Geschichte der Sonderpädagogik

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Restauration in Frankreich

Die sich nach dem Machtantritt Napoleons abzeichnende Restauration der französischen Gesellschaft mit ihrer erneuten Zementierung gesellschaftlicher Klassengegensätze bewirkte eine noch stärkere Pointierung der Nützlichkeitsbestimmung der Taubstummenerziehung bei gleichzeitiger Verfestigung ihres klassenspezifischen Charakters. In einem Prospekt aus dem Jahr 18013, welcher den Auftrag der Institution neu umreißen sollte, wurde insbesondere die gesellschaftliche Nutzbarmachung der Taubstummen hervorgehoben, eine Nutzbarmachung – so der Verfasser des Prospekts – welche die Schule de l’Epées weitgehend vernachlässigt habe. Die Leistung des Gründers wurde zwar gewürdigt, gleichzeitig aber auf das Problem verwiesen, dass die Zeit, welche von diesem für die Entwicklung intellektueller Fähigkeiten aufgewendet wurde, „fût perdu pour le travail des mains“.4 Taubstumme – so die Meinung der Verfasser des Prospektes – waren durch die ausschließlich intellektuelle Bildung zu einem müßigen und faulen Leben erzogen worden und damit weiterhin eine Bürde ihrer Eltern geblieben.

Demgegenüber wurden nun die entstandenen Werkstätten in den Vordergrund gerückt, in denen die verschiedenen Handwerke gelernt werden konnten: Druckerei, Drechslerei, Gravur, Zeichnen, Mosaik, Schreinerei, Schneiderei, Schuhmacherei. Wie bereits 1792 festgelegt, wurde auch in diesem Prospekt darauf verwiesen, dass sämtliche Gebrauchsartikel und Unterrichtsgegenstände von der Institution selbst herzustellen seien, und darüber hinaus wurde angeregt, auch andere Hospize mit den Erzeugnissen der Anstalt zu versorgen.

Als eine besondere Neuigkeit wurde die Zweiteilung der Institution angepriesen, die die gesellschaftliche Schichtung getreu widerspiegelte, indem eine spezielle Schulabteilung für Taubstumme aus vermögenden Familien eingerichtet wurde. Damit bestand die Pariser Anstalt zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus zwei strikt voneinander getrennten Sektionen, die kaum noch Gemeinsamkeiten in der pädagogischen Arbeit aufwiesen. In der ersten Abteilung befanden sich etwa 80 Taubstumme, die auf Kosten der Nation unterrichtet und nur für eine nützliche Tätigkeit ausgebildet wurden. In der zweiten, kleineren Gruppe erhielten dagegen etwa 40 taubstumme Kinder zahlender Eltern in allen üblichen Unterrichtsfächern Unterweisung.

Sozialdisziplinierung

Nicht allgemeine Menschenbildung war mehr das Ziel der Unterrichtung Gehörloser aus den armen Volksschichten, sondern soziale Disziplinierung und die Perpetuierung sozialer Ungleichheit. Für all diejenigen, die aufgrund ihres gesellschaftlichen Status zu einer frühen Berufswahl prädestiniert waren, musste demnach eine über das Notwendige hinausweisende intellektuelle Bildung als Verschwendung gelten. Somit war es nur konsequent, dass Anträge auf Freiplätze nur noch für Taubstumme im Alter von 12 bis 14 Jahren gestellt werden konnten, denn nur durch Heraufsetzung des Eintrittsalters war die erwartete Arbeitsfähigkeit der taubstummen Menschen zu gewährleisten.

2.2.2 Die Blindenanstalt

Die Parallelen zwischen den Anfängen der Taubstummen- und Blindenbildung in Paris sind unübersehbar. So ist, ungeachtet der zeitlichen Differenz, auch im Falle der Bildung von Menschen mit Blindheit eine hervorragende Persönlichkeit Motor der Anstaltsgründung: Valentin Haüy (1745–1822), Sprachwissenschaftler und königlicher Dolmetscher. Nicht anders als die Taubstummenanstalt hat auch die Blindenanstalt zunächst den Charakter einer Privatanstalt, und sie soll gerade den Kindern armer Bevölkerungsschichten offenstehen. Auch sie befindet sich permanent in einer finanziell äußerst angespannten Situation und bewegt sich in ihrem pädagogischen Konzept zwischen dem Ideal allgemeiner Menschenbildung und der utilitaristischen Festlegung auf die Hinführung zur Erwerbsarbeit.


Valentin Haüy

August Zeune

Natürlich kannte Haüy wie alle gebildeten Franzosen seiner Zeit Diderots Briefe über die Blinden, aber es bedurfte eines Schlüsselerlebnisses, um in ihm den Plan reifen zu lassen, mit einem Unterrichtsversuch für blinde junge Menschen zu beginnen. Es war die unwürdige Zurschaustellung blinder, kostümierter Musikanten auf dem Pariser Markt Saint-Ovide im Jahre 1771, von der Haüy in verschiedenen Zusammenhängen immer wieder berichtete und die ihn zutiefst empört hatte. Noch im Sommer 1806, als Haüy Paris Richtung Russland verließ und auf seiner Reise Halt in Berlin machte, trug er den bildlichen Beweis dieser Szene mit sich, gleichsam als symbolischen Beleg für die notwendige Befreiung blinder Menschen aus solch erniedrigender Abhängigkeit durch Unterricht und Erziehung. August Zeune, der spätere Direktor der Blindenanstalt in Berlin, erwähnte diese Episode in seinem Werk „Über Blinde und Blindenanstalten“, in dem er schrieb: „Haüy zeigte bei seiner Anwesenheit in Berlin mir einen Kupferstich, wo dieses lächerliche Tonspiel vorgebildet war, worunter noch Reimereien zur Verspottung der Blinden standen.“ (Zeune 1817, 32)

Philanthropische Gesellschaft

Die Gründung der Philanthropischen Gesellschaft, der „Société Philanthropique“, 1780 schuf die Voraussetzung für die Etablierung einer Institution zur Unterrichtung Blinder. Diese Vereinigung wohlhabender, aufgeklärter Bürger und Adeliger, der auch Louis XVI seit 1784 angehörte, wollte drei Personengruppen Unterstützung und Hilfe gewähren: unversorgten armen und alten Menschen, armen Wöchnerinnen sowie armen Blinden. In einem Aufruf im „Journal de Paris“, der ersten Pariser Tageszeitung, vom Dezember 1783 bat die Gesellschaft die Öffentlichkeit um Spenden für blinde Kinder. Mit dem Hinweis auf das Quinze-Vingts5, welches Blinde erst im Alter von 21 Jahren aufnehmen könne und außerdem überfüllt sei, gab die Société Philanthropique bekannt, dass sie zwölf blinden Kindern eine jährliche Unterstützung zukommen lassen wolle. Als Aufnahmebedingung war festgelegt, dass diese Kinder im Alter von zwei bis zwölf Jahren ihren Wohnsitz in Paris haben und armen, aber ehrenwerten Arbeiterfamilien entstammen. Außerdem war der Anmeldung das Zeugnis eines Augenarztes zur Bestätigung der geburts- oder früherworbenen Blindheit beizulegen.

Die Motive der Société Philanthropique lagen keineswegs nur in selbstloser Nächstenliebe, sondern ebenso in einem wohlbegründeten gesellschaftlichen Interesse, das auf die soziale Tüchtigkeit bisher untätiger Personen abzielte. Der König selbst bekundete die Absicht, die Bettelei mit allen Mitteln zu bekämpfen und den Müßiggang in Arbeitsamkeit umzuwandeln, ablesbar an einem Brief aus dem Jahre 1771, in welchem er sein Entsetzen über das Ausmaß an Bettelei in den Straßen von Paris und Versailles äußerte. Der Generalleutnant der Polizei, so forderte der königliche Brief, solle demzufolge geeignete Arbeitshäuser für körperlich Gesunde wie auch für Versehrte errichten.

Maria Theresia Paradis

Im September 1784 meldete sich Valentin Haüy bei der Philanthropischen Gesellschaft zu Wort und unterbreitete einen Vorschlag zur Unterrichtung Blinder – unter Berufung auf Diderot, aber auch Maria Theresia Paradis und Johann Ludwig Weissenburg. Die blinde Wienerin Maria Theresia Paradis (1759–1824) war Sängerin, Pianistin, Komponistin. Sie unternahm 1783 eine dreijährige Konzertreise durch Deutschland, in die Schweiz, nach England und Frankreich. In Paris traf sie im März 1784 ein, wo sie bis zum Oktober des Jahres zahlreiche, mit großem Beifall des Publikums aufgenommene Konzerte gab und engen Kontakt mit Haüy pflegte, der bei ihr viele Hilfsmittel für Blinde kennenlernte. .

Johann L Weissenburg

Johann Ludwig Weissenburg (1752–1800) stammte aus Mannheim, und er war im Alter von fünf Jahren erblindet. Für seine Unterrichtung waren verschiedene Hilfsmittel konstruiert worden, welche Haüy ebenfalls durch Maria Theresia Paradis während ihres Aufenthaltes in Paris kennenlernte (Mell 1952; Dreves 1998).

Eröffnung der Pariser Blindenschule

Die Philanthropische Gesellschaft reagierte positiv auf das Angebot Haüys, und nur wenige Monate später, im Februar 1785, würdigte die „Académie Royale des Sciences“ die pädagogischen Erfolge Valentin Haüys, wobei sie insbesondere sein Verdienst für die Ausarbeitung einer zusammenhängenden, so bislang nicht existierenden Methode des Blindenunterrichts hervorhob. Bereits am 19. Februar 1785 erfolgte die Eröffnung der Blindenschule Haüys mit einem Konzert in der „Académie Royale de Musique“ und einer anschließenden Demonstration der Unterrichtserfolge der ersten Schüler, deren Zahl sich im folgenden März bereits auf 24 belief.

1786 veröffentlichte Valentin Haüy seinen „Essai sur l’Education des aveugles“, der einen kurzgefassten Bildungs- und Lehrplan für den Unterricht blinder Schüler enthält. In seinem Vorwort erinnerte Haüy an das doppelte Schicksal von Armut und Behinderung, indem er darauf hinwies, dass er vor allem der „classe d’infortunés“, also der Klasse der Unglücklichen, Armen, mit seinem Erziehungsplan dienen möchte. Haüy, der sein Werk dem französischen König widmete, unterließ es nicht, das positive Urteil mehrerer Mitglieder der Académie Royale des Sciences – namentlich Antoine de Condorcet – als Beleg für seine erfolgreiche pädagogische Arbeit mit blinden Kindern anzuführen. In ihrem Bericht würdigten die Mitglieder der Königlichen Akademie der Wissenschaften vom Februar 1785 nicht nur die außerordentlichen methodischen Fortschritte der Blindenerziehung, sondern empfahlen zugleich auf das Wärmste die Etablierung einer Institution für die Erziehung und Unterrichtung blinder Kinder und Jugendlicher. Dabei erinnerten auch sie an die nur wenige Jahre zurückliegenden pädagogischen Erkenntnisse und Erfolge eines Abbé de l’Epée, der sich wie Haüy einer bislang vernachlässigten gesellschaftlichen Gruppe zugewandt hatte.

 

öffentliche Darbietungen

Haüy folgte dem Beispiel de l’Epées und trachtete danach, ein großes Publikum für seine Anstalt zu interessieren und lud somit auch zu öffentlichen Darbietungen ein. So gab er bereits im Dezember 1784 im „Journal de Paris“ bekannt, dass man sich künftig in seiner Wohnung, Rue Coquillière, einschreiben könne, und schon kurze Zeit später kündigte er an, dass die Prüfungen seiner blinden Schüler nun zweimal wöchentlich abgehalten würden.

Lehrer mit Blindheit

Nicht anders als de l’Epée unterrichtete Haüy von Anfang an Blinde beiderlei Geschlechts. Aus dem Programm der öffentlichen Unterrichtsschau, welche Haüy mit seinen blinden Schülern im Dezember 1786 vor der königlichen Familie in Versailles abhielt, geht hervor, dass sich unter den 24 anwesenden Blinden im Alter von 8 bis 30 Jahren neun Mädchen befanden. Eine Besonderheit der Blindenanstalt war, dass nach Möglichkeit begabte blinde Schüler als Lehrer eingesetzt werden sollten, was zweifellos der Kostenersparnis diente. Vorbild war der sehr begabte erste Schüler Haüys, Le Sueur, der nach seiner Aufnahme 1784 schon bald als Lehrer tätig wurde und als Anerkennung für seine Arbeit eine regelmäßige finanzielle Entschädigung erhielt.

Bericht eines deutschen Besuchers

Die im Vorjahr der Revolution über Frankreich hereinbrechenden Naturkatastrophen veränderten das Finanzgebaren der Société Philanthropique, die nun vor allem die Katastrophenopfer unterstützte und damit die Gelder für die Blinden spärlicher fließen ließ. Ähnlich wie de l’Epée musste Haüy neue Finanzquellen erschließen, und er tat es, indem er ab 1789 Klassen sehender Kinder aufnahm, die durch blinde Lehrer unterrichtet wurden. Die Wirren der Revolution ließen schließlich die private Unterstützung immer weiter schrumpfen, denn viele Mitglieder der Philanthropischen Gesellschaft zählten zu den politisch Verfolgten, die enteignet oder umgekommen waren bzw. das Land verlassen hatten. Ein deutscher Besucher der Blindenanstalt im Jahre 1791 vermittelt in seinem Bericht einen Eindruck von den existenzsichernden Maßnahmen der Blindenanstalt:

„Diese Waren werden zum Besten des Instituts verkauft. Diejenigen, die Geisteskraft, Fähigkeit und Kenntnisse haben, bietet man dem Publikum in einer eigenen Ankündigung zu Lehrern sehender Kinder an, nicht sowohl, um eine geschwindere, leichtere und fasslichere Unterrichtsmethode erwarten zu lassen, als dem Publikum Gelegenheit zu geben, Wohlthätigkeit zu üben und aus diesem Grunde diese blinden Kinder vorzüglich für ihre Kinder zu wählen. Ich habe ein paar, von ihnen unterrichtete, Kinder gesehen, die einige Fragen aus der Religion, Moral, Geschichte und Geographie sehr fertig beantworteten.“ (Schulz 1791, 188f)

Lehrplan Blindenschule

Es leuchtet unmittelbar ein, dass Haüy, nicht anders als de l’Epée, alles daran setzte, seine Unterrichtsanstalt unter staatliche Aufsicht zu stellen, nicht zuletzt um dem finanziellen Ruin zu entgehen. Dabei schwebte ihm gleichfalls vorrangig der Charakter einer Schule, weniger der einer Arbeitsanstalt vor. Hiervon zeugt die öffentliche Prüfung im Pariser Rathaus von 1790, deren Programm aus folgenden Punkten bestand:

➥ Protokollverlesung,

➥ Instrumentalmusik der Blinden,

➥ Schreibdiktat für einen Blinden,

➥ Lesen,

➥ Rechnen, Lesen von taktiler Musiknotation,

➥ Schreiben in Schwarz- und in Reliefschrift,

➥ Drucken von Text und Musik in Schwarz- und Reliefdruck,

➥ Unterricht sehender Kinder durch Blinde,

➥ Darstellung von Produkten und gleichzeitig demonstrierte Anfertigung handwerklicher Arbeiten,

➥ Vortrag eigener Poesie,

➥ Geographie,

➥ Musik von Gossec.6

Die überlieferten Kritiken dieser Veranstaltung attestierten Haüy uneingeschränkt große Erfolge hinsichtlich der erworbenen Kenntnisse seiner Schüler, insbesondere im Lesen, der Musiknotationen, aber auch in der Unterrichtung sehender Schüler durch blinde „Lehrer“.

Verstaatlichung

1791 wurden, wie bereits erwähnt, die Blinden- und die Taubstummenanstalt verstaatlicht. Zugleich verordnete die Nationalversammlung die Zusammenlegung beider Einrichtungen, was allerdings nicht die erhoffte finanzielle Rettung der Blindenanstalt bewirkte, wohl aber eine unüberbrückbare feindschaftliche Rivalität zwischen Haüy und Sicard (Weygand 2003, 161ff). Die Zusammenführung wurde bereits 1794 wieder aufgehoben, und die Gehörlosen unter der Leitung Sicards zogen in ein neues Lokal in der Rue St. Jacques – der Ort, an dem die Pariser Gehörlosenschule noch heute ansässig ist.

Blindenanstalt in Not

1795 wandten sich Haüy und sein zweiter Lehrer mit einer Petition an den Nationalkonvent, in der sie sehr eindringlich die Hungersnot in ihrer Anstalt schilderten, die bereits Todesopfer gefordert hatte. Trotz der ungenügenden finanziellen Ausstattung während all der Jahre gelang es Haüy dennoch immer wieder, seine Blindenanstalt über Wasser zu halten und den blinden Menschen ein Mindestmaß an Bildung sowie eine Existenzgrundlage zu verschaffen.

Ernst Moritz Arndt

Ernst Moritz Arndt, der während seiner Reisen 1798 und 1799 auch die Blindenanstalt von Paris besuchte, zeichnet in seinem Reisebericht das Bild einer Art Selbsthilfe- und Überlebensgemeinschaft, wenn er schreibt:


„Den Namen, blinde Arbeiter, führen sie nicht blos als eine Zierde, sondern ihre ganze Einrichtung und Subsistenz ist auf Arbeitsamkeit und Industrie berechnet […] Man wundert sich gewiß, wenn ich erzähle, daß die Oekonomie, das Rechnungswesen, der Einkauf der Materialien, und der Verkauf der Produkte ihrer Arbeit von einzelnen Mitgliedern der Gesellschaft verwaltet, und gut verwaltet wird. Noch mehr wird man sich wundern, wenn ich erzähle, daß unter diesen Bürgern der Republik in ihrem kleinen Staate mehrere Blinde in der Ehe leben […] Diese guten Leute zeugen sich denn mit Gottes Hülfe sehende Kinder, und haben Leiter für ihre alten Tage […] Es sind hier Knaben und Mädchen, Jünglinge und Jungfrauen, Männer und Weiber unter einander, und alles wird durch die Bande der Liebe in Zucht und Ordnung verbunden. Durch rastlose Thätigkeit sucht diese kleine Kolonie ihren Zustand zu verbessern, und zu dem Wenigen, was der Staat für sie thun kann, sich noch einige Freuden und Vergnügungen zu verschaffen. Sie lernen das Lesen, Schreiben und Rechnen sich selbst, und gaben uns davon seltne Proben; ihre Bücher, Musikalien und eine Art Landkarten drucken sie sich selbst auf dickes Papier mit erhabnen Lettern, so, daß die eine Seite leer bleibt.“ (Arndt 1802, 204ff)

existenzsichernde Maßnahmen

Insgesamt waren es die folgenden Maßnahmen, die im Einzelnen dazu beitrugen, das Fortbestehen der Blindenanstalt zu gewährleisten:

➥ manuelle Arbeiten und deren Verkauf im eigenen Laden und auf Ausstellungen,

➥ Druck von kleinen Schriftstücken gemäß Aufträgen,

➥ Unterricht sehender Kinder, wobei alle Inhalte, mit Ausnahme von Schrift und Zeichnen, durch blinde Lehrer unterrichtet wurden,

➥ musikalische Darbietungen in Gottesdiensten,

➥ Anstellung blinder Musiker für private festliche Anlässe,

➥ Auftritt eines Orchesters blinder Musiker,

➥ Unterrichtung blinder (zahlender) Kinder aus reichem Hause.

Niedergang der Blindenanstalt

Die 1800 verfügte Zusammenlegung der Blindenanstalt mit dem „Hospice des Quinze-Vingts“, dem Hospiz für ältere Blinde, läutete den Niedergang der Blindenanstalt als Bildungseinrichtung ein und damit auch das Ende der Tätigkeit Haüys in dieser Institution. Unverhohlen und eindeutig begründete der Innenminister die Zusammenführung beider Institute mit ausschließlich ökonomischen Motiven. So teilte er 1802 der Blindenversorgungsanstalt mit, dass aus Gründen der Kostenersparnis die überwiegende Zeit den Handarbeiten zu widmen sei, der Unterricht hingegen auf nur zwei Stunden pro Tag reduziert würde. Haüy erhob Einspruch gegen die Übersiedlung der Blindenanstalt und ihre damit verbundene Zerschlagung, aber sein Einspruch blieb erfolglos – im Gegenteil, Minister Chaptal beeilte sich, die geplante organisatorische Maßnahme sogar als einen pädagogischen Erfolg auszugeben, da nun doch die Bewohner des Versorgungsheims an den Arbeiten der jungen blinden Menschen beteiligt werden könnten.

Entlassung Haüys

Nach viermonatigem Widerstand musste sich Haüy geschlagen geben. Das staatliche Blindeninstitut zog im Februar 1801 in das Gebäude des Hospice des Quinze-Vingts, und nur ein Jahr später erreichte Innenminister Chaptal, dass der verhasste Revolutionär Haüy seines Amtes enthoben wurde. Die jungen blinden Menschen erwartete für die kommenden Jahre ein ghettoartiges Überwachungssystem, das durch Strafe, Kontrolle und Arbeit bestimmt war und nur noch schemenhaft an eine Bildungseinrichtung erinnerte. Nach dem Urteil Weygands (2003, 299) war dies ein Rückschritt in die Zeit vor Haüys Schulgründung im Jahre 1785, als ausschließlich begüterte Taubstumme in den Genuss von Bildung gelangt waren.

Auch die Fachwelt brachte der politischen Entscheidung kein Verständnis entgegen und verurteilte sie scharf. In den „Französischen Miscellen“ wurde Heilmann, ein ehemaliger Schüler Haüys und später dessen Nachfolger als Direktor des „Musée des aveugles“, mit seiner Kritik sehr deutlich:

„Man wies ihn [gemeint ist Haüy, E.-R.] zwar mit einer ehrenvollen Pension zurück, unter dem Vorwand, dass es besser wäre, die Blinden Handarbeiten, als Künste und Wissenschaften zu lehren. Diese zuvor mit Wissenschaften beschäftigten Menschen, wurden nun zum Spinnen und Weben angehalten, auch errichtete man ihnen eine Tabakfabrik, auf welcher sie einen kümmerlichen Unterhalt verdienten. Die Neider des Herrn Haüy trugen kein Bedenken, auszusprechen, dass die Blinden durch die Natur nicht zu den Künsten und Wissenschaften, sondern nur zu den groben Handarbeiten bestimmt wären, und dass man ihnen nur soviel Unterhalt geben müsste, dass sie verhindert würden zu sterben.“ (Heilmann 1804, 125f)

Haüy in St. Petersburg und Berlin

Nach seiner Entlassung gründete Haüy 1802 erneut eine private Anstalt, die aber weitgehend nur von zahlenden jungen Blinden des In- und Auslandes besucht wurde. 1806 kehrte Haüy Paris endgültig den Rücken. Er folgte dem Ruf des russischen Zaren, um in Sankt Petersburg eine Blindenanstalt aufzubauen. Auf der Durchreise blieb er einige Tage in Berlin und führte mit Hilfe seines mitreisenden blinden Schülers seine Unterrichtserfolge einem interessierten Publikum vor. Hier war der Boden bereits gut vorbereitet und der Auftritt beim Preußischen König Friedrich Wilhelm III. war vielleicht der letzte Anstoß, damit 1806 durch August Zeune die erste Blindenanstalt auf deutschem Boden errichtet werden konnte (Dreves 1998; Mehlitz 2003; Drave/Mehls 2006).

Vor seiner Abreise nach Russland im Jahre 1806 hatte Haüy die Leitung seiner Privatschule dem blinden Deutschen Heilmann übertragen; wie lange diese Schule noch weiter existierte, ist anhand der Quellenlage nicht genau zu bestimmen. In der staatlichen Blindeninstitution, nun mit dem Quinze-Vingts verbunden, spielte der Unterricht nur noch eine Nebenrolle, denn es wurden überhaupt nur noch zwei Unterrichtsstunden gegeben. Aber nicht nur der Unterricht kam in der staatlichen Anstalt in den Folgejahren zum Erliegen, sondern auch die manuelle Beschäftigung, da durch die Aufgabe der Leintuchmanufaktur im Jahre 1805 keine ausreichenden Beschäftigungsmöglichkeiten für die Blinden mehr gegeben waren. Damit hatte diese Institution kurz nach der Jahrhundertwende ihre Bedeutung eingebüßt. Sie war weder eine Bildungsanstalt noch eine Einrichtung der Arbeitserziehung; sie verkam zu einer Verwahranstalt.

 

Neuorganisation staatlicher Blindenfürsorge

Mit Machtantritt der Bourbonen 1815 erfolgte eine Neuorganisation der Blindenfürsorge. Die Zusammenlegung mit dem Versorgungsheim wurde zurückgenommen, und 1816 zogen die jungen Blinden in ein neues Gebäude. Aber ganz im Unterschied zu der Zeit, in der Haüy die Blindenanstalt als eine Lebens- und Selbsthilfegemeinschaft geleitet hatte, wurde sie nun als eine Einrichtung organisiert, die streng auf Effizienz ausgerichtet war und in der die blinden Zöglinge durch Unterricht und Arbeit einer straffen Ordnung und Disziplin unterlagen. Ein streng geregelter Tagesablauf, eine strikte Trennung nach Geschlechtern, das Verbot jeglichen körperlichen Kontaktes, ständige Überwachung, lange Arbeitszeiten, himmelschreiende hygienische Verhältnisse, mangelhafte Ernährung und medizinische Versorgung sowie harte Strafen – all das sind die Kennzeichen der Pariser Blindenanstalt in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts.

Direktor Guillié

Ein besonders dunkles Kapitel bildet die Ära unter der Leitung des Arztes Doktor Guillié, der zur Zeit der Restauration von 1815 bis 1821 wie ein Despot in der Anstalt agierte und der nicht nur vor dem Auspeitschen und Anketten der Zöglinge nicht zurückschreckte, sondern auch mit Hilfe operativer Eingriffe medizinische Experimente an ihnen durchführte (Weygand 2003, 317ff). Kein Schüler durfte sich nach Belieben frei in der Institution bewegen; jeder, der irgendwo angetroffen wurde, musste sich ausweisen können und belegen, dass er aufgrund dieser speziellen Erlaubnis mit einem besonderen Auftrag unterwegs war.

Die 1815 beschlossene Neuorganisation des Königlichen Blindeninstituts in Paris als eine Einrichtung für Unterricht und Arbeit blieb weitgehend graue Theorie. Bis in die 40er Jahre des 19. Jahrhunderts hatte die Anstalt sowohl mit einer ungenügenden räumlichen Unterbringung als auch mit einer mangelhaften finanziellen Ausstattung zu kämpfen. In ihr war weder das zugestandene Lehrpersonal vorhanden noch die anvisierte Schülerzahl von 90 Freistellen realisiert. Erst 1843 konnte durch den Umzug in das Gebäude am Boulevard des Invalides, das das Institut noch heute bewohnt, für die desolate Raumsituation eine zufriedenstellende Antwort gefunden werden.

Protokolle des Verwaltungsrats

Mangelnde politische und damit finanzielle Unterstützung ließen die Pariser Anstalt in einem recht erbärmlichen Zustand verharren, der eindrucksvoll durch die Protokolle des Verwaltungsrats der Blindenanstalt während der 1820er und 30er Jahre belegt wird:


29. März 1824: Die Anstalt ist voll belegt; es gibt keine vakanten Plätze mehr; Anfragen können nicht berücksichtigt werden in nächster Zeit.

8. Juli 1824: Der Direktor und der Buchhalter berichten über die Besichtigung verschiedener Grundstücke, welche zur Errichtung einer Anstalt geeignet sein könnten; die weiteren Maßnahmen hierzu werden vertagt.

17. April 1826: Aufgrund der schlechten finanziellen Lage des Staates und demzufolge auch des Instituts, wird vom Innenminister in Erwägung gezogen, die Anzahl der Schüler zu verringern, also nicht mehr alle vakanten Plätze zu besetzen.

12. Mai 1828: Verschiedene Schüler sind ihren Familien zurückgegeben worden. Ein Schüler wurde infolge seiner Epilepsie in ein Spital aufgenommen; drei sind gestorben. Der Direktor berichtet über die große Zahl an Krankheiten in der Anstalt und die Überlastung der Krankenschwester. Der bauliche Zustand des Instituts ist schlecht; die nötigen Mittel für Reparaturen fehlen. Es ist sehr dringend nötig, ein anderes Lokal zu finden. Der Bestand der kostenlos aufgenommenen Schüler ist jetzt stark reduziert.

27. April 1830: Zwei Schüler sind gestorben. Die Krankenschwester ist überlastet, muss Unterstützung erhalten.

10. Februar 1831: Der Buchhalter ist mit der Kasse und den Unterlagen verschwunden. Die prekäre finanzielle Situation der Anstalt wird durch diesen Vorfall noch verschlimmert.

8. März 1831: Der Innenminister teilt mit, dass die finanzielle Lage des Staates den Ankauf von Gebäuden für die Institution momentan nicht erlaubt.

22. April 1831: Zwei Schüler sind gestorben.

30. März 1832: Die Cholera breitet sich in der Hauptstadt aus, und die Blindenanstalt befindet sich in den besonders gefährdeten Gebieten.

7. April 1832: Angesichts der Choleragefahr rät der Innenminister, die Kontakte mit der Außenwelt weitmöglichst zu reduzieren.

25. April 1832: Aufgrund der schwierigen finanziellen Lage der Anstalt ordnet der Minister an, auf weitere Aufnahmen von Schülern im Moment zu verzichten. Ein Schüler ist gestorben. Auch der neu eingestellte Buchhalter ist gestorben.

20. Juli 1832: Zwei Schüler sind an Cholera gestorben.

28. Dezember 1832: Dem Minister wird in Erinnerung gerufen, dass immer noch viele Plätze in der Anstalt unbesetzt sind.

29. März 1833: Zwei Schüler sind gestorben.

31. Mai 1833: Ein Schüler ist gestorben. Der Minister ernennt 20 neue Freischüler; anschließend noch zwei weitere, um somit die vakant gebliebenen Plätze wiederum zu besetzen.

28. Juni 1833: Einer der neuen Schüler ist bereits gestorben.7

Todesfälle

Diese Berichte, die sich fortsetzen ließen, sprechen für sich und lassen keinen Zweifel aufkommen am desolaten Zustand der Pariser Blindenanstalt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Wie Weygand (2003) berichtet, lagen die jährlichen Todesraten der Zöglinge zwischen 1803/04 und 1811 durchschnittlich bei mehr als vier Insassen, wobei diese statistischen Angaben eher noch als zu niedrig einzuschätzen sind. Die Sterblichkeitsrate blieb auch in den folgenden Jahren hoch, obgleich sich der Nachfolger des unsäglichen Guillié im Amt des Direktors, der Arzt Alexandre-René Pignier (ab 1821), für eine verbesserte Ausstattung der materiellen Rahmenbedingungen der Anstalt einsetzte. So waren, folgt man der offiziellen Statistik, auch unter seiner Leitung zwischen 1821 und 1838 54 Todesfälle in der Blindenanstalt zu beklagen (s. a. Henri 1952, 14ff).

Zuständigkeit: Innenministerium

Eine entscheidende Ursache für den Niedergang der Bildungsinstitute für „Sinnesbehinderte“ lag zweifellos in der zur Zeit der Revolution gefallenen Entscheidung, diese Institute nicht dem Erziehungsministerium zu unterstellen, sondern sie als Einrichtungen der Wohlfahrt dem Zuständigkeitsbereich des Innenministeriums zuzuordnen. Damit war eine folgenreiche bildungspolitische Strukturentscheidung getroffen, die bis zum heutigen Tag im Bereich der Sondererziehung in Frankreich nachwirkt. Der Großteil der „klassischen“ Behinderungen gehört nach wie vor nicht zum Ressort des Erziehungsministeriums (Ellger-Rüttgardt 2006b).

Aufgabe von Gleichheitsideal

Aber auch die ideelle Basis erwies sich als brüchig, denn die uneingeschränkte Anerkennung von Menschen mit einer Behinderung als gleichwertig war noch keineswegs Gemeingut. Mit der Diskreditierung des revolutionären Gleichheitsideals durch Restauration und staatliche sowie kirchliche Reaktion wurde folgerichtig der Personenwert behinderter Menschen erneut in Frage gestellt. Hierauf deuten Äußerungen Sicards bzw. Guilliés hin, die den Taubstummen in seinem „natürlichen“ Zustand mit einer beweglichen Maschine verglichen, welche in ihrer Organisation unterhalb der Tiere stehe, oder aber den Blinden als ein Wesen ohne Moral und nur mit einer rudimentären Gefühlswelt ausgestattet betrachteten (Hofer-Sieber 2000, 276ff; Weygand 2003, 321).

Mit derartigen Charakterisierungen erfolgte nicht nur ein Rückschritt in den Bildungsanstrengungen für behinderte Menschen, sondern zugleich ein Rückfall in eine partikularistische und exkludierende Anthropologie. Somit manifestierte sich noch vor der Wende zum 19. Jahrhundert in den ersten Bildungsinstituten für Menschen mit Behinderung auf französischem Boden eine Abkehr vom Ideal der allgemeinen Menschenbildung. Die Kehrseite einer Pädagogik der Aufklärung, die auf ökonomische Nützlichkeit und soziale Kontrolle setzte, wurde zunehmend gesellschaftliche Praxis.

Wien

2.2.3 Das Taubstummen-Institut

Kaiser Joseph II.

Das Urteil Paul Schumanns, dass die Wirkung Michel de l’Epées nicht auf Frankreich begrenzt sei, sondern „alle Kulturnationen“ von ihm lernten (1940, 131f), trifft in ganz besonderem Maße für die Gründung der Wiener Taubstummenanstalt zu. Ihr Initiator und Förderer, der aufgeklärte Monarch Joseph II., Bruder der französischen Königin Marie Antoinette und damit Schwager Ludwig des XVI., hatte anlässlich seines Besuchs in Paris 1777 nicht nur von der Taubstummenschule de l’Epées erfahren, sondern diese auch selbst besucht (Schumann 1940, 196; Schott 1995, 54f).