Eine Studie in Scharlachrot

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4. KAPITEL

Was John Rance zu erzählen hatte

Es war ein Uhr, als wir das Haus Lauriston Gardens 3 verließen. Auf dem nächsten Telegraphenamt gab Holmes eine lange Depesche auf, dann fuhren wir mit der Droschke zur Wohnung des Schutzmanns.

»Nichts geht über Zeugenaussagen aus erster Hand«, bemerkte er. »Wenn mir der Fall auch ganz klar ist, so halte ich es doch für richtig, auch alle Einzelheiten so authentisch wie möglich zu erfahren.«

»Aber Holmes«, rief ich in höchster Verwunderung. »Sie können doch unmöglich über alle jene Einzelheiten zu so unumstößlicher Gewissheit gelangt sein, wie Sie uns glauben machen wollen.«

»Jeder Zweifel ist ausgeschlossen«, entgegnete er. »Als wir ankamen, war das Erste, was mir auffiel, die doppelte Räderspur einer Droschke, die bis an das Gittertor führte. Vergangene Nacht hatte es seit einer Woche zum ersten Mal wieder geregnet, die tiefen Wagenspuren konnten erst entstanden sein, nachdem die Erde gehörig aufgeweicht war. Auch die Spuren der Pferdehufe waren erkennbar, drei nur undeutlich, die vierte klar ausgeprägt, folglich war das Eisen neu. War die Droschke erst nach dem Regen am Haus vorgefahren und am Morgen nicht mehr da, wie Gregson versicherte, so hatte sie also die beiden Leute während der Nacht dahin befördert.«

»Das klingt einleuchtend«, sagte ich. »Wie aber konnten Sie auf das Äußere des Mannes schließen?«

Die Größe eines Menschen lässt sich in den allermeisten Fällen nach seinem Schritt bestimmen. Die Berechnung ist schnell gemacht, aber ich will Sie nicht mit Zahlen plagen. Ich fand die Schrittweite des Mannes sowohl draußen im weichen Erdboden als auch auf den staubigen Zimmerdielen. Außerdem konnte ich noch die Probe anstellen: Wer auf eine Wand schreibt, tut dies unwillkürlich in Augenhöhe. Die Schrift aber ist gerade sechs Fuß hoch über dem Boden. Sie sehen, es war kinderleicht.«

»Aber sein Alter?«

»Nun, wenn ein Mann ohne Mühe fünfeinhalb Fuß weit ausschreiten kann, ist er schwerlich schon sehr altersschwach. So breit war nämlich die Pfütze auf dem Gartenweg, über die er weg geschritten ist. Die feinen Lederstiefel waren am Rand entlang gegangen, die grobe Fußbekleidung mit den breiten Spitzen aber darüber weggeschritten. Gar kein Geheimnis dabei; alles beruht auf den Grundsätzen von Beobachtung und Schlussfolgerung, die ich in meinem Beitrag beschrieben habe. – Macht Ihnen sonst noch etwas Kopfzerbrechen?«

»Die Fingernägel und die Trichinopoly-Cigarre.«

»Der Mann hatte den langen Nagel seines Zeigefingers in Blut getaucht und damit an die Wand geschrieben. Die Buchstaben waren wie eingekratzt in den Kalkbewurf. Auf der Diele fand ich etwas verstreute Asche, die dunkel und flockig aussah und nur von einer Trichinopoly-Cigarre herrühren konnte. Auf Zigarrenasche habe ich ganz besondere Studien verwendet, ja sogar einen Aufsatz geschrieben; ich schmeichle mir, jede Sorte Zigarren- oder Tabakasche auf den ersten Blick zu erkennen. Gerade in solcher speziellen Kenntnis zeigt sich der Unterschied zwischen dem wahrhaft versierten Detektiv und der Sorte, zu der Gregson und Lestrade gehören.«

»Aber die rötliche Gesichtsfarbe?«

»Das war eine etwas kühne Folgerung, über die ich bei dem jetzigen Stand der Dinge noch keinen Aufschluss geben kann, obgleich ich überzeugt bin, dass ich recht habe.«

Ich fasste mir unwillkürlich mit der Hand an die Stirn. »Es schwirrt mir förmlich im Kopfe«, rief ich. »Je mehr ich über die Angelegenheit nachdenke, umso rätselhafter erscheint sie mir. Wie kamen die beiden Männer – wenn es denn zwei waren – in das leere Haus? Was ist aus dem Kutscher geworden, der sie gefahren hat? Wie konnte der eine den andern zwingen, Gift zu nehmen? Woher stammen die Blutspuren? Was bewog den Mörder zu seiner Tat, da er keinen Raub beabsichtigte? Welcher Frau hat der Ehering gehört? Warum schrieb der Mörder das Wort Rache an die Wand, bevor er die Flucht ergriff? – Dass jemand imstande sein sollte, alle die Tatsachen in Einklang zu bringen, geht wahrhaftig weit über mein Verständnis.«

Mein Gefährte lächelte beifällig.

»Sie haben sämtliche Schwierigkeiten unserer Lage kurz und bündig zusammengefasst«, sagte er. »Über die Hauptsache bin ich zwar im Klaren, aber manches ist noch nicht geklärt. Die Schrift, auf deren Entdeckung Lestrade so stolz war, ist meiner Meinung nach nur eine Kriegslist, um die Polizei auf eine falsche Fährte zu locken, als sei die Tat im Auftrag einer Geheimgesellschaft von irgendeinem Sozialisten ausgeführt worden. – So – nun wissen Sie aber genug über den Fall, Watson, ich werde mich hüten, Ihnen noch mehr zu verraten. Mit dem Ansehen eines Taschenspielers ist es aus, sobald er sein Kunststück einmal erklärt hat, und wenn ich Ihnen mein Verfahren allzu genau beschreibe, werden Sie mich in kürzester Frist für einen höchst alltäglichen Menschen halten.«

»Bewahre«, rief ich, »das wird nie geschehen. Sie haben die polizeiliche Ermittlung zur Höhe einer Wissenschaft erhoben und zu einer Vollkommenheit gebracht, wie sie bisher unerreicht war.«

Mein Gefährte wurde rot vor Freude über mein Urteil, das ich im Ton aufrichtigster Überzeugung aussprach. Schon früher hatte ich bemerkt, dass er für jedes Lob, das man seiner Kunst zollte, empfänglich war, wie eine Frau, deren Schönheit man mit Komplimenten bewundert.

»Etwas will ich Ihnen doch noch verraten«, rief er. »Die feinen Lederstiefel kamen mit dem groben Schuhwerk in derselben Droschke angefahren und schritten zusammen höchst freundschaftlich den Gartenweg hinunter, vielleicht sogar Arm in Arm. Im Haus gingen sie im Zimmer hin und her, oder richtiger gesagt: Die feinen Lederstiefel standen still, und das grobe Schuhwerk ging auf und ab und geriet dabei mehr und mehr in Wallung. Das war in dem Staub, der auf der Diele lag, an den immer länger werdenden Schritten deutlich zu erkennen. Dabei sprach der Mann unaufhörlich, sein Zorn steigerte sich zur wilden Wut, und dann beging er die Tat. Mehr weiß ich jetzt selbst noch nicht; das Übrige beruht größtenteils auf bloßer Vermutung; doch ist immerhin ein Grund gelegt, auf dem sich sicher weiter bauen lässt. – Ich darf mich übrigens jetzt nicht lange aufhalten, denn ich will heute Nachmittag noch zu Hallés Konzert gehen, um Norman Neruda spielen zu hören.«

Die Droschke war während unseres Gesprächs durch zahllose düstere Gässchen und enge Straßen gefahren; in der allerschmutzigsten und trübseligsten Stadtgegend hielt der Kutscher plötzlich an. »Da drüben ist Audley Court«, sagte er und deutete auf eine Reihe verräucherter Backsteinhäuser. »Ich warte hier, bis Sie wieder herauskommen.«

Audley Court bot wenig Anziehendes. Eine schmale Gasse führte auf einen großen, gepflasterten Hof, der rings von ärmlichen Wohnhäusern umgeben war. Auf der Suche nach No. 46 gingen wir an Scharen schmutziger Kinder vorbei und krochen unter aufgehängter, missfarbener Wäsche durch, bis wir auf einem kleinen Messingschild den Namen Rance bemerkten.

Der Schutzmann hatte sich nach dem Nachtdienst zu Bett gelegt, und wir wurden gebeten, in dem kleinen Wohnzimmer ein wenig zu warten. Bald darauf kam Rance zum Vorschein, missmutig, dass man ihn im Schlaf gestört hatte. »Ich habe doch schon auf dem Büro der Wache Bericht erstattet«, brummte er verdrießlich.

Holmes zog ein Goldstück aus der Tasche und drehte es nachlässig zwischen den Fingern.

»Wir hätten gern den Sachverhalt aus Ihrem berufenen Mund gehört, wenn Sie nichts dagegen haben«, sagte er verbindlich.

Der goldene Talisman verfehlte seine Wirkung nicht. »Ich werde Ihnen mit Vergnügen sagen, was ich weiß«, beeilte sich Rance zu erwidern.

»Gut, dann erzählen Sie mir bitte genau, wie sich alles zugetragen hat.«

Der Schutzmann nahm auf dem alten Rosshaarsofa Platz und legte die Stirn in bedächtige Falten. »Dann fang ich ganz am Anfang an«, sagte er. »Meine Dienstzeit ist von zehn Uhr abends bis sechs Uhr morgens. Um elf Uhr gab’s eine Schlägerei im ›Weißen Hirsch‹, aber sonst keine besonderen Vorkommnisse während meiner Streife. Gegen ein Uhr fing es an zu regnen, und ich traf meinen Kollegen Harry Murcher, sein Revier geht bis zum Holland Grove, Ecke Henrietta Street, und wir hatten eine kleine Lagebesprechung. So um zwei ging ich dann weiter die Brixton Road hinunter, um zu sehen, ob dort alles in Ordnung ist. Ich traf unterwegs keine Seele, die Gegend war wie ausgestorben, nur ein paar Droschken kamen an mir vorbeigerasselt. Eben dachte ich daran, ein Schluck Gin zur Magenstärkung wäre angebracht – da sah ich einen Lichtschimmer in dem gewissen Haus. Ich wusste aber genau, dass zwei Häuser in Lauriston Gardens unbewohnt sind, denn der Besitzer hat die Abwasserröhren der Kanalisation nicht erneuern lassen, obwohl der letzte Mieter eines der Häuser an Typhus gestorben ist. Na, wie ich das Licht sehe, denke ich gleich, da kann etwas nicht geheuer sein. Als ich an die Türe kam – –«

»Sie sind stehen geblieben und zum Gartentor zurückgegangen – warum?« fragte Holmes.

Rance fuhr zusammen und riss die Augen weit auf.

»Woher wissen Sie denn das?« stammelte er. »Klar hab ich das getan, denn als ich vor der Haustür stand, war alles so still und unheimlich, da fiel mir ein, dass wir doch eigentlich zu zweit sein sollten, und so ging ich zurück, um zu sehen, ob nicht vielleicht Kollege Murcher mit seiner Laterne dazukäme. Angst kenn ich vor keinem auf einem Friedhof, nur vor denen unter der Erde vom Friedhof; wenn da etwa der verstorbene Mieter im Haus herumging, hätte ich gern Gesellschaft gehabt.«

»War denn überhaupt niemand auf der Straße?«

»Keine Menschenseele, Sir; nicht einmal ein verlaufener Hund. Ich hab mich zusammengerissen, ging wieder zur Tür und stieß sie auf. Drinnen war alles mucksmäuschenstill; ich trat in das Zimmer, aus dem das Licht gekommen war. Auf dem Kaminsims stand ein rotes Wachslicht – es flammte hell auf, und da sah ich – –«

 

»Ich weiß schon, was Sie gesehen haben. Sie sind mehrmals im Zimmer herumgegangen, haben sich dann neben die Leiche hingekniet und haben versucht, die Küchentür zu öffnen, und dann – –«

Rance schnellte wie besessen von seinem Sitz hoch. »Von wo aus haben Sie mich beobachtet? Sie müssen doch da irgendwo versteckt gewesen sein, Sie wissen mehr, als Sie dürften.«

Mein Gefährte zog seine Visitenkarte heraus und reichte sie dem Schutzmann. »Denken Sie nur nicht, dass ich der Mörder bin und Sie mich festnehmen müssen«, sagte er lachend. »Ich bin nicht der Wolf, sondern einer von den Spürhunden, wie Ihnen die Herren Gregson und Lestrade bestätigen können. Aber nur weiter – was taten Sie zunächst?«

»Ich ging runter auf die Straße«, sagte Rance, der wieder Platz genommen hatte, aber noch immer verdutzt dreinschaute. »Auf das Alarmzeichen mit meiner Pfeife waren Murcher und noch zwei Kollegen herbeigelaufen.«

»War die Straße noch immer leer?«

»Ja oder nein, wie man’s nimmt.«

»Was soll das heißen?«

Der Schutzmann verzog das Gesicht zu einem gutmütigen Grinsen. »Na«, sagte er, »als ich aus dem Gartentor trat, lehnte ein Mensch am Gitter, der aus vollem Halse etwas von ›Kolumbias neuem Sternenbanner‹ oder dergleichen sang. Ich hab in meinem Leben schon manchen gesehen, der schwer geladen hatte, aber so besoffen wie der Kerl ist mir noch keiner untergekommen. Er wäre mir keine Hilfe gewesen, der konnt sich ja selbst kaum auf den Beinen halten.«

»Wie sah denn der Mann aus?« fiel ihm Holmes ins Wort.

Den Schutzmann schien die unnütze Frage zu ärgern. »Der war eben sinnlos betrunken«, sagte er, »den hätten wir auf die Polizeiwache bringen müssen, wenn wir nicht anderweitig beschäftigt gewesen wären.«

»Aber Sie werden doch sein Gesicht, seinen Anzug gesehen haben«, rief Holmes ungeduldig.

»Natürlich – Harry Murcher und ich mussten ihm ja unter die Arme greifen, um ihn aufzurichten. Ein langer Kerl mit rotem Gesicht, um das Kinn ein Tuch gewickelt und –«

»Schon gut – was ist denn aus ihm geworden?«

»Was weiß ich! Wir hatten ohnehin genug zu tun. Er wird schon den Weg nach Hause gefunden haben, da können Sie ganz beruhigt sein.«

»Wie war er denn angezogen?«

»Er trug einen braunen Mantel.«

»Hatte er eine Peitsche in der Hand?«

»Eine Peitsche – bewahre!«

»Die muss er zurückgelassen haben«, murmelte Holmes. »Kam nicht gleich darauf eine Droschke daher?«

»Nein.«

Mein Gefährte nahm seinen Hut zur Hand. »Hier, das Goldstück ist für Sie, Rance«, sagte er; »aber ein andermal seien Sie nicht ganz so kopflos. Ich fürchte, Sie bringen es sonst Ihr Lebtag zu nichts, dabei hätten Sie sich letzte Nacht mit Leichtigkeit Ihre Beförderung zum Sergeanten verdienen können. Statt dessen haben Sie den Mann entwischen lassen, nach dem wir suchen und der den Schlüssel zu dem ganzen Fall in Händen hält. Wozu noch lange hin und her streiten – es ist so, wie ich Ihnen sage, verlassen Sie sich darauf. Kommen Sie, Watson, gehen wir.«

Der Schutzmann machte ein ungläubiges Gesicht, aber man sah, die Sache war ihm nicht ganz geheuer. Wir ließen ihn verblüfft stehen und gingen unserer Wege.

»Der Narr«, rief Holmes ärgerlich, als wir wieder in der Droschke saßen, um nach Hause zu fahren. »So ein Glück fällt ihm einfach in den Schoß, und er ist nicht in der Lage, es festzuhalten.«

»Sind Sie Ihrer Sache auch ganz sicher?« fragte ich. »Rances Beschreibung des Betrunkenen passt zwar im Allgemeinen zu Ihrer Vorstellung von dem zweiten Menschen, der in das Geheimnis verwickelt ist, aber wer sollte ihn wieder zu dem Haus zurückgebracht haben? Es sieht nicht aus, als wäre er der Verbrecher.«

»Der Ring, mein Freund, der Ring – den wollte er holen. Wenn wir kein anderes Mittel finden, ihn zu fangen, müssen wir den Ring als Köder auslegen. Ich sage Ihnen, Doktor, er geht mir ins Netz, ich habe ihn sicher. Und das verdanke ich alles Ihnen. Hätten Sie mir nicht zugeredet, ich wäre um die schönste Gelegenheit gekommen, meine Kriminalstudien zu vervollständigen. Nennen wir sie

Eine Studie in Scharlachrot,

warum sollen wir uns nicht auch der Sprache der Kunst der modernen Malerei bedienen? Die Lippen sind wie eine scharlachfarbene Schnur des Mordes im farblosen Knäuel des Lebens. – Jetzt aber erst zum Lunch und dann ins Konzert. Die Neruda hat einen unglaublichen Ansatz und spielt phantastisch. Wie geht doch das kleine Ding von Chopin, das ich von ihr gehört habe? Tra–la–la–lira–lira–la.«

Er lehnte sich in die Wagenkissen zurück und tirilierte wie eine Lerche; er war von der Natur zum Detektiv bestimmt und betrieb seine Forschungen mit dem Eifer eines Kunstkenners, während ich über die Vielfalt des menschlichen Daseins nachdachte.

5. KAPITEL

Wir bekommen Besuch

Die Anstrengungen des Morgens waren für meine schwache Gesundheit zu groß gewesen. Ich fühlte mich völlig erledigt, und sobald Holmes sich in sein Konzert begeben hatte, legte ich mich auf’s Ohr, um mit ein paar Stunden Schlaf Erholung zu finden. Ein sinnloser Versuch. An Ruhe war nicht zu denken, wirre Bilder drängten sich unablässig in mein aufgeregtes Gehirn. Sobald ich die Augen schloss, sah ich vor mir die verzerrten, pavianähnlichen Gesichtszüge des Ermordeten. Der Eindruck war so abstoßend, dass ich mich kaum eines Dankgefühls gegen den erwehren konnte, der diese Bestie aus der Welt geschafft hatte. Mir war noch nie ein Mensch vorgekommen, dessen Gesicht so deutlich von Laster und Bosheit geprägt schien. Doch sah ich wohl ein, dass man Gerechtigkeit üben müsse. Mochte dieser Enoch J. Drebber noch so verworfen gewesen sein, das gab nach dem Gesetz niemandem das Recht, ihn zu ermorden.

Je länger ich über die Behauptung nachdachte, der Mann sei vergiftet worden, umso sonderbarer erschien sie mir. Holmes musste das an den Lippen des Toten gerochen haben.

Allerdings blieb kaum eine andere Annahme übrig – er war nicht erdrosselt worden, es gab keine Wunde. Und doch – wo kam all das Blut her, das auf den Fußboden geflossen war? Es schien keinen Kampf gegeben zu haben, es gab auch keine Waffe, mit der Drebber seinen Angreifer hätte verwunden können. Holmes hatte sicher bereits eine Theorie vom ganzen Vorgang, das glaubte ich seinem ruhigen, sicheren Verhalten zu entnehmen. Wie er sich aber die verschiedenen, mir so rätselhaften Tatsachen erklären mochte, davon hatte ich nicht die geringste Ahnung.

Es war schon spät, als er zurückkam – unmöglich konnte das Konzert so lange gedauert haben. Das Abendbrot stand bereits auf dem Tisch.

»Es war großartig!« sagte er, als er Platz nahm. »Erinnern Sie sich an die Stelle bei Darwin: Nichts kann die Menschen so verzaubern wie die Musik? Er glaubte, dass die Menschheit bereits die Tonkunst beherrschte, bevor sie die Macht der Sprache erfunden hatte. Deswegen üben die Töne eine so geheime Macht über uns aus, sie sind die unbestimmte Erinnung an die Kindheit unserer Welt.«

»Ein kühner Gedanke«, bemerkte ich.

»Ideen müssen so kühn sein wie die Natur selbst, wenn wir sie ergründen wollen. Aber, was ist mit Ihnen, Watson? Sie sehen ja schrecklich aus. Hat die Geschichte in der Brixton Road Sie so mitgenommen?«

»Ehrlich gesagt, ja – mehr, als ich je für möglich gehalten hätte. Seit meinen Erlebnissen in Afghanistan glaubte ich, weniger schwach besaitet zu sein; in der Schlacht von Maiwand musste ich mit ansehen, wie meine Kameraden buchstäblich in Stücke gehauen wurden.«

»Diese rätselhaften Erlebnisse erhitzen die Einbildung. Wer keine Einbildungskraft besitzt, für den gibt es kein Grauen«, meinte Holmes. »In der Abendzeitung steht ein ziemlich ausführlicher Bericht darüber, ich bin nur froh, dass der Ehering nicht erwähnt wird.«

»Wieso?«

»Wegen der Anzeige, die ich heute Abend in sämtliche Blätter habe einrücken lassen. Hier, lesen Sie selbst.«

Er reichte mir das Blatt, unter der Rubrik Gefunden las ich Folgendes:

»Ein schlichter goldener Ehering ist heute früh auf der Brixton Road zwischen dem Gasthaus Zum Weißen Hirsch und Holland Grove gefunden worden. Weiteres erfragen Sie bitte bei Dr Watson, Baker Steet 221 b, 8–9 Uhr abends.«

»Sie entschuldigen bitte, dass ich Ihren Namen angegeben habe! Bei Angabe meines eigenen hätten sich unsere professionellen Dummköpfe eingemischt.«

»Und wenn der Eigentümer sich meldet? Ich habe keinen Ring, den ich ihm geben könnte.«

»O doch, haben Sie«, sagte er und gab mir einen Ring. »Er gleicht dem andern haargenau.«

»Und wer soll sich denn auf die Anzeige hin melden?«

»Natürlich der Mann im braunen Mantel – unser Freund mit dem roten Gesicht und dem groben Schuhwerk. Kommt er nicht selbst, so schickt er einen Komplizen.«

»Und wenn er Gefahr wittert?«

»Keine Sorge. Und selbst wenn schon – meiner Ansicht nach wird er jede Gefahr in Kauf nehmen, um den Ring wieder zu bekommen. Ich glaube, er hat ihn verloren, als er über Drebbers Leiche gebeugt war, und es nicht gleich gemerkt. Erst als er wieder draußen war, entdeckte er seinen Verlust und eilte zurück. Da er aber die Torheit begangen hatte, das Licht brennen zu lassen, fand er die Polizei bereits an Ort und Stelle. Um keinen Verdacht zu erregen, verfiel er auf den Ausweg, sich betrunken zu stellen. Nun versetzen Sie sich einmal in seine Lage. Er überdenkt alles und hält es nicht für unmöglich, dass er den Ring erst verloren hat, nachdem er wieder auf der Straße war. Was ist natürlicher, als dass er auf die Abendblätter lauert – er liest unsere Anzeige und ist überglücklich. Warum sollte er fürchten, in eine Falle zu geraten? Er hat nicht den geringsten Grund zur Annahme, dass der Verlust des Rings mit dem Mord in Verbindung gebracht werden könnte, und wird sein Eigentum abholen wollen. In weniger als einer Stunde kann er hier sein.«

»Und dann?«

»Dann lassen Sie mich nur – ich mach das schon. – Haben Sie eine Waffe?«

»Ich hab meinen Dienstrevolver mit Patronen.«

»Auf jeden Fall reinigen und laden; wir haben es mit einem Verzweifelten zu tun. Ich hoffe, ich kann ihn überrumpeln, aber es ist immer besser, vorbereitet zu sein.«

Ich ging in mein Schlafzimmer und folgte seinem Rat. Als ich mit der Waffe in der Hand wieder eintrat, fand ich den Tisch abgeräumt und Holmes bei seiner Lieblingsbeschäftigung – er kratzte auf der Geige.

»Das Netz zieht sich zusammen«, sagte er. »Eben kam aus Amerika eine Antwort auf mein Telegramm. Meine Ansicht scheint den Fall zu treffen.«

»Und die wäre?« fragte ich eifrig.

»Bei der Geige muss ich wirklich neue Saiten aufziehen lassen«, murmelte er vor sich hin. »Stecken Sie Ihre Waffe wieder ein.

Wenn der Mensch kommt«, fuhr er gelassen fort, »so sprechen Sie mit ihm ganz normal wie immer; sehen Sie ihn auch überhaupt nicht forschend an, damit er keinen Verdacht schöpft.«

»Es ist schon acht vorbei«, sagte ich mit Blick auf meine Uhr.

»In wenigen Minuten ist er hier. Öffnen Sie die Tür einen Spaltbreit und stecken Sie den Schlüssel von innen ins Schlüsselloch. Vielen Dank! Dies seltsame alte Buch hab ich gestern bei einem Bookinisten aus der Kiste gefischt, De jure inter Gentes – veröffentlicht in lateinischer Sprache in Lüttich in den Niederlanden im Jahr 1642. Der Kopf König Charles’ I. saß noch fest auf seinen Schultern, als dies kleine braune Bändchen erschienen ist.«

»Wer hat es gedruckt?«

»Philippe de Croy, wer immer das gewesen sein mag. Auf dem Vorsatz steht ziemlich verblasst: Ex libris Gulielmi Whyte. Wer wohl dieser Gulielmi Whyte war? Wahrscheinlich ein Anwalt aus dem 17. Jahrhundert. Seine Handschrift hat sowas Rechtsgedrehtes. Ich glaube, da kommt jemand.«

Draußen wurde heftig geklingelt, Sherlock Holmes stand geräuschlos auf und schob seinen Stuhl näher zur Tür. Wir hörten, wie die Haushälterin durch den Flur ging und die Haustür öffnete.

»Wohnt hier ein Doktor Watson?« fragte eine laute, etwas scharfe Stimme; dann wurde die Tür geschlossen, und es kam jemand mit schlürfendem Schritt die Treppe herauf. Verwundert horchte mein Gefährte auf den langsamen, unsicheren Gang im Korridor. Es klopfte leise.

 

»Herein!« rief ich.

Die Tür ging auf, und statt des erwarteten gewalttätigen Menschen hinkte ein runzliges altes Mütterchen ins Zimmer, das uns, vom plötzlichen Lichtschein geblendet, mit matten, trüben Augen anblinzelte.

Während die Alte stumm vor uns stand und mit zitternden Fingern in ihrer Tasche kramte, nahm das Gesicht meines Gefährten einen so trostlosen Ausdruck an, dass ich nur mit Mühe meine Fassung wahren konnte. Jetzt zog sie ein Zeitungsblatt heraus und deutete auf unsere Anzeige.

»Deswegen komme ich, Gentlemen«, sagte sie mit tiefem Knicks, »der goldene Ehering von der Brixton Road gehört meiner Tochter Sally. Sie ist erst seit elf Monaten verheiratet, und wenn ihr Mann nach Hause kommt – er ist nämlich Proviantmeister auf einem Dampfer bei der Unions Linie – und sie hat ihren Ring nicht mehr, dann gibt’s echten Ärger. Schon an guten Tagen kann er sehr schroff sein, besonders wenn er was getrunken hat. Das kam nämlich so: Gestern Abend war sie im Zirkus mit –«

»Ist das der verlorene Ring?« fragte ich.

»Unser Herrgott sei gepriesen«, rief die Alte. »Wie wird sich Sally freuen! Ja, das ist ihr Ring.«

Ich ergriff einem Bleistift: »Wo wohnen Sie?«

»In Houndsditch, Duncan Street 13. Ein weiter Weg von hier.«

»Wenn man von Houndsditch in den Zirkus will, kommt man aber nicht durch die Brixton Road«, mischte sich Sherlock Holmes in das Gespräch.

Die Alte warf ihm einen scharfen Blick aus ihren kleinen, rot geränderten Augen zu. »Der Gentleman hat mich nach meiner Adresse gefragt. Sally wohnt zur Untermiete in Peckham, Mayfield Place Nummer 3.«

»Und Sie heißen? –«

»Mein Name ist Sawyer – sie heißt Dennis, weil sie Tom Dennis geheiratet hat. Ein wackerer, sauberer Bursche, solange er auf See ist; kein Proviantmeister gilt mehr bei den Herren von der Dampfschiffsgesellschaft. Aber kommt er an Land, tun’s ihm die Weiber an und die Branntweinschenken und –«

»Hier ist Ihr Ring, Mrs Sawyer«, unterbrach ich sie auf ein Zeichen meines Freundes. »Er gehört ohne Zweifel Ihrer Tochter, und ich freue mich, ihn der rechtmäßigen Eigentümerin zurückgeben zu können.«

Allerlei Dankesworte und Segenswünsche murmelnd, versenkte die Alte den Ring in ihrer Tasche und schlurfte wieder zur Tür hinaus und die Treppe hinunter. Kaum war sie fort, so sprang Sherlock Holmes auf und verschwand in seinem Zimmer. Eine Minute später erschien er mit Hut, Schal und Mantel. »Ich muss ihr nach«, sagte er, »sie steckt mit ihm unter einer Decke und wird mir auf die Spur helfen. Bitte bleiben Sie auf, bis ich wieder da bin.«

Als Holmes die Treppe hinunter ging, hatte sich die Haustür eben hinter der Alten geschlossen. Vom Fenster aus konnte ich sehen, wie sie sich in langsamen Schlurfschritten entfernte, während ihr Verfolger auf der andern Straßenseite hinterher schlich. »Entweder ist seine ganze Theorie falsch«, dachte ich, »oder ihm gelingt jetzt des Rätsels Lösung.«

Es hätte der Aufforderung, ich solle seine Rückkehr abwarten, nicht bedurft, denn von Schlaf konnte so lange keine Rede sein, bis ich wusste, wie sein Unternehmen ausgegangen war. Um fast 9 Uhr hatte er sich auf den Weg gemacht. Ich steckte mir eine Pfeife an und blätterte in Henri Murgers Das Leben der Bohème. Es schlug zehn, und ich hörte, wie das Dienstmädchen zu Bett ging; um elf Uhr kam die Wirtin durch den Korridor, um sich zurückzuziehen; erst kurz vor Mitternacht knarrte unten der Schlüssel in der Haustür.

Als Holmes bei mir eintrat, sah ich es ihm gleich an, dass er kein Glück gehabt hatte. Verdruss und heitere Laune stritten in seinen Gesichtszügen um die Herrschaft, bis schließlich Letztere die Oberhand behielt und er in ein herzhaftes Gelächter ausbrach.

»Um nichts in der Welt möchte ich, dass die Herren von Scotland Yard von meinem Erlebnis Wind bekommen«, rief er und sank in seinen Sessel. »Ich habe sie so oft gehänselt, dass sie froh wären, sich einmal schadlos halten zu können. Da ich aber weiß, dass ich ihnen am Ende aller Enden doch den Rang ablaufe, kann ich trotzdem lachen.«

»Was ist denn passiert?« fragte ich.

»Sie sollen die ganze Geschichte hören, so wenig ruhmvoll sie auch für mich ist: Die Person war kaum los gegangen, da fing sie an zu hinken und kam allem Anschein nach nicht mehr recht vom Fleck. Sie blieb stehen und winkte eine Droschke herbei. Um die Adresse zu hören, lief ich näher heran, doch das hätte ich mir sparen können. ›Nach Houndsditch, Duncan Street 13‹, rief sie, dass es jeder hören konnte. Kaum war sie eingestiegen, sprang ich hinten auf; das ist eine Kunst, die jeder Detektiv gründlich beherrschen sollte. Die Droschke rasselte in gleichmäßiger Geschwindigkeit fort. Schon vor dem Fahrtziel war ich abgesprungen und schlenderte gemächlich die Straße hinunter. Jetzt hielt der Kutscher, stieg vom Kutschbock, öffnete die Wagentür und wartete. Aber heraus kam niemand. Als ich näher trat, sah ich ihn wie wild in der leeren Droschke herumfahren, wobei er die kräftigsten Verwünschungen hören ließ, die mir je zu Ohren gekommen sind. Von der Insassin keine Spur. Ich fürchte, er wird lange auf sein Fahrgeld warten müssen. Das Haus Nummer 13 gehört, wie ich erfuhr, einem ehrsamen Tapezierer Namens Keswig, von einer Mrs Sawyer oder Mrs Dennis hatte dort keiner je etwas gehört.«

»Sie wollen doch nicht behaupten«, rief ich starr vor Staunen, »dass dies alte, gebrechliche Weib bei voller Fahrt aus dem Wagen gesprungen ist, und dass weder der Kutscher noch Sie etwas davon gemerkt haben?«

»Zum Teufel mit dem alten Weib«, rief Holmes ärgerlich. »Die alten Weiber waren wir, dass wir uns so reinlegen ließen. Es muss ein junger, noch dazu ein sehr gelenkiger Mensch gewesen sein und ein vollendeter Schauspieler. Die Verkleidung war ganz vorzüglich! Ohne Zweifel hatte er den Verfolger bemerkt und ist mir so entwischt. Ein Beweis mehr, dass unser Mann nicht so allein steht wie vermutet, sondern Freunde hat, die bei ihrem Einsatz für ihn auch was riskieren. Nun aber schnell zu Bett, Doktor, Sie sehen ganz erschöpft aus.«

Ich war in der Tat todmüde und folgte seinem Rat. Holmes blieb bei der glimmenden Glut sitzen. Noch bis tief in die Nacht hörte ich die schwermütigen Geigenklänge und wusste, dass er immer wieder das selbe Problem in seinen Gedanken hin und her wälzte, dessen Lösung er sich nun einmal in den Kopf gesetzt hatte.

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