Eine Studie in Scharlachrot

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»Sie würden Ihr Geld verlieren«, erwiderte Holmes ruhig. »Was übrigens den Artikel betrifft, der ist von mir.«

»Von Ihnen?«

»Ja, ich habe ein besonderes Talent zur Beobachtung und Schlussfolgerung. Die Theorien, die ich hier auseinandersetze und die Ihnen so ungereimt erscheinen, finden in der Praxis ihre volle Bestätigung, ja, was noch mehr ist – ich verdiene mir damit mein tägliches Brot und die Butter dazu.«

»Wie ist das möglich?« fragte ich unwillkürlich.

»Mein Handwerk beruht darauf. Ich bin beratender Kriminalist – wenn Sie verstehen, was das heißt –, vielleicht bin ich der Einzige meiner Art. Es gibt hier in London jede Menge Detektive, die teils im Dienst der Polizei stehen, teils von Privatpersonen eingesetzt werden. Wenn diese Herren nicht mehr ein noch aus wissen, kommen sie zu mir, und ich setze sie auf die richtige Spur. Sie bringen mir das ganze Beweismaterial, und ich kann ihnen dann oft mit Hilfe meiner Kenntnis der Geschichte des Verbrechens den rechten Weg zu weisen. Die Verbrechen der Menschen haben im Allgemeinen eine starke Familienähnlichkeit untereinander, und wenn man die Einzelheiten von tausend Verbrechen im Kopf hat, so müsste es ein Wunder sein, wenn sich nicht auch das tausendunderste lösen ließe. Lestrade ist ein bekannter Detektiv. Er hat sich kürzlich in eine Falschmünzergeschichte verrannt und mich deshalb so häufig aufgesucht.«

»Und die anderen?«

»Die meisten kommen auf Empfehlung von Privatagenten. Jeder von ihnen hat irgendeine Sorge auf dem Herzen und holt sich bei mir Rat. Sie erzählen mir ihre Geschichte und hören auf meine erklärenden Bemerkungen, und danach richtet sich mein Honorar.«

»Und Sie können wirklich, während Sie ruhig auf Ihrem Zimmer bleiben, die verwickelten Knoten lösen, die andere nicht entwirren können, selbst wenn sie mit eigenen Augen gesehen haben, wo es geschehen ist?«

»Das habe ich oft getan; es ist bei mir eine Art innerer Eingebung. Bei einem besonders schwierigen Fall besehe ich mir den Tatort wohl auch einmal selbst. Ich habe so einige Kenntnisse, die mir die Arbeit wesentlich erleichtern. Meine große Übung in der Deduktion, wie sie der Artikel darlegt, ist für mich von praktischem Wert. Mir ist die Beobachtung zur zweiten Natur geworden. Als ich Ihnen bei unserer ersten Begegnung sagte, Sie kämen aus Afghanistan, schienen Sie sich darüber zu wundern.«

»Irgendjemand muss es Ihnen gesagt haben.«

»Ganz und gar nicht; das hab ich einfach gesehen. Mein Gedankengang ist meist sehr schnell, mir kommen die Schlüsse in ihrer Reihenfolge kaum zum Bewusstsein. Und doch steht alles in logischem Zusammenhang. Ich folgerte etwa so: Der Herr sieht aus wie ein Mediziner und hat dabei eine soldatische Haltung. Er muss Militärarzt sein. Die dunkle Gesichtsfarbe hat er nicht von Natur, denn am Handgelenk ist seine Haut weiß, also kommt er geradeswegs aus den Tropen. Dass er allerlei Beschwerden durchgemacht hat, zeigen seine abgezehrten Gesichtszüge; sein linker Arm muss verwundet gewesen sein, er hält ihn unnatürlich steif. In welcher Gegend der Tropen kann ein englicher Militärarzt sich Wunden und Krankheit geholt haben? – Versteht sich von selbst in Afghanistan. – In weniger als einer Sekunde war ich zu dem Schluss gelangt, der Sie in Erstaunen setzte.«

»Wie Sie die Sache erklären, scheint sie sehr einfach. Sie erinnern mich an Edgar Allan Poes Dupin. Ich hatte keine Ahnung, dass solche Gestalten nicht nur in der Literatur vorkommen, sondern auch wirklich existieren.«

Sherlock Holmes stand auf und zündete seine Pfeife an. »Zweifellos glauben Sie, mir ein Kompliment zu machen, wenn Sie mich mit Dupin vergleichen«, sagte er. Meiner Meinung nach war Dupin nicht besonders helle im Kopf. Er hatte eine gwisse analytische Fertigkeit, sicher, aber er war nicht so eine Lichtgestalt, als die Poe ihn erscheinen lassen wollte.«

»Haben Sie Gaboriau gelesen?« fragte ich. »Entspricht Lecoq eher Ihrer Vorstellung von einem Detektiv?«

Sherlock Holmes schnaubte verächtlich. »Lecoq war ein schlichter Stümper«, sagte er verärgert. »Er hatte nur eins: echte Ausdauer. Sein Problem war, wie identifiziere ich einen unbekannten Gefangenen. Ich hätte das in 24 Stunden gelöst, er brauchte dazu sechs Monate. Ich könnte ein Lehrbuch für Detektive verfassen mit dem Titel:

WAS ZU VERMEIDEN WÄRE.«

Ich sah auf die belebte Straße hinunter. Ich war verstimmt, zwei Helden, die ich bisher bewundert hatte, so von oben herab traktiert zu sehen. »Er mag ja superschlau sein, aber er ist auch verdammt arrogant«, sagte ich mir.

»Wenn es doch nur noch Verbrechen gäbe, zu deren Entdeckung man besonderen Scharfsinn braucht«, fuhr Holmes missmutig fort. »Ich weiß, es fehlt mir nicht an Begabung, um meinen Namen berühmt zu machen. Kein Mensch auf Erden hat jemals so viel natürliche Anlage für mein Fach besessen oder ein so tiefes Studium darauf verwendet. Aber was nützt mir das alles? Die Verbrecher sind sämtlich solche Stümper und ihre Zwecke so durchsichtig, dass ein gewöhnlicher Polizist von Scotland Yard sie mit Leichtigkeit durchschauen kann.«

Es ärgerte mich, ihn mit solcher Selbstüberschätzung reden zu hören. Um der Unterhaltung eine andere Wendung zu geben, trat ich ans Fenster.

»Was mag wohl der Mann da drüben suchen?« fragte ich, auf einen einfach gekleideten, stämmigen Menschen deutend, der sämtliche Häusernummern auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu mustern schien. Er hielt einen großen blauen Umschlag in der Hand, den er offenbar abliefern sollte.

»Sie meinen den Marine-Sergeanten a. D.?« fragte Sherlock Holmes.

Ich machte große Augen. »Er hat gut mit seiner Weisheit prahlen«, dachte ich bei mir, »wer will ihm denn beweisen, dass er falsch geraten hat?«

In dem Augenblick hatte der Mann, den wir beobachteten, unsere Nummer erblickt und kam rasch über die Straße. Gleich darauf klopfte es laut unten an der Haustür, man vernahm eine tiefe Stimme und dann schwere Schritte auf der Treppe.

Der Mann trat ein.

»Für Mr Sherlock Holmes«, sagte er und händigte meinem Gefährten den Brief aus.

Ich ergriff die Gelegenheit, um Holmes von seinem Sockel zu stoßen. An die Möglichkeit hatte er wohl nicht gedacht, als er den raschen Schuss ins Blaue tat.

»Darf ich Sie wohl fragen, was Sie für ein Geschäft betreiben?« redete ich den Boten freundlich an.

»Dienstmann«, lautete die kurze Antwort. »Die Uniform ist gerade beim Schneider zum Ausbessern.«

»Und früher waren Sie –« fuhr ich mit einem schlauen Blick auf Holmes fort.

»Sergeant, Sir. Royal Navy, Sir. – Keine Rückantwort, Sir? – Zu Befehl, Sir.«

Er schlug zackig die Hacken aneinander, salutierte und weg war er.

3. KAPITEL

Das Geheimnis von Lauriston Gardens

Dieses neue Beispiel von der praktischen Anwendbarkeit der Theorien meines Freundes überraschte mich sehr und mein Respekt vor seiner Beobachtungsgabe wuchs ins Wunderbare. Dennoch beschlich mich ein leiser Argwohn, ob die Sache nicht doch am Ende zwischen den beiden abgekartet war, aber zu welchem Zweck? – Als ich mich zu Holmes umwandte, hatte er eben den Brief durchgelesen und starrte mit ausdruckslosem Blick, wie geistesabwesend, vor sich hin.

»Wie in aller Welt haben Sie denn das wieder erraten?« fragte ich.

»Erraten – was?« rief er gereizt.

»Nun, dass der Mann ein abgedankter Marine-Sergeant war.«

»Jetzt ist keine Zeit für Spielereien«, antwortete er schroff, fuhr aber gleich darauf lächelnd fort: »Entschuldigen Sie meine Grobheit, Sie haben meinen Gedankengang unterbrochen; doch, das schadet vielleicht nichts. – Also, Sie haben wirklich nicht sehen können, dass der Mann Sergeant in der Marine gewesen ist?«

»Wie sollte ich?«

»Das ist doch ganz einfach. Es ist nur nicht so leicht zu erklären, wie ich dazu komme. Dass zwei mal zwei vier ist, leuchtet jedem ein, wenn Sie das aber beweisen sollen, wäre das nicht so einfach. Schon beim ersten Blick über die Straße hatte ich den blau tätowierten Anker auf der Hand des Mannes gesehen und die See gewittert, seine militärische Haltung verriet mir den Marinesoldaten. Er trug den Kopf hoch, schwang seinen Stock und trat damit fest und befehlsgewohnt auf; ein Mann in mittleren Jahren – jeder Zoll ein Sergeant.«

»Wunderbar!« rief ich.

»Ganz alltäglich«, versetzte Holmes, doch stand ihm ins Gesicht geschrieben, dass er sich geschmeichelt fühlte. »Eben hab ich noch behauptet«, fuhr er fort, »es gäbe keine geheimnisvollen Verbrechen. Das scheint ein Irrtum zu sein –« Er schob mir den Brief hin, den der Dienstmann gebracht hatte.

»Wie schrecklich!« rief ich.

»Es klingt allerdings ungewöhnlich; würden Sie mir den Brief noch einmal laut vorlesen?«

Der Brief lautete wie folgt:

Sehr geehrter Mr Sherlock Holmes!

Heute Nacht hat sich in 3 Lauriston Gardens, Ecke Brixton Road, ein schlimmer Fall zugetragen. Unser Posten sah dort auf seinem Rundgang gegen zwei Uhr einen Lichtschimmer, und da das Haus unbewohnt ist, schöpfte er Verdacht.

Er fand die Tür offen und in dem unmöblierten Vorzimmer den Leichnam eines gut gekleideten Herrn am Boden liegen. »Enoch J. Drebber, Cleveland, Ohio U.S.A.« stand auf den Visitenkarten, die er in seiner Brusttasche trug. Eine Beraubung ist nicht erfolgt und die Todesursache noch unermittelt, denn es finden sich zwar Blutspuren im Zimmer, aber keine Wunde an dem Toten. Wir wissen nicht, wie er in das leere Haus gekommen ist.

Wenn Sie geneigt sind, vor zwölf Uhr den Schauplatz zu besichtigen, so finden Sie mich dort. Ich lasse alles in status quo bis zu Ihrer Ankunft. Sollten Sie verhindert sein, werde ich Ihnen alle Einzelheiten berichten, Sie würden mir einen großen Gefallen erweisen, wenn Sie mir Ihre Ansicht mitteilen wollten.

 

Ihr ergebener

Tobias Gregson.

»Gregson ist der schlauste Fuchs bei Scotland Yard«, bemerkte mein Freund. »Er und Lestrade sind rasch und tatkräftig, aber durch nichts aus dem üblichen Trott zu bringen; dabei tragen beide fortwährend den Dolch im Gewande und sind eifersüchtig wie zwei professionelle Schönheiten. Wenn beide dieselbe Fährte verfolgen, gibt es einen Riesenspaß.«

Seine behagliche Ruhe schien mir unbegreiflich. »Da ist doch sicher kein Augenblick zu verlieren«, rief ich, »soll ich Ihnen eine Droschke holen?«

»Noch weiß ich gar nicht, ob ich hingehe. Mich überkommt gerade ein Anfall von Trägheit, und dann bin ich der faulste Kerl unter der Sonne; ein andermal kann ich freilich flink zur Stelle sein.«

»Aber das ist doch ein Fall, wie Sie ihn sich gewünscht haben.«

»Ja; aber was kommt schließlich dabei heraus, mein Freund? Selbst wenn ich den Knoten löse, so gehen doch Ruhm und Ehre an Gregson, Lestrade & Co. Das hat man davon, wenn man nicht beamtet ist.«

»Aber er bittet Sie ja um Ihre Hilfe.«

»Ja, er weiß, dass ich mehr davon verstehe als er, und gibt das mir gegenüber auch zu; doch würde er sich lieber die Zunge abbeißen, als vor einem Dritten meine Überlegenheit anzuerkennen. Wir wollen uns die Sache aber doch mal näher ansehen. Ich übernehme sie vielleicht auf eigene Faust. Dann kann ich die beiden wenigstens auslachen, wenn ich sonst nichts davon habe. Also vorwärts!«

Er fuhr rasch in seinen Mantel und ging so geschäftig hin und her, dass ich wohl sah, die Tage der Lethargie waren vorbei und die der Tatkraft zurückgekehrt.

»Wo ist Ihr Hut?« fragte er.

»Soll ich denn mitkommen?«

»Wenn Sie nichts Besseres vorhaben.«

Schon im nächsten Augenblick saßen wir in einer Droschke und rasten Richtung Brixton Road.

Es war ein bewölkter, nebliger Morgen, alle Häuser lagen gehüllt in einen Schleier von gleicher grauer Schmutzfarbe wie die Straßen. Jetzt ließ die Laune meines Gefährten nichts mehr zu wünschen übrig; er sprach mit großer Geläufigkeit von Cremoneser Geigen und dem Unterschied zwischen einer Stradivarius und einer Amati. Ich verhielt mich ziemlich still; das trübe Wetter und unser anstehendes trauriges Geschäft drückten auf mein Gemüt.

»Es scheint, dass Sie sich in Ihren Gedanken noch gar nicht mit der Sache beschäftigen, um die es geht«, unterbrach ich endlich Holmes’ musikalische Ergießungen.

»Mir fehlen noch alle Einzelheiten«, erwiderte er. »Ein großer Irrtum, sich eine Theorie zu bilden, ehe man nicht sämtliches Beweismaterial in Händen hält; das trübt die Urteilskraft.«

»Sie werden bald reichlich Gelegenheit bekommen, Ihre Beobachtungen anzustellen«, sagte ich. »Wir sind bereits in der Brixton Road, und das da muss das Haus sein, wenn ich nicht sehr irre.«

»Kein Zweifel. – Halt, Kutscher, halt! –« Wir waren noch ein ziemliches Stück entfernt, doch er bestand darauf, dass wir ausstiegen und das letzte Ende zu Fuß zurücklegten.

Das Haus Nummer 3 bot einen düstern, unheimlichen Eindruck. Es gehörte zu einer Gruppe von vier Gebäuden, die etwas abseits der Straße lagen; zwei waren bewohnt, zwei standen leer. An den trüben Fensterscheiben der Letzteren fielen nur hier und da die angeklebten Zettel ins Auge, auf denen Zu vermieten stand. Jedes der Häuser hatte ein kleines Vorgärtchen, mit wenigen kränklichen Pflanzen auf den Beeten; mitten hindurch führte ein schmaler mit Kies bestreuter Pfad von gelblichem Lehm, der durch die Regengüsse der vergangenen Nacht völlig aufgeweicht worden war. Eine drei Fuß hohe Backsteinmauer, die ein hölzernes Gitter trug, bildete die Einfassung des Gartens. Am Gittertor lehnte ein stämmiger Polizist, von einer Schar Neugieriger umringt, die ihre Hälse reckten und sich vergeblich abmühten, um zu sehen, was in dem Haus vorging.

Ich hatte erwartet, Sherlock Holmes würde sich sofort hinbegeben, um seine Untersuchungen zu beginnen. Nichts schien ihm jedoch ferner zu liegen. Mit einer Aura von Nonchalance, die mir unter diesen Umständen an Blasiertheit zu grenzen schien, schlenderte er vor dem Haus auf und ab, den Blick bald auf den Boden gerichtet, bald in die Luft, bald wieder zum Gitterzaun oder zu den gegenüberliegenden Häusern. Nach einer Weile betrat er den Kiesweg, das heißt, er ging auf dem Grasstreifen neben dem Pfad, die Augen forschend zur Erde gesenkt. Zweimal blieb er lächelnd stehen, und ein Ausruf der Befriedigung entfuhr ihm. Es waren zwar viele Fußspuren in dem nassen Lehmboden eingedrückt, sie konnten jedoch von den Polizisten herrühren, die gekommen und wieder gegangen waren. Wie mein Gefährte hoffen konnte, da noch etwas Wesentliches zu entdecken, wollte mir nicht einleuchten; allein nach den Proben seiner Beobachtungskunst, die ich bereits erhalten hatte, musste ich mir sagen, dass er ohne Zweifel vieles sah, was mir gänzlich verborgen blieb.

An der Haustür kam uns ein großer, blasser, flachshaariger Mann mit einem Notizbuch entgegen. Er eilte auf Holmes zu und schüttelte ihm herzlich die Hand. »Sehr freundlich von Ihnen, dass Sie kommen konnten«, sagte er, »alles ist noch ganz unberührt geblieben.«

»Nur nicht der Fußweg«, erwiderte mein Freund. »Eine Büffelherde hätte ihn kaum mehr zertrampeln können. Natürlich haben Sie erst genaue Beobachtungen angestellt, Gregson, bevor Sie das zuließen.«

»Ich hatte drinnen alle Hände voll zu tun«, sagte der Detektiv ausweichend. »Mein Kollege Lestrade ist hier; ich dachte, er würde sich darum kümmern.«

Holmes zog die Augenbrauen spöttisch in die Höhe und sah mich an. »Wo Männer wie Sie und Lestrade an Ort und Stelle sind, kann ein Dritter kaum noch etwas finden«, bemerkte er.

Gregson grinste selbstgefällig und rieb sich die Hände. »Wir haben getan, was wir konnten; es ist aber auch ein verzwickter Fall – ich kenne ja Ihre Vorliebe für dergleichen.«

»Sind Sie in einer Droschke hergekommen?«

»Nein, Sir.«

»Aber Lestrade?«

»Auch nicht, Sir.«

»So? – Dann können wir jetzt wohl die Räume ansehen.«

Wie das zusammenhing, war mir nicht recht ersichtlich, auch Gregson machte ein verwundertes Gesicht, während er Holmes in das Haus folgte.

Ein sehr staubiger, gedielter Korridor führte zur Küche und Speisekammer, rechts und links befanden sich noch zwei Türen. Die eine mochte wohl wochenlang nicht geöffnet worden sein, die andere führte in das Zimmer, wo das geheimnisvolle Verbrechen verübt worden war. Holmes trat ein, ich begleitete ihn, von unheimlichen Gefühlen ergriffen, wie sie die Gegenwart des Todes uns einzuflößen pflegt. Das große, viereckige Gemach sah noch geräumiger aus, weil keine Möbel darin standen. Die grelle Tapete an den Wänden war hie und da mit Schimmel überzogen, an einigen Stellen hing sie in Fetzen herunter, so dass der helle Kalkbewurf zum Vorschein kam. Der Türe gegenüber befand sich ein großer, offener Kamin mit einem Gesims, an dessen einer Ecke ein rotes Wachslichtstümpchen klebte. Das einzige Fenster, das den Raum erhellte, war mit einer Schmutzkruste überzogen und ließ nur ein mattes, ungewisses Licht hindurch. Die düstere, trübe Beleuchtung passte so recht zu der dicken Staubschicht, die auf dem Dielenboden des Zimmers lag.

Alle diese Einzelheiten fielen mir jedoch erst später auf. Anfangs richtete ich meine ganze Aufmerksamkeit auf die leblos ausgestreckte Gestalt am Boden, den stieren Blick nach der Decke gerichtet. Es war ein mittelgroßer Mann, Mitte vierzig, breitschultrig, mit krausem schwarzem Haar und kurz gestutztem Bart. Er trug Rock und Weste von feinstem Doppeltuch, helle Hosen und tadellose Kragen und Manschetten. Dazu gehörte wohl auch der glatt gebürstete Zylinder neben ihm. Er hatte die Arme weit von sich gestreckt, die Fäuste geballt und die Beine fest übereinander geschlagen, wahrscheinlich im Todeskampf. In seinen starren Zügen lag ein Ausdruck des Entsetzens und eines so grimmigen Hasses, wie ich ihn noch nie zuvor in einem Gesicht gesehen hatte. Diese bösartige Miene, dazu die niedrige Stirn, die breite Stumpfnase und das vorstehende Kinn gaben dem Toten ein widerlich affenartiges Aussehen, das durch seine gekrümmte, unnatürliche Lage noch abschreckender wurde. Ich habe den Tod schon in mancher Gestalt gesehen, aber nie hat er mir einen so grauenvollen Eindruck gemacht wie in jenem öden Haus in der Londoner Vorstadt.

Inspektor Lestrade hatte uns an der Zimmertüre empfangen. »Der Fall wird Aufsehen machen, Sir«, sagte er mit Nachdruck; »ich bin wahrhaftig kein Neuling mehr, aber so etwas habe ich noch nie gesehen.«

»Noch suchen wir vergeblich nach dem Tathergang«, fiel Gregson ein.

Sherlock Holmes war neben der Leiche niedergekniet, die er genau untersuchte.

»Eine Wunde haben Sie also nicht entdeckt?« fragte er, auf die zahlreichen Blutspuren am Fußboden deutend.

»Nein, es ist keine zu finden«, versicherten beide.

»So rührt das Blut also von einem andern Menschen her, von dem Mörder vermutlich, wenn ein Mord verübt worden ist. Der Fall erinnert mich an Van Jansens Tod in Utrecht im Jahr 1834. Haben Sie den im Gedächtnis, Gregson?«

»Nein, ich weiß nichts davon.«

»Sie sollten die Geschichte nachlesen. Es gibt nichts Neues unter der Sonne, alles ist schon mal da gewesen.«

Während er sprach, fuhren seine geschickten Finger über all umher; er drückte, befühlte, betastete alles mit solcher Schnelligkeit, dass ich kaum begriff, wie er die einzelnen Ergebnisse seiner Untersuchung zusammenbringen wollte. Sein Blick trug dabei denselben geistesabwesenden Ausdruck, den ich schon öfter an ihm bemerkt hatte. Schließlich roch er an den Lippen des Toten und betrachtete die Sohlen seiner kostspieligen Lederstiefel.

»Liegt er noch genau so, wie man ihn gefunden hat?« fragte er.

»Wir haben ihn untersucht, ohne ihn groß von der Stelle zu bewegen.«

»Gut, dann lassen Sie ihn jetzt ins Leichenhaus bringen. Es gibt hier derzeit nichts weiter zu ermitteln.«

Eine Tragbahre stand schon bereit, und auf Gregsons Ruf kamen vier seiner Leute herbei. Als sie die Leiche aufluden, fiel ein Ring zu Boden und rollte über die Diele. Lestrade fuhr wie ein Raubvogel darauf zu, hob ihn auf und betrachtete ihn verblüfft.

»Der Ehering einer Frau – wie kommt der hierher?« rief er.

Wir alle starrten auf den goldenen Reif auf seiner flachen Hand. Welche Braut mochte den wohl getragen haben?

»Die Angelegenheit wird durch diesen Fund noch verwickelter«, bemerkte Gregson.

»Er könnte sie aber auch vereinfachen«, äußerte Holmes bedächtig. »Jedenfalls nützt es nichts, den Ring noch länger anzusehen; wir werden nicht klüger davon. Haben Sie sonst nichts in den Taschen gefunden?«

»Im Flur liegt alles beisammen«, erwiderte Gregson, »kommen Sie!« Wir verließen das Zimmer. »Hier ist der ganze Inhalt«, fuhr er fort und deutete auf einen Haufen verschiedener Gegenstände. »Eine goldene Uhr No. 97163 von Barraud in London, eine Prinz-Albert-Uhrkette von massivem Gold, ein goldener Ring mit dem Freimaurerzeichen; ein Bulldoggen-Kopf mit Rubinaugen als goldene Anstecknadel; ein Visitenkartentäschchen aus russischem Leder, auf den Karten steht »Enoch J. Drebber aus Cleveland«, das stimmt mit dem Zeichen EJD der Wäsche überein. Kein Portemonnaie, aber loses Geld in der Westentasche in Höhe von sieben Pfund dreizehn Shilling. Eine Taschenbuchausgabe von Boccaccios Decamerone, auf dem Titelblatt der Name Joseph Stangerson. Zwei Briefe, einer an E. J. Drebber, der andere an Joseph Stangerson.«

»Wohin adressiert?«

»American Exchange, Strand. Beide Briefe kommen von der Dampfschiffgesellschaft Guion und betreffen die Abfahrt ihres Dampfers von Liverpool. Offenbar stand das Opfer im Begriff, nach New York zurückzukehren.«

»Haben Sie schon über jenen Stangerson Erkundigungen eingezogen?«

»Versteht sich«, versetzte Gregson. »An sämtliche Zeitungen sind Anzeigen geschickt worden; auch ist einer meiner Leute zu American Exchange gegangen, ich erwarte ihn jeden Augenblick zurück.«

»Haben Sie in Cleveland angefragt?«

»Ja, die Depesche ist heute früh abgegangen.«

»Wie war der Wortlaut?«

»Wir haben einfach den Vorfall mitgeteilt und um sachdienliche Hinweise zur Person gebeten.«

 

»Haben Sie nicht über einen Punkt, der Ihnen besonders wichtig schien, genauere Auskunft verlangt?«

»Ich habe nach Stangerson gefragt.«

»Weiter nichts? Liegt nicht eine Tatsache vor, um die sich der ganze Fall dreht? Wollen Sie nicht noch einmal telegraphieren?«

»Meine Depesche enthielt alles Erforderliche«, versetzte Gregson gekränkt.

Sherlock Holmes lachte in sich hinein und wollte noch eine Bemerkung machen, als Lestrade zu uns in den Flur kam.

»Soeben habe ich eine Entdeckung gemacht, Gregson«, sagte er und rieb sich selbstgefällig die Hände. »Hätte ich nicht die Wände genau untersucht, wären wir kaum darauf gekommen.«

Die Augen des kleinen Detektivs funkelten vor innerem Triumph, weil er seinem Kollegen eins auswischen konnte. »Kommen Sie«, sagte er, in das Zimmer zurückeilend, das uns weit weniger grausig erschien, seit die Leiche fortgeschafft war. »So, jetzt treten Sie dorthin.«

Er strich ein Schwefelholz an seiner Stiefelsohle an und hielt es gegen die Wand. In einer Ecke war die Tapete abgerissen und auf dem hellen Kalkbewurf, der darunter zum Vorschein kam, stand mit großen, blutroten Buchstaben ein Wort:

Rache

»Das hat der Mörder mit seinem eigenen Blut geschrieben«, fuhr Lestrade fort, »hier an dieser Seite sieht man noch, wo es hinuntergetropft ist. Einen besseren Beweis, dass kein Selbstmord vorliegt, könnten wir gar nicht haben. Sehen Sie das abgebrannte Licht auf dem Kaminsims? Bei seinem Schein ist das Wort in dieser dunklen Ecke geschrieben worden!«

»Sie haben ja das Wort gefunden, aber können Sie auch erklären, was das bedeuten soll?« fragte Gregson spitzig.

»Das bedeutet: Der Mörder wollte den weiblichen Vornamen RACHEL an die Wand schreiben, wurde aber vorzeitig daran gehindert. Wir müssen diese Rachel finden, und der Fall ist gelöst.«

Hier brach Sherlock Holmes in lautes Lachen aus.

»Sie mögen gut lachen haben, Mr Sherlock Holmes, aber am Schluss ist der erfahrene Jagdhund doch der beste.«

»Ich muss mich wirklich bei Ihnen entschuldigen«, sagte Holmes und zog ein Vergrößerungsglas und einen Zollstock aus der Tasche. »Sie haben dies in der Tat als Erster herausgefunden, während ich noch keine Gelegenheit hatte, mich hier umzusehen. Sie erlauben?« Geräuschlos ging er hin und her; bald stand er still, bald kauerte er am Boden, einmal legte er sich sogar mit dem Gesicht platt auf die Dielen. Er war so vertieft, dass er uns ganz vergessen zu haben schien; er hielt dabei laufend leise Selbstgespräche, dazwischen stöhnte er laut auf, pfiff in selbstgefälliger Anerkennung vor sich hin. Er kam mir vor wie ein Jagdhund, der vor- und rückwärts durch das Dickicht springt, heult und winselt und keine Ruhe gibt, ehe er nicht die verlorene Fährte wieder aufgespürt hat. Wohl zwanzig Minuten lang setzte er seine Untersuchungen fort, maß mit größter Genauigkeit die Entfernung zwischen verschiedenen Punkten am Boden, die für mein Auge ganz unsichtbar waren, und dann die Höhe und Breite der Wände. Was er damit bezweckte, war mir unerklärlich. An einer Stelle las er behutsam ein Häufchen grauen Staubes von der Erde auf und verwahrte es sorgfältig in einem Briefumschlag. Zuletzt richtete er sein Vergrößerungsglas auf das rätselhafte Wort an der Wand und betrachtete jeden Buchstaben aufs Genaueste. Das Ergebnis schien ihn zu befriedigen, und er steckte das Glas wieder ein.

»Es heißt: Genie ist Fleiß«, bemerkte er lächelnd. »So falsch das an sich auch ist, auf die Detektiv-Arbeit lässt sich das anwenden!«

Gregson und Lestrade waren dem seltsamen Gebahren mit neugierigen, wenn auch etwas verächtlichen Blicken gefolgt. Sie schienen sich nicht klar zu machen, was ich längst wusste, dass nämlich Sherlock Holmes, selbst bei seinen scheinbar unbedeutendsten Handlungen, sein Ziel stets fest im Auge behielt.

»Nun, was halten Sie davon?« fragten beide in einem Atemzug.

»Sie sind auf so gutem Wege, Gentlemen«, erwiderte Holmes nicht ohne einen Hauch von Spott, »da wäre es größte Anmaßung meinerseits, wollte ich Ihnen meine Hilfe anbieten. Den Ruhm, der Ihren Verdiensten gebührt, sollen Sie auch allein ernten. Vielleicht kann ich Ihnen im weiteren Verlauf Ihrer Forschungen noch von Nutzen sein, dann stehe ich gern zu Diensten. Es wäre nur noch wünschenswert, wenn ich den Schutzmann sprechen könnte, der die Leiche gefunden hat. Sagen Sie mir doch bitte, wie er heißt und wo er wohnt.«

Lestrade schlug sein Notizbuch auf. »John Rance hat jetzt keinen Dienst; Sie werden ihn sicher in seiner Wohnung am Kennington Park Gate, Audley Court No. 46 finden.« Holmes notierte sich die Adresse.

»Kommen Sie mit, Doktor«, rief er mir zu, »wir machen einen Hausbesuch.« Dann verabschiedete er sich von den beiden. »Eines könnte Ihnen vielleicht noch einige Mühe ersparen«, sagte er. »Hier ist ein Mord begangen worden; der Täter ist sechs Fuß groß, im besten Mannesalter, hat verhältnismäßig kleine Füße, trug zur Tatzeit Stiefel mit breiten Spitzen und rauchte eine Trichinopoly-Zigarre. Er kam mit seinem Opfer in einer Droschke angefahren; von den Hufeisen des Pferdes waren drei alt, das am linken Vorderfuß ist neu. Der Mörder hat eine rötliche Gesichtsfarbe und ungewöhnlich lange Fingernägel an der rechten Hand. – Das sind nur ganz unbedeutende Einzelheiten, aber sie könnten Ihnen doch einige Anhaltspunkte geben.«

Lestrade und Gregson sahen einander ungläubig grinsend an.

»Wenn ein Mord vorliegt, wie ist denn der Mann umgebracht worden?« fragte Ersterer.

»Durch Gift«, gab Holmes zurück. »Und noch etwas: RACHE ist das deutsche Wort für Revenge. Nur dass Sie jetzt nicht weiter nach einer Miss Rachel suchen.«

Mit diesem Parther-Schuss schritt er davon, die beiden Rivalen blickten ihm offenen Mundes nach.