Leser/ junge Leserin missbraucht. Hätte Ihnen eine Geschichte aufgezwungen, mit der Sie ins Bett gegangen sind, um sodann nur unter Albträumen zu leiden. Literarische Nötigung! Wäre es nicht echt unheimlich, wenn Sie nicht den Mut fänden, dieses Buch sofort zur Seite zu legen? Haben Sie heute den Mut, NEIN zu sagen! Ich an Ihrer Stelle hätte es schon längst getan. Ich hasse unnötige Worte. Ja, nur wer nicht geliebt wird, hasst!

Und es gibt tatsächlich jenen L.H., der mich nicht liebt, von dem ich Ihnen noch berichten muss.

»Verdammt noch mal, schreib ein Vorwort!«, raunte mir beim letzten Buch mein zweites Ich zu. Anscheinend habe ich sogar ein drittes Ich, denn genau dieses Raunen vernahm ich gerade eben, in diesem Moment. Ich gebe auf und gebe statt. Und wie immer, ich bleibe dabei: Ich schreibe hier und kann nicht anders. Ich fühle mich – noch immer und wie jeder wahre Irre – der Wahrheit verpflichtet. Mein Wort in Gottes Ohr!

Ihr Stefan Koenig Im November 2021

Bitte vergessen Sie nicht,

dass es sich bei dem vorliegenden Werk

um eine frei erfundene Story handelt.

Keine Angst also!

Personen-Namen, Straßen-Namen,

die Ihnen vielleicht

durchaus bekannt vorkommen mögen,

gehören nicht

zu real existierenden Personen oder Orten.

Jedenfalls gibt es sie so nicht, nicht so!

Orte, Ereignisse und Romanfiguren

sind allesamt Erfindungen.

Nackte Illusionen.

Faktische Fiktionen.

Fiktive Fakten.

Lich – gibt es diesen Ort wirklich?

Ich bin mir in nichts mehr sicher.

Vielleicht wissen Sie mehr.

Der, die, das. Wer, wie, was?

„Also, Sie mit Ihren Ideen! Woher nehmen Sie bloß Ihre ganzen Einfälle?“ Diese Frage höre ich am häufigsten, aber gleich danach kommt diese: „Spielen bei Ihnen immer irgendwelche Monster mit?“ Wenn ich letztere verneine, bin ich mir nie ganz sicher, ob die fragende Person aufatmet oder tief durchschnauft, um mir ihre Enttäuschung nicht ins Gesicht zu brüllen.

Wie Sie bereits wissen – vielleicht aber auch nicht, denn ich kann nicht davon ausgehen, dass Sie all meinen bisherigen Mist gelesen haben – bin ich für einen Licher Verlag tätig, in dem auch mein guter Kollege Benjamin Carl arbeitet. Wir sind inzwischen gute Freunde, und es war Ben, der nach meinem letzten Roman meinte, ich sollte mir Gedanken über die nächste Veröffentlichung machen.

Es mag Ihnen seltsam vorkommen, dass man nur einen Monat nach der Veröffentlichung einer tornadoartigen Geschichte, die auf wahren Begebenheiten beruhen könnte, den nächsten Tatsachenbericht in der Pipeline hat. Doch das liegt nicht am Berichterstatter – es liegt an den tatsächlichen Begebenheiten. Denken Sie bitte daran: Der Ursprung ist die Geschichte, nicht der Erzähler! Ich gehöre auch nicht zu jener Sorte Autoren, die ihre ach so wertvollen Manuskripte ein Jahr lang in der Schublade lassen und gelegentlich herausholen, um sie dann im Café sitzend mit wichtigtuerischer Miene zum x-ten Mal zu lesen, bis sie endlich langsam wie eine Schildkröte ihrer Veröffentlichung entgegenkriechen.

Als ich Ben nach einiger Zeit die ersten hundert Seiten von »Sturm über Lich« zu lesen gab, war er zweifach verblüfft. Einmal, weil einige Seiten auf die Rückseiten von Druckerei-Rechnungen kopiert waren, zum andern, weil das Manuskript nach Bier stank, da meine Liebste zwei Monate zuvor, anlässlich meines Geburtstags, versehentlich eine Maß Weißbier darüber ausgeschüttet hatte. Ich hatte das Manuskript aus ökologischen Gründen getrocknet. Ein Neuausdruck kam nicht in Frage – kein Baum sollte wegen einer umgestoßener Maß Weißbier gefällt werden. Außerdem liebe ich den Geruch von Weißbier auf Manuskriptpapier. So hat jeder seine Vorlieben.

 

Während der nächsten zwei Wochen las Ben die fertiggestellten Seiten. Er war so etwas wie mein Lektor, und da er ebenso penibel ist wie ich, nahm er sich entsprechend Zeit. Kratz an einem Verlagsmitarbeiter, auch wenn er nur aushilfsweise dort tätig ist, und du entdeckst einen allwissenden Heiligen, der dir jeden Furz hinterherrecherchiert.

Ich hielt mich ein paar Tage in Lich auf, um dort für den Verlag Manuskripte anderer Autoren zu sichten. In unseren Pausen zog ich es vor, mit Ben über die Text-Einreichungen zu diskutieren. Aber diesmal wollte er mit mir nur über mein Manuskript sprechen. Sollte ich wirklich einen Zeitrückgriff machen und nach dem 2023er-Streich jene spezielle Katastrophe von 2022 aufgreifen, obwohl ich sie im ersten Bericht über die »Freie Republik Lich – 2023« nicht erwähnt hatte?

Die Entscheidung fiel an der Ampel oberhalb der Braugasse, Ecke Volksbank, als wir auf die gegenüber liegende Parkseite wechseln wollten. Ben und ich standen dort und warteten auf Grün und sahen junge Mütter, die beim Döner auf der anderen Straßenseite ein schnelles Mittagessen besorgten. Und Ben sagte: „Ich denke, du solltest noch vor Weihnachten damit rauskommen. Denn wenn der Sturm im Januar über uns hereinbricht, ist es zu spät.“

Nun, das gefiel mir und schien logisch. Aber er sagte es widerstrebend, und ich fragte ihn ganz direkt, was denn los sei.

„Wenn du erst ein Buch schreibst über ein Logistikmonster, das nur durch eine aus dem Ruder gelaufene Natur überwältigt werden kann, und anschließend eins über ein neuerliches Desaster, dann wirst du abgestempelt“, sagte er.

„Abgestempelt?“, fragte ich verwundert. Ich sah keine nennenswerte Ähnlichkeit zwischen Monsterspinnen und einem tödlichen Wintersturm. „Abgestempelt als was?“

„Als jemand, der nur Katastrophenstorys schreiben kann“, sagte er noch widerstrebender.

„Oh“, meinte ich erleichtert. „Ist das alles?“

„Warte ein paar Jahre, bis du deinen Ruf weg hast“, sagte er. „Dann wirst du schon sehen.“

„Ben“, sagte ich amüsiert, „meine Leser kennen alle meine Seiten – auch und gerade meine authentischen Zeitreisen. Sie lassen sich nichts vormachen.“

Die Ampel sprang auf Grün. Ben klopfte mir auf die Schulter. „Ich denke, dein neuer Bericht wird gut, aber ich glaube dennoch, dass du manchmal Scheiße nicht von Schuhwichse unterscheiden kannst.“

Ich machte einen auf beleidigt, denn das kam bei Ben immer gut an. Während wir in unserer Mittagspause durch den Park schlenderten, blieb Ben plötzlich stehen, kratzte sich am Kopf und sagte: „Du hast deinen Lesern damals nicht die ganze Wahrheit gesagt. Das kommt nicht gut an.“

Ich dachte einen Moment nach, bevor ich ihm antwortete: „Es ist tatsächlich so, dass die vollumfängliche Wahrheit nicht immer verkraftet wird. Weder vom Autor, noch von der Leserschaft.“

„Du meinst also hauptsächlich jene Leute, die du mit deinen Zeitreise-Erlebnissen unterhalten und zugleich von irgendwas überzeugen willst. Denn ob du etwas verkraftest oder nicht, interessiert kein Schwein!“, sagte Ben etwas unwirsch und wenig vornehm.

Er hatte Recht. In der Hauptsache konnte ich meinen Kunden, also der Leserschaft, die unterhalten werden wollte, nicht die ganze Wahrheit zumuten.

Tatsächlich war es so, dass ich – als ich über die Freie Republik Lich des Jahres 2023 berichtete – im Kurzdurchlauf die Jahre 2018 bis 2022 der Geschichte vorangestellt hatte. Natürlich fühle ich mich gegenüber den Leserinnen und Lasern – »Laser«, ein alter, abgestandener Witz von mir, von dem ich mich trotz aller guten Vorsätze noch immer nicht lösen kann – zur reinen Tatsachenberichterstattung verpflichtet.

Aber wie Sie bereits wissen, gibt es Dinge im Universum, die sind einzigartig. Wenn sich jedoch eine Einzigartigkeit an die andere reiht, hegt man gelegentlich den Verdacht, es könnte sich um eine Serie von Ungeheuerlichkeiten handeln – so wie ein Serientäter zuerst als Einmalkiller erscheint und erst mit weiteren Taten zum Serienkiller wird. Verhält es sich so eventuell auch mit den Naturphänomenen, von denen ich Ihnen berichte? Haben wir die Natur zum Serienkiller gemacht?

Ich finde schon. Denn ich wusste sehr genau, was damals im Januar 2022 geschehen war – beziehungsweise was geschehen würde. Doch ich wollte es Ihnen nicht berichten, wollte es Ihnen nicht zumuten.

Und so sagte ich zu Ben, während wir weiter in Richtung der Licher Brauerei schlenderten: „Vielleicht klingt es in den Ohren meiner Leser wie eine billige Ausrede. Autoren sind tatsächlich niemals um Ausreden verlegen – ebenso wie unsere Politiker, Investoren, Kassen- und Privatärzte, Logistikmanager, Kapitalanlage-, Unternehmens- und Steuerberater und …“

„… willst du wirklich die Liste fortsetzen?“, unterbrach mich mein guter Kollege.

„Ist es dir nicht zumutbar?“, fragte ich ihn.

„Es ist echt unzumutbar! Ich fasse es nicht, einfach too much!“, rief er aus.

„Siehst du!“, sagte ich triumphierend. „Genauso wenig wollte ich damals die Leser emotional überfordern. Wir dürfen nicht nur heulen. Wir müssen auch verändern. Und dazu brauchen wir Kraft. Die Kraft der Tränen und des Lachens.“

„Schreibst du wieder über die vergangene Zukunft?“

„So, oder so ähnlich“, sagte ich und ließ Ben im Ungewissen. Wir mussten beide lachen.

Was wir zu diesem Zeitpunkt wahrlich nicht wussten: Im Januar 2022 verging uns das Lachen. Es verging uns gründlich.

Wer nicht fragt, bleibt dumm.

Die Mittagspause war zu Ende. Während wir in Richtung der Altstadt zurück zum Verlagsbüro spazierten, machte mich Ben darauf aufmerksam, dass ich die beteiligten Romanfiguren nicht zu kurz kommen lassen dürfe. Nicht wenige Leser würden vielleicht überhaupt nicht wissen, wer weshalb welche Rolle bislang in der Licher Geschichte gespielt habe – aus dem einfachen Grund, weil sie die Story über die Freie Republik gar nicht gelesen hatten. Selbst die, die die Story kannten, hätten gewiss schon wegen der vergangenen Zeitspanne nicht mehr alle Namen und Zusammenhänge parat.

„Findest Du eine Aufstellung der Personen und die Erläuterung wirklich sinnvoll?“, fragte ich ihn und verzog das Gesicht.

„Mir jedenfalls würde so etwas helfen“, meinte Ben. „Ich blättere gerne mal nach vorne, um mir die Namen der wichtigsten Protagonisten und die damit zusammenhängenden Funktionen im Romangeschehen wieder einmal vor Augen zu führen.“

„Na ja, wer diesen personellen Vorspann nicht lesen will, kann die Seiten ja einfach überblättern“, gestand ich Bens Vorschlag zu, hatte aber nicht gerade ein berauschendes Gefühl, die gesamte Vorgeschichte in personeller Hinsicht noch einmal zusammenfassen zu müssen.

„Du solltest ja nur das Herausstechende und für die neue Geschichte das Nötigste hervorkramen“, sagte Ben. Er sah mir wohl meinen missmutigen Gesichtsausdruck an und klopfte mir wieder einmal ermutigend auf die Schulter.

Am gleichen Abend setzte ich mich hin und tat wie mir empfohlen.

Die Sache selbst:

Hinter dem Rücken der Licher Bürger wurde von den Stadtvätern in stiefväterlicher Weise in einem atemberaubenden Schnellverfahren und mit bösen verwaltungstechnischen Tricks die Bebauung eines naturbelassenen, supergroßen Geländes durchgepaukt. Es handelte sich um den Baugrund »Langsdorfer Höhe«. Das Gelände hieß im Volksmund seitdem Wüstenberg – benannt nach dem Immobilienhai Dr. Werner Wüst, dessen Aktiengesellschaft laut eigenen Angaben steueroptimiert für Großanleger tätig ist. (Sie dürfen ruhig recherchieren!) »Steueroptimiert« soll in diesem Zusammenhang heißen: Es fällt kein Cent für die Kommune ab, der man das Gelände abgeknöpft hat.

Die Akteure in dieser hinterfotzigen Sache:

Dr. Werner Wüst, etwa Mitte Fünfzig, ein landesweit tätiger Investor. In diesem Fall ein Immobilienunternehmer und Baulöwe, dessen Geschäftsprinzip es ist, zu billigsten Konditionen bei den willigsten Bürgermeistern Land aufzukaufen, um es zu teuren Konditionen höchst profitbringend an die an Amazon angebundenen oder amazontypischen Logistik- und Verkaufszentren weiterzuvermieten. Es ist weitaus profitabler, auf dem flachen Land von flach regierten Landeiern Land abzukaufen, als nahe der Autobahnen das Dreifache investieren zu müssen – was den Gewinn entsprechend schmälert.

Sein Großmieter ist dieses Mal die MyClo-AG des Dr. Clowalla, mit dem Dr. Wüst partnerschaftlich verbunden ist und dem er einen Mietvertrag andreht, obwohl noch keine Baugenehmigung vorliegt.

Für seine windigen Geschäfte benötigt der wüste Unternehmer eine Handvoll hauptberuflicher politischer Amateure – eine Herde kleiner Wüstlinge, die ihm, dem großen Unternehmer, Respekt und Gehorsam zollen. Das bekommt ein Draufgänger wie Dr. Wüst am besten durch Drohungen, kombiniert mit Versprechungen und Gefälligkeiten hin. Wie sonst?

Aus Sicherheitsgründen trägt er eine schusssichere Weste unter seinem langweiligen Anzug. Zu seinem bärenstarken Beschützer und Sicherheitschef auf dem Wüstenberg hat er Hulk Hogan gemacht.

Seine gefolgstreue Herde besteht aus dem Bürgermeister Arturo Groß, Anfang fünfzig, Kontaktlinsen mit bestem Sichtkontakt zu Dr. Wüst. Der Sozialdemokrat Groß ist eitel und selbstherrlich, wechselt sicherheitshalber öfter seine Sekretärinnen und lächelt im Dienst äußerst selten, und wenn, dann verbissen. Er verspricht sich von dem Deal eigene Vorteile und gaukelt der Bevölkerung und seiner eigenen Partei vor, man würde den Bürgern, der Stadtkasse und der örtlichen Kaufkraft einen Gefallen tun. Er ist ein Spezialist in Versprechungen und Prognosen – wie fast alle Politiker … und wie Werner Wüst. Pech (für die Stadt), wenn nichts von alledem eintrifft – aber dann ist er schon über alle Berge und hockt auf einem noch höher vergüteten Posten.

Jetzt braucht Wüst noch eine Figur aus anderen verwandten Gefilden. Zum Beispiel von der CDU, eine Figur, die sein Vorhaben – wie sollte es anders sein – bravourös unterstützt. Gut, wenn es eine Frau ist. Möglichst eine, die in großen wirtschaftlichen Deals unerfahren ist. Seine Wahl fällt auf Ingrid Steegher, die Erste Stadträtin. Sie tut alles, um den Deal durchzuboxen und versteht es, rechtlich klare Linien zu einer rasanten Schlangenlinie umzubiegen. Sie ermöglicht einen Kaufvertragsabschluss zu einem viel zu frühen Zeitpunkt, im September 2018, ohne Legitimation durch den Magistrat. Die Bürger wissen in jenen Tagen noch nichts von jenem ominösen Kaufvertrag.

Verwaltungsrechtlich korrekt hätte es anders laufen müssen: Die Vertreter der Bürgerschaft, die Stadtverordneten, werden ordentlich, wahrheitsgemäß und umfänglich vom Investor und dem verhandlungsführenden Bürgermeister über das Großprojekt informiert. Aufgrund dessen beschließen sie eventuell, dass ein Kaufvertrag geschlossen werden soll. Daraufhin beauftragt der Magistrat den Bürgermeister mit der Vorbereitung eines solchen. Dieser legt anschließend einen städtebaulichen Vertrag vor, in dem die Bedingungen für den Investor festgelegt werden.

Und dann erst kommt der Bebauungsplan in die Fahrspur – und zwar gemäß den Festlegungen in den vorangegangenen Verträgen. Aber es ging wie Kraut und Rüben durcheinander. Gewollt? Oder aus mangelnder Erfahrung?

Es etabliert sich eine Bürgerinitiative gegen das unsolide Vorhaben. Die Vertreter der Bürgerinitiative legen gegen dieses Kraut-und-Rüben-Verfahren sofort Beschwerde bei der Landrätin ein. Sie stellt lapidar fest: „Das kann man nachträglich heilen.“ Ein verwaltungsrechtlicher Treppenwitz.

Unterdessen macht die Erste Stadträtin gemeinsame Sache mit ihrem treuen CDU-Parteisoldaten Detlef Hofbauer, der, weil die Partei es will, als strenger Einäugiger dem städtischen Bauausschuss vorsteht und Dr. Wüst (Die Wirtschaft! Die Wirtschaft!) zu Füßen liegt.

Nun müssen nur noch, gewissermaßen im Nachhinein, die Stadtverordneten „überzeugt“ werden. Man kann nicht alle mit Gefälligkeiten bedienen. Es würde herauskommen. Mit fingierten Angaben „überzeugen“ aber kann am besten und naturgemäß ein allseits anerkannter Stadtverordnetenvorsteher. Der Stadtverordneten-Boss heißt Klaus-Dieter Lügge, ein Parteigenosse des Arturo Groß.

 

Er ist äußerst erfindungsreich, wenn es um Ablenkungsmanöver geht, und er weiß seine entscheidende Stimme im entscheidenden Moment für das Wüst-Imperium einzusetzen. Als es um die Abstimmung über die Zulassung eines Bürgerentscheides geht, spricht er sich des Scheins halber vor der versammelten Bürgerschaft für einen Volksentscheid aus, verhindert ihn aber geschickt im selben Moment. Und er denkt, keiner merkt’s.

Die Sozialdemokraten sind in sich gespalten – einerseits die kritischen, noch an sozialen und ökologischen Werten orientierten, andererseits die karrieristischen Ja-Sager und Mitläufer inklusive der Karteileichen. Um sie alle auf Trab zu halten, gibt es einen lokalen Parteichef und Fraktionsvorsitzenden. Er heißt Jonas Cäsar, war in früherer Zeit unter der Landrätin Annika Tänzer beschäftigt, die noch eine besondere Rolle in diesem Spiel einnehmen sollte. Sein Job beim Landkreis unter Annika war es, in der Glaskugel zu lesen. Er bezeichnete sich als Demographie-Beauftragten. Und er war seit jeher ein enger Vertrauter des Arturo Groß. Beide einigen sich auf einen karrieristischen Deal.

Da Groß mit dem Durchpeitschen des Logistikmonsters bei den Bürgern verbrannt ist, tritt er auf Anraten von Dr. Wüst nicht mehr für eine dritte Wahlperiode an. Im Gegenzug bekommt er einen neuen hochbezahlten Vorstands-Job in einer gemeinnützigen Einrichtung in einem abgelegenen Residenzstädtchen, abseits von Lich. Er übergibt den Stab an Cäsar, der so tut, als habe er mit allem nichts zu tun. Hat er aber.

Cäsar tritt zur Wahl an; ebenso wie ein CDU-Mann, Herbert Will, der so tut, als sei er gegen das ungeliebte Logistikzentrum. Ein Mitbewerber aus dem Kreis der kritischen Widersacher landet dadurch nur auf Platz drei. Es kommt somit lediglich zu einer Stichwahl zwischen Cäsar und Will, der aber kurz vor der Wahl nicht mehr so recht will. Besser gesagt: Er wird von seiner Partei urplötzlich aus dem Rennen genommen. Im Prinzip bleibt ein einziger Bewerber auf dem Wahlzettel übrig: Jonas Cäsar. Ein perfekter Coup, ein Deal zwischen Sozial- und Christdemokraten, ganz im Sinne der Wüst’chen Interessen. Cäsar ist nun der neue, etwas jovialere Groß, scheinbar unverbraucht, nicht verstrickt in Machenschaften – so scheint es.

Dann gibt es – wie immer in solchen Fällen – ein kleines, aber fleißiges Duo an ergebenen Leserbriefschreibern. Es sind der über achtzigjährige Gerald Alt und sein zehn Jahre jüngerer Freund Peter Hartbusch-Niebergall. Sie sind die ehrenamtliche Propaganda-Abteilung von Wüst & Co.

Die wichtigste Rolle bei einem so gewaltigen Bauvorhaben jedoch spielt die Bauaufsicht.

Die Bauaufsicht.

Das zuständige Organ der gründlichsten aller Prüfungen!

Die Bau-Aufsicht!

Der zuständige Chef heißt Rüdiger Halbersach, ein Beamter, der keine halben Sachen macht.

Die Bauaufsicht hat einen natürlichen Feind – das Amt für Umwelt und Naturschutz.

Aber Rüdiger hat eine altbewährte Freundin aus alten Arbeitsverhältnissen in der Landkreisverwaltung. Es ist die besagte Landrätin Annika Tänzer, und sie ist jetzt die Chefin beider Behörden. Flugs unterstellt sie der Einfachheit und der Beschleunigung halber die Naturschutz­behörde der Bauaufsicht. Jetzt ist der Bock der Gärtner und der Garten kann im Wüst‘chen Sinne beackert – oder eben verwüstet – werden.

Wäre nur noch zu klären, welcher Art Verbindung zwischen der Landrätin und dem Wüst-Imperium bestehen könnte. Doch greifen wir der neuen Geschichte nicht vor.

Nun noch schnell zu all den anderen:

Daniela Demuth, erst die absolut treue, dann die gefeuerte Sekretärin von Arturo Groß. Gefeuert und ersetzt von der nächsten, die auch bald gefeuert wird, damit kein Insiderwissen über die geheimen Absprachen nach außen dringt. Aber Arturo unterschätzte Wikileaks. Später arbeitete Daniela Demuth für die Regierung der Freien Republik.

Arnold Aurora, der in jenem Jahr noch lebte und voller Tatendrang und humanistischer Ideen glühte. Ich hatte ihn auf einer Demo kennen gelernt. Damals, 2019, war er 27 Jahre alt gewesen. Er hatte dort eine feurige Rede gehalten, die es in sich hatte. Zwei Jahre später wurde er Präsident unseres neuen Gemeinwesens und rief am 9. April 2023 vom Balkon unseres historischen Rathauses aus die Freie Republik Lich aus.

Nur fünf Monate später, am 11. September 2023, wurde er von einem Scharfschützen des Wüst-Imperiums erschossen, als er zu Verhandlungen am Tor des Logistikzentrums erschienen war und mit seiner weißen Friedensfahne wedelte. Er war zu gutgläubig gewesen.

Arnolds etwas jüngere Schwester, die nur unter dem Familienname AURORA als Sängerin bekannt ist, ließ beim Staatsakt für unseren ermordeten Präsidenten ihre wunderschöne Stimme erklingen – mit »Runaway« verabschiedeten wir uns von jenem jungen charismatischen Mann, der uns enorm fortschrittliche Impulse mit auf den Weg gegeben hatte. Wir heulten wie die Schlosshunde.

Wer noch eine Rolle spielte: Stella, meine warmherzige Freundin mit den schönen Augen, Optikerin von Beruf, Anfang vierzig.

Vanessa, ihre fünf Jahre jüngere Arbeitskollegin.

Stellas Nachbarin Jenny und ihr Hund Charly, der kleine Havanese, der, wenn er sein Frauchen ausführt und mit ihr am Wüstenberg Gassi geht, immer das grau-blaue Monster anbellt.

Unsere Nachbarin Lilli mit ihrem Sohn Felix und unser Nachbar Bernardo mit seinem Sohn Jonas, einem Freund von Felix.

Jupp Maier, Rechtsanwalt, er hat seine Kanzlei bei Stella um die Ecke, auch hatte er früher mal Krach mit mir, besserte sich aber und wurde später unser Justizminister in der Freien Republik.

Ludwig Henrich, parteiunabhängig, 82 Jahre alt, jung im Kopf, gewiefter Taktiker und kluger Stratege. Nach der Ermordung von Arnold Aurora wurde er als dessen Nachfolger in das Amt des Präsidenten gewählt.

Udo Müller, erst als Abgeordneter der Freien Wähler im Stadtparlament, dann tritt er aus, weil ihm der Zoff um das Monsterprojekt geschäftlich in die Quere kommt. Er ist ein perfekter Lebensmittel-Logistiker und betreibt den RUWE-Markt. Ohne ihn wären wir im damaligen Niemandsland aufgeschmissen gewesen. Seine Frau Petra leitet im RUWE die Poststelle. Beide sind in unserer Republik zwei Jahre später in wichtigen Funktionen tätig.

Und natürlich all die anderen Personen, zumeist Mitstreiter der Bürgerinitiative gegen das Logistikmonster. Sie gründeten die BFL und nannten sich fortan »Bürger für Lich«:

Edith Neuer-Süß, die den wüsten Leserbrief-Schreibern Alt & Hartmut-Niebergall gekonnt konterte. Sie war von der ersten Proteststunde an dabei, ebenso wie ihr Mann, Bernd Neuer. Er war der BFL-Initiator und spätere Fraktionsvorsitzende. Er übernahm zu Zeiten unserer Republik keinen Regierungsposten, da seine Frau zur Premierministerin gewählt worden war. Vetternwirtschaft drohe. Das wolle er nicht, sagte er.

Lothar Balser, der BFL-Vorsitzende, Anfang sechzig, ein umgänglicher Mensch, er grillt gerne.

Die Tierärztin Claudia zu Solms-Arnsburg, unmittelbare Nachbarin am Wüstenberg, hartnäckig gegen die Entwertung ihres Grundstücks kämpfend. 2023 wurde sie die resolute Verteidigungsministerin unserer Freien Republik.

Dr. Herbert Schmittmann aus der Hungener Straße, ein weiterer Tierarzt und Kollege von Claudia zu Solms-Arnsburg. Für ihn haben ökologische Gesichtspunkte Vorrang vor der Profitsucht.

Michael Beilert, Politaktivist der BFL und Inhaber eines Computerladens in der Oberstadt.

Marietta und Heiner Koschka, die treffende Leserbriefe schreiben können, in denen sie die sozialen, ökologischen und gesundheitlichen Probleme verständlich auf den Punkt bringen.

Professor Dr. Ralf Naumann aus Villingen, der unser Gesundheitsminister wurde.

Michael Sieps von den Grünen, Stadtrat, und ehrlicher Kämpfer für ökologische Belange.

Und nicht zu vergessen: mein Freund Benjamin Carl, früherer Vermessungsingenieur, der jetzt wie ich im gleichen Verlag arbeitete. Er engagiert sich auch im Kirchenvorstand der evangelischen Gemeinde.

Dann all jene, die einfach nur ihren Job machten:

Frau Peppler, die alte Grundschullehrerin.

Frau Fremdel, die manchmal auf die Nachbarkinder aufpasst, wenn die Eltern Überstunden machen müssen.

Carlo Mannschmitt, Mittfünfziger, Stellas Vermieter und passionierter Jäger, der ganz Lich mit Proteinen versorgte, als die Grenzen rund um uns dicht gemacht wurden. Sein neunzehnjähriger Sohn Michel, der eine Koch-Ausbildung im Landhaus Arnsburg absolvierte und Lebensmittel über die Grenze schmuggelte.

Alice Knauer, zu erkennen an ihrem selbstgestrickten giftgrünen Hosenanzug, betrieb ein merkwürdiges Trödellädchen und glaubte an seltsame Dinge – bis zu ihrem unerwarteten Ableben.

Dieter Strähle, Lagerarbeiter bei RUWE.

Es fehlen nur noch einige Medienvertreter und der Club der Unbelehrbaren. Aber das ist jetzt halb so wichtig. Ich merke, Sie werden ungeduldig. Es wird Zeit …

Endlich.

Die Geschichte beginnt.

Und denken Sie bitte daran:

Die Geschichte zählt.

Und nicht der Erzähler.

Letzter Warnhinweis:

Lesen gefährdet die Dummheit!