Demut

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DEMUT – Leben mit offenem Visier

von Simone Bol

Informationen zur Autorin finden Sie unter:

www.bol-beratung.de

Illustration: Nina Lorenz

Lektorat: Siglinde Rüppel

Layout: Tabitha Hess, www.hess-media.de

1. Auflage, 2020

© 2020, Simone Bol

Alle Rechte vorbehalten. Ausgenommen für kurze Zitate in Kritiken oder Buchbesprechungen ist die Reproduktion, die Speicherung in elektronischen Abfragesystemen, die Weitergabe in jeglicher Form, sei es elektronisch, mechanisch, durch Fotokopie, Aufnahme oder andere Mittel ohne die Genehmigung der Autorin nicht gestattet.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Bol Beratung

Praxis am Rosengarten

Im Prüfling 40

60389 Frankfurt

Einleitung

Der etwas verunsichert wirkende Mann hatte vielleicht gerade mal seine Volljährigkeit erreicht, blickte mir ins Gesicht und erzählte von seinem Vater. Er hätte ihn eigentlich bis jetzt so gut wie nie gesehen, nur dieses eine Mal, sagte er. Bei dieser Begegnung hätte ihm der Vater gesagt, dass er sein Sohn sei. Er wiederholte den Satz des Vaters mehrmals, mit immer fester werdender Stimme: „Du bist mein Sohn.“ Ja, das hatte er ihm gesagt. Der Mann wirkte auf einmal selbstbewusster und seine Augen leuchteten als er ergänzte: „Wissen Sie, diesen Satz kann mir keiner mehr nehmen.“

Mich hat diese Unterhaltung sehr bewegt, zeigte mir der junge Mann doch einen Moment lang ein Juwel seiner Erinnerungen. Er war der Sohn seines Vaters. Diese Tatsache gab ihm Identität, Stabilität und Selbstvertrauen in einer Lebenssituation, die von Unsicherheit und Herausforderung gekennzeichnet war.

Ich bin davon überzeugt, dass eine steigende Erkenntnis darüber, wer wir wirklich sind, grundlegend für ein erfülltes und stimmiges Leben ist. Daneben bedarf es aber auch der Fähigkeit, sich selbst zurücknehmen zu können, um erfolgreiche und gute Beziehungen zu leben. Beide Aspekte – sowohl Selbsterkenntnis als auch Selbstbescheidung (nicht Selbst-Beschneidung!) –, sind Fundamente einer positiv verstandenen, demütigen Haltung, um die es in diesem Buch gehen soll. Wichtig ist, dass der hier verwendete Begriff der Demut nichts mit Einflusslosigkeit, Schwäche, Manipulation, Scheinheiligkeit und Kriechertum zu tun hat, sondern vielmehr mit Selbstverwirklichung und gelungenen Beziehungen.

Ich möchte Sie einladen, sich mit mir gemeinsam auf den Weg zu begeben, Demut immer mehr zu erfassen und zu erlernen. Die folgenden Informationen, Gedanken und Impulse sollen dabei Hilfestellung leisten. Ich wünsche Ihnen viele gute und erkenntnisreiche Momente, die Sie in Ihrer persönlichen Entwicklung voranbringen und Sie und Ihre Umgebung weiter erstrahlen lassen.


Warum Demut?

Demut ist ein sehr umstrittener Begriff, der über die Jahrhunderte hinweg oft missverstanden wurde. Nicht selten wurde er mit Einflusslosigkeit und Schwäche assoziiert. Umso mehr überrascht es, dass in der letzten Zeit wieder verstärkt positiv über die Eigenschaft berichtet wird. So kam z. B. durch eine Studie, die Ende des letzten Jahrhunderts durchgeführt wurde, heraus, dass Demut auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten von großem Nutzen ist.

Dank einer Datenbank der University of Chicago Center for Research nahm der Management-Experte Collins (2005) weit über tausend Unternehmen unter die Lupe und analysierte sie bezüglich ihrer erbrachten Leistung. Er konnte insgesamt elf Betriebe ausfindig machen, die zwischen 1965 und 1995 ihr Kapital auffällig steigern und den Erfolg für mindestens 15 Jahre halten konnten. Das Interessante dabei war, dass sich diese Betriebe in Sachen Branche, Betriebsgröße, Alter und Zielgruppe nicht von ihrer Konkurrenz unterschieden. Als Collins und sein Team genauer hinschauten, stellten sie fest, dass der Erfolg von der Haltung der Führungskraft abhing. Sie fanden heraus, dass die Erfolgreichen – im Gegensatz zu den Durchschnittlichen – demütig waren. Für die Forscher zeigte sich die Demut der untersuchten Personen in ihrer Echtheit, Bescheidenheit, Lernbereitschaft, Zurückhaltung, Zuvorkommenheit, Höflichkeit, Dankbarkeit, Ruhe, Selbstreflektiertheit und Anderszentriertheit.

Professor Michael W. Austin (2014) berichtet Ähnliches. Er ist davon überzeugt, dass die Haltung der Demut beste Voraussetzung für Höchstleistungen im Sport liefert. Man hat z. B. herausgefunden, dass demütige Spitzensportler in der Lage sind, sich besser einzuschätzen. Sie wissen, in welchen Bereichen sie noch trainieren müssen und wie sie ihre Kräfte und ihr Können am besten einsetzen, um am Ende auf dem Gewinnerpodest zu stehen. Sie gehen durchaus Risiken ein, aber ohne anderen dabei zu schaden. Sie begegnen ihren Konkurrenten auf Augenhöhe und mit Selbstsicherheit. Außerdem lassen sie sich durch Beleidigungen nicht zur Unsportlichkeit provozieren. Im Mannschaftssport konnte man ähnliche, positive Effekte nachweisen. Ein demütiger Spieler war im entscheidenden Moment in der Lage, sich zurückzunehmen und zum besser positionierten Mitspieler, bzw. zur besser positionierten Mitspielerin abzuspielen. Demut, im Sinne von angemessener Selbsteinschätzung und Selbstlosigkeit, führt laut Austin zur Entmachtung des Egoismus, zu besserem Teamgeist, Fairness und zu athletischer Bestleistung.

Im medizinischen Bereich, wo es oft um Leben und Tod geht, gilt die Eigenschaft der Demut ebenso als unverzichtbar. Wenn z. B. ein Chirurg sich selbst oder die Möglichkeiten seiner Klinik überschätzt, kann dadurch viel Schaden am Patienten, aber auch an den verfügbaren Ressourcen entstehen. Der Pathologe Wittekind (2011) sieht die Demut als innere Stärke, die das Kennen der eigenen Grenzen voraussetzt und die Grundlage für eine Persönlichkeit bietet, die auch als Vorbild dienen kann. Er (2011, S. 158) schreibt:

Vorbilder sollen definiert werden als Persönlichkeiten, deren Handeln, deren Ziele und deren Erfolge nachahmenswert erscheinen und die diese Haltung in Form eines fairen Gebens und Nehmens vermitteln, also eine integre Persönlichkeit darstellen, mit der eine vertrauensvolle Zusammenarbeit vorstellbar ist.

Für ihn beginnt Demut mit einer in sich ruhenden Person, die es nicht nötig hat, mit dem was sie hat oder vorgibt zu haben, anzugeben.

Demut scheint den Weg für Erfolg und Gewinnmaximierung zu ebnen. Nichtsdestotrotz sollte sie aber nicht nur als Mittel zum Zweck für Bestleistungen in einer Höher-Schneller-Weiter-Gesellschaft gesehen werden. Demut ist weitaus mehr. Sie ist anders und konträr zu dem, was man landläufig kennt. Und vielleicht ist es gerade diese Andersartigkeit, die so faszinierend und anziehend wirkt. Die unerwartete und überraschende Kraft und Wirksamkeit der Demut macht die Haltung attraktiv und erstrebenswert.

Zerrbilder der Demut

Demut hatte lange Zeit kein gutes Image, da der Begriff oft eingesetzt wurde, um Menschen herabzuwürdigen oder klein zu halten. Vor allen Dingen die Kirche hat den ursprünglich so positiv besetzten jüdischen Begriff über viele Generationen hinweg benutzt, um Unterdrückung und Selbsthass zu kultivieren. Marx und Nietzsche höhnten über den Missbrauch und ließen kein gutes Haar an der Demut. Für sie symbolisierte der Begriff Feigheit, Selbstverachtung, Erniedrigung und Unterwürfigkeit (Vgl. Marx, 1847; Wengst, 1987). Nietzsche regte sich vor allem darüber auf, dass Demut manipulativ eingesetzt wurde, um an Macht und Einfluss zu gewinnen. Er formulierte in diesem Zusammenhang den biblischen Vers: Wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden aus Lukas 18,14 um zu: Wer sich selbst erniedrigt, will erhöht werden (Vgl. Nietzsche, 1976; Wengst, 1987, S. 77). Es ist wichtig zu verstehen, dass Demut in ihrer ursprünglichen Bedeutung anders ist. Sie hat mit den hier beschriebenen Zerrbildern nichts zu tun.

Bedeutungszusammenhang der Demut

Mich ließ der Begriff der Demut lange Zeit kalt. Klar, durch meine Kindheit und Jugend, die ich z. T. im Jugendkreis der evangelischen Landeskirche verbrachte, kannte ich ihn. Und doch war er für mich nicht gerade mit Begeisterung verknüpft. Erst viele Jahre später, als ein renommierter Berater der Geschäftswelt in einer Vorlesung behauptete, dass der entscheidende Aspekt für seinen Erfolg die Demut sei, horchte ich neugierig auf. Wie konnte es sein, dass dieser Mann diesen eher verstaubten Begriff in den Mund nahm? In den Augen der Studenten (inklusive meiner!) hatte er es geschafft: Er beriet Chefs von weltweit agierenden, großen Unternehmen und verdiente dabei so viel Geld, dass einem fast schwarz vor Augen wurde. Wahnsinn! Demut? Sein Verständnis von Demut musste definitiv ein anderes sein, als das von Marx und Nietzsche. Inspiriert begann ich noch einmal ganz neu über die Eigenschaft nachzudenken und mich zu informieren.

 

Herkunft und Bedeutung des Wortes ‚Demut‘

Es dauerte nicht lang und ich fand heraus, dass das Wort auf drei unterschiedliche Begriffe zurückzuführen ist.

 auf den griechischen Ausdruck ταπεινοϕροσύνη [tapeinophrosỵnē] (Eßer & Wander, 1997),

 den lateinischen Terminus humilitas und

 das althochdeutsche Wort diomuoti (thiomuoti) (Baumann, 2009).

Tapeinophrosỵnē und das dazugehörige Adjektiv ταπεινός [tapeinȯs] bedeuten im ursprünglichen Sinn niedrig gelegen mit einem rein lokalen Bezug. Nach einiger Zeit hat man dann aber damit begonnen, den Begriff auch auf die soziale Stellung und die psychische Gesinnung eines Menschen zu übertragen. Es entstanden Bedeutungen wie z. B. sozial niedrig, arm, gering an Rang und Macht, ohnmächtig, unbedeutend, unfrei, mutlos, niedergeschlagen, schwächlich und unterwürfig. Auch der lateinische Begriff humilitas, der von humus – dem Erdboden – abstammt, wurde mit Niedrigkeit, unedler Abkunft, Bedeutungslosigkeit, Schwäche, Kleinmut und knechtischem Sinn gleichgesetzt (Baumann, 2009). Das alles erzeugte in mir Unwohlsein und es schien offensichtlich, dass diese Bedeutung unserem Dozenten sicherlich nicht zu Erfolg und Anerkennung verholfen hatte. Ich schaute mir daraufhin noch den dritten Begriff Diomuoti an.

Diomuoti setzt sich aus dio (Knecht) und muot (Mut, Gesinnung) zusammen. Es bedeutet so viel wie dienstwillig, dienende Gesinnung, Mut zum Dienen. Ich las, dass man im Althochdeutschen unter dem Dienen eine freiwillige Gefolgschaft verstand, die auf einem Treueverhältnis zwischen einem König oder Adligen und einem jungen Standesgenossen beruhte. Durch das mittelhochdeutsche diemüete oder diemuot entstand schließlich das noch heute bekannte und verwendete Wort Demut (Baumann, 2009). Ich empfand, dass in dieser Definition bereits eine eindeutige Veränderung zu entdecken war. Da war plötzlich die Rede von Standesgenossen und von freiwilliger Gefolgschaft! Aber mir kamen noch Zweifel: Hatte der Begriff hier bereits seine abwertende und negative Bedeutung komplett verloren? Ich forschte weiter.

Die Wandlung der Demut

Im Neukirchener Brockhaus las ich, dass der Begriff der Demut erst im biblischen Zusammenhang eine rundum positive Bedeutung erhielt und sogar zur Tugend ernannt wurde. Es heißt dort, dass er für die Israeliten und die ersten Christen den Weg für eine angemessene Beziehung zu Gott und den Mitmenschen markierte (Eßer & Wander, 1997). Vom Demutsverständnis der Antike (siehe oben: Herkunft und Bedeutung des Wortes Demut), in dem bis auf wenige Ausnahmen abwertend über Demut gesprochen wurde, war hier nichts mehr zu spüren. Mein Interesse war geweckt und ich nahm mir die Bibel zur Hand. Welche Definition der Demut ließ sich mit Hilfe des Alten und Neuen Testaments ableiten?

Definition der Demut im jüdisch-christlichen Verständnis

Ich entdeckte, dass das Alte Testament (jüdisches Verständnis) und das Neue Testament (christliches Verständnis) demütigen Menschen einen völlig neuen Wert zusprach. Einen Wert, der nicht durch Schwäche, niedrige soziale Stellung, materielle und geistige Armut geschmälert wurde, sondern sich in der Gerechtigkeit und Gnade Gottes begründet sah (vgl. Wengst, 1987).

ALTES TESTAMENT

Ich überflog die Seiten des Alten Testamentes und las von Mose, der die positiv verstandene Demut lebte. Er führte das Volk Israel aus der ägyptischen Gefangenschaft. In 4. Mose 12,3 heißt es, dass er der demütigste Mensch auf der Erde war. Doch was war es, das ihn demütig machte? Welche Bedeutung des Wortes kann man anhand der biblischen Erzählungen über Mose ableiten? Was zeichnete ihn als Person aus?

Die Dinge, die mir beim Studium der relevanten Stellen als Erstes ins Auge stachen, waren folgende:

 Mose spielte sich trotz seiner Leitungsfunktion nicht auf, sondern agierte immer im Interesse des Volkes (vgl. 2. Mose 5; 2. Mose 32,30f; 4. Mose 11,2).

 Er wusste neben seinen Fähigkeiten auch um seine eigenen Fehler, Begrenzungen und Frustrationen als Mensch (vgl. 2. Mose 33,11; 2. Mose 4,10; 4. Mose 11,11+14).

 Er wollte nicht um jeden Preis seine Macht erhalten, sondern war sogar froh, als in einer Situation von zu groß gewordener Führungsverantwortung Teile seiner politischen Macht und Begabung an andere weitergegeben wurden: Ich wünschte mir, dass alle aus dem Volk des Herrn Propheten wären und dass der Herr seinen Geist auf alle legte! (4. Mose 11,29).

 Mose zeigte tiefe Wertschätzung und Respekt gegenüber Gott und redete offen mit ihm, wie mit einem Freund (2. Mose 34,6ff, 2. Mose 33, 11). Er genoss eine unvergleichliche Gottesnähe (5. Mose 34, 10-12).

 Er agierte sehr gewissenhaft (vgl. 2. Mose 39,1 und 43).

 Er war nicht verbissen, sondern ging auf die Anliegen seines jeweiligen Gegenübers ein und blieb belehrbar (vgl. 3. Mose 10,20).

 Auch wenn das Volk stellenweise über die Lebensumstände in der Wüste sehr unzufrieden war und meckerte (vgl. 2. Mose 15,24), ließ Mose es nicht fallen. Er blieb aufrecht, loyal und nahm seine Verantwortung unerschrocken bis zum Schluss wahr (5. Mose 33,7ff).

Wenn ich mir heute diese Punkte ansehe, frage ich mich, wie viel ich davon bereits umsetze bzw. lebe. Mir wird bewusst, dass Demut nicht über Nacht zu lernen ist. Gleichzeitig habe ich zum ersten Mal das Gefühl, dass ich der Art von Demut, von der der Dozent in meiner Vorlesung sprach, nahekomme. Demut ist voller Wohlwollen und entspricht vielmehr einem aufrechten, selbstbewussten Gang als einem unterwürfigen Kriechen (vgl. Dirks, 1976). Insgeheim frage ich mich, warum die Kirche das Kriechen viele Jahrhunderte lang so forcierte und vorantrieb. Und gleichzeitig stellt sich mir die Frage, wie selbstbewusst und aufrecht wir heute – im Hier und Jetzt – durchs Leben gehen.

Vielleicht liegt die Entwicklung des Kriechertums an Clemens von Rom, der als zweiter oder dritter Nachfolger von Petrus gelistet wird. Er verstand unter Demut in erster Linie Gottgehorsam und bedingungslose Unterordnung. In seinem Brief an die Gemeinde in Korinth (nicht zu verwechseln mit den Briefen von Paulus im Neuen Testament!), forderte er die Gläubigen Ende des ersten Jahrhunderts auf, der Gemeindeleiterschaft vorbehaltlos zu folgen und ihr selbstlos zu dienen. Das hatte fatale Folgen, da es in Sachen Demut auf einmal nur noch um die gehorsame Einfügung in die hierarchische Ordnung ging.

Clemens bezeichnete die Veranlasser der Presbyter- bzw. Gemeindeleiter-Absetzung als Leute, die Streit und Aufstände provoziert und sich damit von der rechten und guten Ordnung entfremdet hatten. Er unterstellte den Aufrührern Heuchelei und Hochmut und behauptete, dass sie nichts mit Jesus gemeinsam hätten. Er benutzte seine Interpretation der Demut, um zu manipulieren, Druck auszuüben und zu demütigen (Wengst, 1987, S. 98f). Mit diesem Demutsverständnis stand er im Urchristentum so gut wie alleine da und doch hat es sich in der Kirchengeschichte an vielen Stellen durchgesetzt. Im Namen des Christentums wurde Menschen und vor allen Dingen Frauen über Jahrhunderte hinweg vorgeschrieben, das Untertanverhalten bzw. den servilen Gehorsam ein- und auszuüben, was zu großer Demütigung und zu großem Missbrauch führte (vgl. Feldmeier, 2014, Pos 977).

Ja, im Alten Testament wird u. a. auch immer wieder der Gehorsam gegenüber Gott betont. Es galt, die Aufträge Gottes wie ein Knecht bzw. wie eine Magd auszuführen. Aber neben dem damit verbundenen Erkennen, dass Gott Schöpfer, Bundespartner und Herr ist, lag der Fokus schon damals sehr stark auf der Gnade Gottes, einer Gnade, die sich in der Erwählung, Befreiung und Erhöhung des Unterdrückten zeigt. Vor allen Dingen die alttestamentlichen Bücher Amos und Jesaja betonen diesen Sachverhalt (vgl. Baumann, 2009).

NEUES TESTAMENT

Als ich mir anschließend das Neue Testament anschaute, entdeckte ich, dass es darauf aufbaut. Auch hier gilt Demut als ethisches Ideal, das vor allen Dingen in der Theologie des Kreuzes Widerhall findet. Jesus Christus, der Gott gleich war, nahm sich selbst zurück, verzichtete auf seine himmlischen Privilegien und wurde Mensch. Er nahm den Schmerz der Menschen auf sich und ermöglichte ihnen den Zugang zu Gott (vgl. Jesaja 53,4; Matthäus 5,17; Römer 3,21ff und Römer 5,1-2). Jesu Handlungen haben nichts mit Willkür oder Dominanz zu tun, sondern haben immer das Wohl und Interesse Anderer im Blick (Feldmeier, 2014). Demut zieht ihre Motivation aus der Liebe und schreckt nicht vor möglichem Leid zurück.

Jesus gilt ähnlich wie Mose als Vorbild in Bezug auf die demütige Haltung. In Matthäus 11,29 wird Jesus als von Herzen demütig bezeichnet. Johannes 1,14 beschreibt ihn sogar als humilis, den Demütigen schlechthin (vgl. Baumann, 2009, S. 59). Jesus hatte als Sohn Gottes große Autorität und Macht. Aber das Ausleben und Ausüben dieser Machtposition schloss eine demütige Haltung nicht aus. Ganz im Gegenteil! Die Demut diente ihm als Fundament, um mit seiner Position und Rolle verantwortungsbewusst und gewissenhaft umzugehen.

Ich kam darüber ins Staunen. Jesus schien die richtige Balance zu haben. Er stand weder in der Gefahr, selbstsüchtig zu agieren noch einem Mangel an Selbstliebe anheimzufallen. Ihn als Vorbild zu nehmen, konnte gewiss nicht schaden! Wichtig schien mir nur, dass man sich nicht aufgrund religiöser Ideen oder sonstiger Glaubenssätze selbst zur Norm für andere erhebt. Damit würde man nur das Gegenteil der Demut demonstrieren – nämlich Überheblichkeit und Stolz.

Grün (2012), der sich auf C. G. Jung bezieht, bezeichnet diese Art von Überheblichkeit als Inflation. Man bläht sich mit Werten und Ideen auf, die außerhalb von einem selbst liegen und seiner Meinung nach unangetastet bleiben sollten. Er (2012, S. 28) schreibt:

Geheilt werden kann der Stolze nach Jung nur durch moralische Niederlagen. Nur wer auf die Nase fällt ... kann wieder auf den Boden der Wirklichkeit gestellt werden, nur wenn er auf der Erde (humus) liegt, kann er demütig (humilis) seine eigene Menschlichkeit akzeptieren.

Ich bin rückblickend froh, dass ich in meinem bisherigen Leben einige Momente des Scheiterns erlebt habe: große und kleine. So schmerzhaft sie auch waren, erachte ich sie doch als kostbar. Nicht zuletzt durch sie bin ich was ich bin: Mensch.

Die Selbsterkenntnis, das Sich-Erkennen als fehlbaren, schwachen und begrenzten Menschen, verhindert Aufgeblähtsein und Hochmut und ist zentral im neutestamentlichen Demutsverständnis. Paulus greift diesen Gedanken in Kolosser 3,12 auf. Er schreibt, dass diejenigen, die Gnade erlebt und angenommen haben, sich mit aufrichtigem Erbarmen, mit Güte, Demut, Milde und Geduld bekleiden sollen.

Diese Aussagen sind jedoch keine Aufforderung zu würdeloser Selbsterniedrigung und auch nicht als Förderung eines geringen Selbstwertgefühls zu verstehen. Paulus schreibt im 2. Korintherbrief 3,4f, dass die Bestandteile der Demut − Selbsterkenntnis und empfangene Gnade − echtes Selbstvertrauen fördern. Furch (2009) spricht in diesem Zusammenhang von einem geistlichen Paradoxon. Er (2009, S. 41) schreibt:

Paulus hat ein höheres Selbstwertgefühl als vorher, obwohl er sich nun als wesentlich schwächer und unbedeutender einschätzt. Menschlich gesehen ist der Selbstwert davon abhängig, was wir an messbaren Erfolgen vorzuweisen haben: Noten, Rangplätze bei Wettbewerben, Umsätze und Gewinne, Gehalt oder Wohlstand, Stufen auf der Karriereleiter, Macht, Bekanntheit, Ansehen ... Geistlich gesehen entsteht Selbstwert aus der Tatsache, dass wir geliebte Geschöpfe sind. Auch hier leisten wir etwas, sind wir aktiv und oft auch erfolgreich, aber unser Selbstwert hängt nicht davon ab. Daher müssen wir unseren Beitrag nicht überzeichnen.

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