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2.1.2
Einkehr und Nachfolge

Um das ganze Leben durchdringen zu können, bedarf die Umkehr einer Ergänzung durch die Einkehr und einer Verleiblichung in der Nachfolge. Einkehr heisst hier, uns im Licht dessen, was sich uns eröffnet hat, um achtsame Selbstwahrnehmung und tiefere Selbsterkenntnis zu bemühen. Paul Claudel braucht nach seiner Bekehrungserfahrung vier Jahre, um sein Leben neu zu ordnen und zur Ruhe zu finden. Bei plötzlichen Bekehrungen legt sich häufiger ein gegenteiliges Muster nahe. Anstelle einer mühseligen Einkehr, des Rückzugs in die Wüste zur revision de vie, tendieren Neubekehrte dazu, die Spannungen, in die sie ihre neue Lebenform bringt, zu veräusserlichen und an anderen auszuagieren.

Es gehört zur bleibenden Bedeutung des Mönchtums, an die spirituelle Bedeutung der Wüste und der läuternden Einkehr zu erinnern. In seiner Lebensbeschreibung des heiligen Benedikts verweist Gregor der Grosse auf das Gleichnis des verlorenen Sohnes, um die Grundhaltung des Vaters des westlichen Mönchtums zu umschreiben:

«Sooft wir […] durch die Unruhe der Gedanken zu sehr aus uns herausgeführt werden, sind wir zwar noch wir selbst, aber nicht mehr in uns selbst; denn wir verlieren uns selbst aus dem Blick und schweifen anderswo umher. Können wir sagen, daß jener junge Mann in sich war, der in ein fernes Land zog, das erhaltene Erbteil verschwendete, sich dort einem Bürger aufdrängte und die Schweine hütete? Er mußte zusehen, wie die Schweine Schoten fraßen, während er hungerte. Da erinnerte er sich an das Gut, das er verloren hatte, wie es in der Schrift heißt: ‹Er kehrte in sich selbst zurück und sagte: Wie viele Tagelöhner haben im Haus meines Vaters Brot im Überfluß.› Wenn er also in sich gewesen wäre, woher ist er dann zu sich zurückgekehrt? Darum also wollte ich sagen: Der heilige Mann [Benedikt] wohnte in sich selbst [habitare |40| secum], weil er stets wachsam auf sich achtete, sich immer unter den Augen des Schöpfers sah, sich allezeit prüfte und das Auge des Geistes nicht außerhalb seiner selbst umherschweifen ließ.»30

Während die Einkehr bei Benedikt eine Vertiefung der Umkehr darstellt, ist sie beim verlorenen Sohn der Anfang seines Umkehrweges. Bei Augustinus sind beide Aspekte miteinander verknüpft: Zum einen geht bei ihm die Einkehr seiner Umkehr voraus, zum anderen kann er seine Bekehrung als Einkehr beschreiben: «Spät hab ich Dich geliebt, Du Schönheit, ewig alt und ewig neu, spät hab ich Dich geliebt. Und sieh, Du warst innen und ich war draußen, und da suchte ich nach Dir […] Du warst bei mir, ich nicht bei Dir. […] Du hast mich berührt, und ich brenne nach dem Frieden in Dir.»31 Umkehr und Einkehr sind in einem Wechselverhältnis zu sehen. In der Einkehr kann sich eine anfänglich vollzogene Umkehr verdichten und reifen, doch kann die Einkehr auch wie bei dem verlorenen Sohn den Beginn eines längeren Wegs der Umkehr darstellen. Die radikalste Umkehr, auf die das Gleichnis hindeutet, ist diejenige, die der verlorene Sohn in den Armen seines Vaters erfährt: die alle Erwartungen übersteigende Begegnung mit einer Barmherzigkeit, die ihn vorbehaltlos annimmt und ihm seine Würde neu schenkt.

Die Umkehr, die in der Einkehr eine persönliche Aneignung und Durchdringung erfährt, ist der Anfang einer neuen Lebensbewegung, in der sie sich erst ganz realisiert: der Nachfolge Christi.32 Die Metaphorik der Nachfolge betont die Entschiedenheit, die Erdverbundenheit und die Dynamik geistbestimmten Lebens. Es geht um die Wahl eines Weges und um das entschlossene und geduldige Voranschreiten. In der «Nachfolge» steckt ebenso die bleibende Ausrichtung auf denjenigen, der bei diesem Unterwegssein vorausgeht. Nachfolge Christi bedeutet, sich auf den Weg Jesu einzulassen, seinen Fussspuren zu folgen (vgl. 1 Petr 2,21).

Dabei darf der Nachfolgebegriff nicht eingeschränkt werden auf solche, die ein in einem engeren Sinne «apostolisches» |41| Leben führen. Die vielfältigen Formen radikaler Jesusnachfolge, die das Neue Testament bezeugt, sprechen gegen eine «schematische Aufteilung des Urchristentums in ‹Wanderradikale› und ‹Sympathisanten›», wie sie v. a. von Gerd Theißen vertreten wurde. Nach Ulrich Luz gibt es «in der Umgebung Jesu nicht zwei Stufen von Jesusjüngern/innen und bloßen Sympathisanten/innen mit unterschiedlichem Verpflichtungsgrad, sondern es gibt nur das zur Gottesherrschaft gerufene Volk Israel und Menschen mit einem besonderen Auftrag.»33

Der Ruf in die Nachfolge ist nicht an die vorösterliche Situation geknüpft (vgl. Joh 21,20.22). Es finden sich viele Erzählungen einer konsequenten Nachfolge Jesu, in denen sich auch heutige Hörerinnen und Hörer des Evangeliums wiederfinden. Neben den Identifikationsfiguren aus dem engeren Jüngerkreis, zu dem auch Frauen gehören (vgl. Lk 9,58), gibt es Symbolgestalten wie Nikodemus (vgl. Joh 3), die Samariterin (vgl. Joh 4), Bartimäus (vgl. Mk 10,46 ff.) oder der Zöllner Matthäus (vgl. Mt 9,9 ff.). Nachfolge bedeutet, an der Sendung Christi teilzunehmen und das Leiden, das einem auf diesem Weg begegnet, zu tragen. Jüngerin oder Jünger Jesu zu sein, bedeutet, in und aus seiner Nähe leben zu dürfen und sie so bezeugen zu können (vgl. Mt 28,16–20). Die Nachfolge, die einem je einzigartigen Ruf entspringt, mündet in die Sendung.

2.1.3
Edith Steins Lebenswende

Der sich über Jahre hinziehende Suchprozess von Edith Stein (1891–1942), der schliesslich während einer nächtlichen Lektüre der «Vida» der Teresa von Avila zur letzten Klarheit führt, vermag beispielhaft zu veranschaulichen, wie eine allmähliche Horizontverschiebung zu einer radikalen Revision des Selbst-, Welt- und Gottesverständnisses führen kann. Als säkulare Jüdin, die sich mit 13 Jahren das Beten abgewöhnte, entdeckt Edith Stein als Studentin Edmund Husserls ein innovatives Philosophieren, das ihr eine neue Sicht der Wirklichkeit erschliesst. Husserls Phänomenologie hatte sich ein hohes Ziel gesetzt. Sie wollte der Tendenz der Naturwissenschaften |42| entgegentreten, ihre methodisch eingeschränkte Sichtweise zur einzig wahren Sicht zu verabsolutieren. Durch eine neue Zugangsweise zu den Phänomenen versuchten Husserl und seine Schüler, die wissenschafts- und technikgläubige Blickverengung der Moderne zu überwinden. Auch Max Scheler gehört zu diesem Kreis. In Scheler lernt die junge Philosophin einen Denker kennen, der intellektuelle Klarheit und religiösen Glauben zu verbinden wusste. Sie schreibt später über ihn:

«Für mich wie für viele andere ist in jenen Jahren sein Einfluß weit über das Gebiet der Philosophie hinaus von Bedeutung geworden. […] es [war] die Zeit, in der er ganz erfüllt war von katholischen Ideen und mit allem Glanz seines Geistes und seiner Sprachgewalt für sie zu werben verstand. Das war meine erste Berührung mit dieser bis dahin völlig unbekannten Welt. Sie führte mich noch nicht zum Glauben. Aber sie erschloß mir einen Bereich von ‹Phänomenen›, an denen ich nun nicht mehr blind vorbeigehen konnte. Nicht umsonst wurde uns beständig eingeschärft, daß wir alle Dinge vorurteilsfrei ins Auge fassen, alle ‹Scheuklappen› abwerfen sollten. Die Schranken der rationalistischen Vorurteile, in denen ich aufgewachsen war, ohne es zu wissen, fielen, und die Welt des Glaubens stand plötzlich vor mir. Menschen, mit denen ich täglich umging, zu denen ich mit Bewunderung aufblickte, lebten darin. Sie mußte zum mindesten eines ernsthaften Nachdenkens wert sein.»34

Die Annäherung an die Welt des Glaubens geschieht sowohl durch das Wegräumen von Hindernissen als auch durch vertrauenswürdige Menschen, die eine weitere Suche ermutigen. Die Phänomenologie befreit Edith Stein von ihren theoretischen Vorbehalten, sich auf die Welt des Glaubens einzulassen; das lebendige Glaubenszeugnis bahnt den Weg zur persönlichen Gottesbeziehung und zur eigenen religiösen Praxis. An den Philosophen Roman Ingarden schreibt sie 1927, nachdem sie ihm in einer persönlichen Begegnung von ihrer Umkehr erzählt hatte:

«Daß ich Ihnen meinen Weg nicht in der Meinung zu schildern suchte, es sei der Weg, war wohl deutlich. Ich bin gründlich überzeugt, daß es |43| soviele Wege nach Rom gibt wie Menschenköpfe und -herzen. Vielleicht habe ich bei der Darstellung meines Weges das Intellektuelle zu schlecht wegkommen lassen. In der jahrelangen Vorbereitungszeit hat es sicher stark mitgewirkt. Doch bewußtermaßen entscheidend war das reale Geschehen, nicht ‹Gefühl›, Hand in Hand mit dem konkreten Bild echten Christentums in sprechenden Zeugnissen (Augustin, Franziskus, Teresa).»35

Neben den «grossen» Glaubensgestalten war es auch das unscheinbare Lebenszeugnis von «einfachen» Gläubigen, das Edith Stein beeindruckt. So prägt sich ihr etwa das persönliche Beten einer unbekannten Frau ein, die sie im Frankfurter Dom beobachtet:

«Wir traten für einige Minuten in den Dom, und während wir in ehrfürchtigem Schweigen dort verweilten, kam eine Frau mit ihrem Marktkorb herein und kniete zu kurzem Gebet in einer Bank nieder. Das war für mich etwas ganz Neues. In die Synagogen und in die protestantischen Kirchen, die ich besucht hatte, ging man nur zum Gottesdienst. Hier aber kam jemand mitten aus den Werktagsgeschäften in die menschenleere Kirche wie zu einem vertrauten Gespräch.»36

Das Doktoratsstudium bei Husserl, das Edith Stein mit grosser Begeisterung beginnt, führt sie in vielfältige Krisen, die durch die politischen Wirren des Ersten Weltkriegs noch verschärft werden. Die berufliche Zukunft ist ungewiss: die Türen zu einer akademischen Laufbahn sind ihr als Frau verschlossen. Beziehungswünsche bleiben unerfüllt. In Edith Stein, die ihr Leben bisher mit starker Willenskraft und klarem Zielbewusstsein geführt hat, vollzieht sich langsam eine innere Umwandlung, die sich bereits anfangs 1918 in der Schrift «Psychische Kausalität» niederschlägt:

«Es gibt einen Zustand des Ruhens in Gott, der völligen Entspannung aller geistigen Tätigkeit, in dem man keinerlei Pläne macht, keine Entschlüsse fasst und erst recht nicht handelt, sondern alles Künftige dem göttlichen Willen anheim stellt, sich gänzlich dem ‹Schicksal überläßt›. Dieser Zustand ist mir etwa zuteil geworden, nachdem ein Erlebnis, das |44| meine Kräfte überstieg, meine geistige Lebenskraft völlig aufgezehrt und mich aller Aktivität beraubt hat. Das Ruhen in Gott ist gegenüber dem Versagen der Aktivität aus Mangel an Lebenskraft etwas völlig Neues und Eigenartiges. Jenes war Totenstille. An ihre Stelle tritt nun das Gefühl des Geborgenseins, des aller Sorge und Verantwortung und Verpflichtung zum Handeln Enthobenseins. Und indem ich mich diesem Gefühl hingebe, beginnt nach und nach neues Leben mich zu erfüllen und mich – ohne alle willentliche Anspannung – zu neuer Betätigung zu treiben. Dieser belebende Zustrom erscheint als Ausfluß einer Tätigkeit und einer Kraft, die nicht die meine ist und, ohne an die meine irgendwelche Anforderungen zu stellen, in mir wirksam wird.»37

Bevor ihr jedoch das Gottesvertrauen zum Lebenselement wird, gerät Edith Stein noch einmal in eine abgründige Krise. Als Adolf Reinach, ein befreundeter Philosoph, der sie wiederholt unterstützt hatte, im Krieg getötet wird, verfällt sie in einen Zustand lähmender Verzweiflung. Während sie sich mit aller Kraft gegen die Absurdität des Todes auflehnt, erlebt sie, wie Anna Reinach, die sich zwei Jahre zuvor zusammen mit ihrem Mann taufen liess, ihre Trauer im Glauben zu tragen vermag. Dem Jesuiten Johannes Hirschmann berichtet Edith Stein kurz vor ihrem eigenen Tod, dass die Art und Weise, wie Anna Reinach ihr Schicksal trug, entscheidend zu ihrer Konversion beigetragen habe.38

Auch den letzten Anstoss, sich taufen zu lassen, erhält Edith Stein durch ein Lebenszeugnis. Im Sommer 1921, den sie bei ihrer Freundin Hedwig Conrad-Martius in Bad Bergzabern verbringt, fällt ihr die «Vida» der Teresa von Avila in die Hände. Die spanische Karmelitin beschreibt darin ihren mühseligen Weg zum kontemplativen Gebet und zur Verwirklichung ihrer Berufung. Mit der Lektüre von Teresas geistlicher Autobiografie kommt ein langer Suchweg ans Ziel. Als Edith Stein das Buch nach einer durchlesenen Nacht aus den Händen legt, beginnt ein neues Leben für sie. Vor ihr liegt «eine unendliche Welt, die sich ganz neu auftut, wenn man einmal anfängt, statt nach außen nach innen zu leben»39. |45| Noch am selben Tag bewirbt sie sich für die Taufe. Zwölf Jahre später tritt sie in den Kölner Karmel ein. An Roman Ingarden schreibt sie 1925, es sei ihr «etwa so wie einem, der in Gefahr war zu ertrinken, und dem lange nachher im hellen, warmen Zimmer, wo er ganz geborgen ist und rings umgeben von Liebe und Fürsorge und hilfreichen Händen, auf einmal das Bild des dunklen, kalten Wellengrabes vor der Seele steht. Was soll man dann anderes fühlen als Schauder und dazu eine grenzenlose Dankbarkeit gegen den starken Arm, der einen wunderbar ergriffen und ans sichere Land getragen hat?»40 Mit der Umkehr beginnt für Edith Stein ein Weg der Einkehr und der Nachfolge. Die karmelitische Spiritualität von Teresa und Johannes vom Kreuz wird sie auf diesem Weg bis zu ihrem gewaltsamen Tod in Auschwitz begleiten.

2.2
Taufe als Anfang und Grundgestalt

In diesem Unterkapitel kommt besonders der eingangs eingeführte «blaue Faden» zur Geltung. In einem ersten Schritt geht es um die spiritualitätstheologische Wiederentdeckung der Taufe im 20. Jahrhundert, danach um ihre mystagogische, d. h. ins Glaubensgeheimnis «einweihende» Dimension.

2.2.1
Taufe als Ausgangspunkt des geistlichen Lebens

Die volkskirchliche Realität, die bis vor Kurzem das westeuropäische Christentum prägte, hat das Unselbstverständliche des Christwerdens zu einer gesellschaftlichen Selbstverständlichkeit werden lassen. Wer als Säugling getauft wurde und in einer Gesellschaft aufwuchs, in der das Christsein die Regel war und gegenüber anderen Lebens- und Glaubensformen privilegiert wurde, der hatte es schwer, das Ausserordentliche des Evangeliums und die bleibende Neuheit des österlichen Horizontes wahrzunehmen. In der katholischen Variante war die mit einer Umkehr verbundene Radikalität delegiert an religiöse Spezialisten, an den «geistlichen Stand». Das christliche Leben der Laien erfüllte sich aus dieser Sicht vorwiegend darin, den elementaren christlichen Pflichten |46| nachzukommen (Besuch des Sonntagsgottesdienstes, Einhalten der moralischen Gebote, regelmässige Beichte …).

In grundlegender Korrektur einer solchen Zweiteilung betonte das Zweite Vatikanische Konzil, dass alle Getauften miteinander eine gemeinsame Berufung verwirklichen. Geistbestimmtes Leben ist von der Taufe her zu verstehen. Diese lässt alle Christen am österlichen Geheimnis teilhaben und macht sie zu «Geistlichen», zu geisterfüllten und charismatisch begabten Menschen.41 Die als «Dauersakrament» zu verstehende Taufe bedeutet «nicht nur Anfang des Christseins, sondern der beständige Ruf zum Christwerden. Einmalig und unwiederholbar, ist die Taufe doch nicht Abschluss und fester Besitz (vgl. auch 1 Kor 10,12), sondern Beginn eines Weges in der Nachfolge Christi […]».42 So wie der Weg und das Wirken Jesu mit der Taufe beginnt, in der Jesus sich als von Gott geliebt und von seinem Geist gesendet erfährt (vgl. Mk 1,9 ff.), so auch der je neue Weg der Nachfolge Christi. Die auch heute noch überwiegend im Säuglingsalter empfangene Taufe stellt eine Vor-Gabe dar, die existenziell eingeholt werden will. Manchem wird es dabei ergehen wie dem evangelischen Theologen Wolfhart Pannenberg:

«Gottes Handeln an uns, das unser Leben in Anspruch nimmt, wie es in der Taufe geschieht, geht unserem Glauben voraus, und der Glaube ist darauf bezogen. Ich persönlich wurde zwar als Kind getauft, blieb aber wie so viele andere ohne viel christliche Erziehung, und meine Familie entfremdete sich so sehr von der Kirche, daß sie schließlich austrat. Als ich dann aber als Heranwachsender zum christlichen Glauben zurückfand, wurde es für mich zunehmend wichtig, daß Gott in meinem Leben von Anfang an dabei gewesen ist und es durch den Akt der Taufe für seinen Dienst in Anspruch genommen hat. In vielen individuellen Fällen wird die persönliche Aneignung der empfangenen Taufe durch den Glauben erst mehr oder weniger später im Leben stattfinden. Dabei ist es natürlich richtig, daß nur im Prozeß solcher Aneignung durch den Glauben der Akt der Taufe in einem persönlichen Leben wirksam wird. Der sakramentale Ritus für sich allein genommen ist nicht mehr als ein Zeichen. Er ist jedoch ein wirksames Zeichen im Prozeß des Gedenkens |47| und der Aneignung im Glauben, die sich durch das ganze Leben des Christen hinzieht und so Gegenstand spezifisch christlicher religiöser Erfahrung ist. Der prozessuale Charakter der persönlichen Aneignung der empfangenen Taufe korrespondiert mit der antizipatorischen Bedeutungsstruktur des Taufritus selber.»43

Bei der Erneuerung christlicher Spiritualität heute ist die Entdeckung dieser vorwegnehmenden Struktur des Taufsakraments von entscheidender Bedeutung. Deshalb verweilen wir einen Augenblick bei der mystagogischen Dimension der Taufe.

2.2.2
Mystagogische Dimension der Taufe

Christliche Mystagogie als Geleit und Einweihung in das Glaubensgeheimnis will zur neuen Lebenswirklichkeit christlicher Existenz hinführen und den durch die Taufe eröffneten Heilsraum weiter erschliessen. In altkirchlicher Zeit fand die Mystagogie mancherorts erst in der Osterwoche statt. Die Neugetauften hatten die Erfahrung bereits hinter sich, die nun deutend vertieft wurde. Sie hatten sich schon auf den Weg gemacht und lernten nun vertiefter zu verstehen, was mit ihnen geschehen war. Christliche Mystagogie geleitet ins Innerste, zum Ort, wo Gott auf geheimnisvolle Weise wohnt. Die Taufe führt über die Schwelle zum verborgenen und zugleich nahen Gott. Dass Gott im Verborgenen wohnt, ist für christliche Gebetspraxis grundlegend:

«‹Wenn du betest, gehe in dein Kämmerlein und schließe die Tür zu.› [Mt 6,6] Das griechische Wort für ‹Kämmerlein› bezeichnet den abgelegenen, vor Dieben sicheren Raum im Hause (Schatz- oder Vorratskammer), wo niemand eindringt. Dort ist der Betende allein mit Gott. Es heißt hier nicht nur wie beim Almosengeben (Mt 6,4), daß Gott ins Verborgene sieht, sondern […] daß er im Verborgenen ist. Dort ist er für uns in besonderer Weise gegenwärtig. […] er, der außerhalb unser ist, nimmt zugleich Wohnung in uns, im Verborgenen.»44

In ihrer Grundgestalt ist die in der Taufe vollzogene Lebensumkehr zugleich Abkehr und Hinkehr, Absage und |48| Bekenntnis. Es geht um ein Loslassen von alten Bestimmtheiten und um ein sich Einlassen auf eine neue Wirklichkeit. Niemand kann sich auf einen neuen Weg, auf die Nachfolge Christi, einlassen, ohne die alten Wege zu verlassen (vgl. Mk 1,18; 10,28 ff.). Man kann sich dieses Umkehrgeschehen auch durch den Kontrast von Gen 19,26 und Phil 3,12 f. verdeutlichen: Während Lots Frau im Rückblick auf die sie fesselnde traumatische Herkunft erstarrt, kann Paulus zurücklassen, was hinter ihm liegt. Er streckt sich aus nach dem, was ihn in einer alles Begreifen übersteigenden Weise ergriffen hat.

Dieses heilsame Freiwerden von sich selbst und dem Besitzanspruch auf das «eigene» Leben ist heute noch genauso wenig selbstverständlich wie in der Frühzeit des Christentums. Die Neigung, auch die Beziehung zu Gott dem – für sich genommen legitimen – Wunsch nach Selbstverwirklichung unterzuordnen, stellt auch für religiöse Menschen eine oft unbemerkte oder heruntergespielte Versuchung dar. Die Taufe markiert den Übergang, durch den wir der Einsamkeit der Selbsterhaltung entrinnen und hineingenommen werden in eine neue Gemeinschaft. Herausgeführt aus dem Kreisen um uns selbst geraten wir ins Gravitationsfeld Gottes. Paulus spricht sogar von einem Herrschaftswechsel. Wer auf Christus getauft wurde, gehört nicht mehr sich selbst oder den Mächten, die sein Leben bisher bestimmten, sondern Christus (vgl. Röm 14,7 f.; 2 Kor 5,15). Dadurch hat er Anteil an der Auferstehungswirklichkeit Christi, die ihn wie ein neues Kleid umfängt: «Die Neuheit des Lebens ist da. Die Christen haben nur darinnen zu wandeln, wie man sich im Frühlings-Sonnenschein ergeht (Röm 6,4)»45. Die in der Taufe symbolisierte Herauslösung aus den unheilvollen Verstrickungen, die das menschliche Zusammenleben vergiften, ist der Beginn einer neuen Schöpfung (vgl. 2 Kor 5,17), der Wiederkehr des Glanzes in der Welt.46

«Das Reich Gottes ist […] der eschatologische Frühling der ganzen Schöpfung. Die charismatische Erfahrung ist darum die Erfahrung, |49| daß dieses alt gewordene, verfehlte und mit Verfehlungen beladene Leben wieder zu blühen beginnt und also wieder jung wird. Mit der Zeit wird man alt, die Ewigkeit aber macht jung.»47

Christliche Mystagogie unterscheidet sich von antiken Mysterienkulten dadurch, dass sie einerseits nicht nur eine Elite ansprechen will, sondern alle, «die mühselig und beladen sind» (Mt 11,28). Sie ist nicht von einem Geheimbund getragen und will nicht in einen Geheimkult einweihen. Sie vollzieht sich zu weiten Teilen öffentlich und bezieht sich auf ein offenbartes Geheimnis (vgl. Eph 1,9; 3,9). Die paradoxe Rede von einem offenbarten Mysterium bringt zum Ausdruck, dass es hier um ein Offenbarwerden einer neuen Wirklichkeit geht, die zwar schon durch die alte Welt wie durch ein abgewetztes Tuch hindurchschimmert, doch nur für den sichtbar ist, der nahe heranzutreten bereit ist. Das Königreich Gottes, dessen Anbruch das Wirken Jesu ebenso bezeugte wie die nachösterliche Verkündigung, ist noch klein wie ein Senfkorn und verborgen wie ein Schatz im Acker. Ebenso ist das neue Leben, das mit der Taufe beginnt, noch verborgen bei Gott (vgl. Kol 3,3). Gottes neue Gegenwart beim Menschen ist als verborgene nur für diejenigen offenbar, die sich in sie hineinrufen lassen. Gibt es doch vor Gott keine Beobachter, sondern nur Beteiligte: Menschen, die sich auf das Angebot seiner Nähe einlassen und sich auf die Treue seiner Zusage verlassen, die sich von Gott ergreifen lassen und «die innerste Gemeinschaft mit dem erfahren, was sie feiern»48. Der Heilige Geist, sein Wirken in ihrem Leben, ist das «Angeld», die verheissungsvolle Vorgabe des kommenden Reiches (vgl. Röm 8,23; 2 Kor 5,5), die Schwalbe, die den Frühling bringt, ein Vorgeschmack der Vollendung.