Aschenputtels Gebet

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Aschenputtels Gebet
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Siegfried Ahlborn

Aschenputtels Gebet

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Der erste Schritt

Der zweite Schritt

Der dritte Schritt

Der vierte Schritt

Der fünfte Schritt

Der sechste Schritt

Der siebte Schritt

Der achte Schritt

Der neunte Schritt

Der zehnte Schritt

Der elfte Schritt

Der zwölfte Schritt

Erster Schritt

Impressum neobooks

Der erste Schritt

Es war im Jahre nach dem großen Winter, in welchem das Leben des Herrn Axel Sommer und seiner Tochter Anna eine entscheidende Wendung nahm. Aber anfangs war davon noch nichts zu spüren. Sie saßen wie jeden Mittag im Café, aßen eine Waffel, tranken Tee und Kaffee, und unterhielten sich über die Schule. Herr Sommer war Mitte dreißig, und Anna hatte das achte Lebensjahr gerade erreicht.

„Wie war‘s in der Schule?“ fragte er und betrachtete sie aufmerksam. Er schaute sie gerne an, denn sie war so schön, dass sie überall, wohin sie kamen, die Blicke auf sich zog. Hier in diesem Café kannte man sie schon. Ihr dankbares Lächeln und ihre strahlenden Augen, taten jedem wohl, der sie sah. Im Märchen hätte man gesagt: Sie war so schön wie der lichte Tag.

„Gut!“ antwortete sie, kaute genüsslich an ihrer Waffel, und fügte dann hinzu: „Ich muss nur das Bild noch zu Ende malen. Im Kopfrechnen war ich super.“

„Was ist das für ein Bild?“ fragte er interessiert.

„Ich habe einen Baum gemalt“, war die kauende Antwort, „weil wir uns etwas aussuchen durften. Aber der ist noch nicht fertig.“

Der Vater lächelte und strich ihr liebevoll über den Kopf. Seit dem Tod der Mutter im letzten Jahr, waren sie sich näher gekommen, und jedes Mal, wenn er sie mittags von der Schule abgeholt hatte, gingen sie kurz in dieses Café und genehmigten sich eine Waffel mit Tee – Anna trank nur Kräutertee – und einen Kaffee. Etwas Warmes kochte er dann am Abend, wenn er von der Arbeit wieder nach Hause gekommen war. Jetzt in der Mittagsstunde hatte er gerade einmal Zeit, seine Tochter von der Schule abzuholen, eine Waffel mit ihr zu essen, einen Kaffee zu trinken, und sie nach Hause zu fahren. Dann fuhr er selbst wieder zur Arbeit und Anna machte ihre Hausaufgaben, oder spielte mit ihren Puppen.

An diesem Tag aber geschah etwas Unerwartetes, etwas, das nicht nur diese Stunde im Café, sondern ihr ganzes zukünftiges Leben verändern sollte – so wie das Licht der Sonne nach einem strengen Winter die Welt veränderte. Aber es war nicht die Sonne, die an diesem Tage kam, sondern eine andere Person.

Während nämlich vor der Türe des Cafés der Regen unaufhörlich auf den Schnee des Vorjahres prasselte, fiel der Blick des Vaters, der nach dem Tode von Annas Mutter seine Traurigkeit niemals wieder verloren hatte, auf eine Dame, die nicht weit von ihnen an einem runden Tisch Platz genommen hatte, und die beiden einsamen Kaffee- und Teetrinker interessiert beobachtete. Ihre Blicke trafen sich, und wie es manchmal so ist, lag in ihnen eine ungewohnte Vertrautheit, so, als habe man sich schon ewig gekannt.

Aber auch Anna sah die Frau – und erschrak. Mehr noch, sie hatte plötzlich das Gefühl, als zöge eine dunkle Wolke durch den Raum, und lege sich zwischen sie und ihren Vater.

Dieser aber spürte eine neue Hoffnung in sich aufsteigen, und hielt dem Blick der fremden Dame stand, denn sie war schön, sehr schön – so empfand er es auf jeden Fall. Seiner Tochter Anna aber gefiel sie gar nicht. Da waren die blond gefärbten Haare, die auffälligen Kleider und die geschminkten Augen, die ihrem Empfinden von einem schönen Menschen widersprachen.

Ihre Mutter hingegen war wirklich schön gewesen. In- und an ihr hatte sich nichts Gekünsteltes befunden, sondern alles war in einer inneren und äußeren Harmonie von ihr in Würde gehalten und getragen worden. Und diese fast kosmische Harmonie, hatte alle Menschen wie mit einem allumfassenden, leuchtenden und liebevollen Licht umstrahlt. Aber diese ihre Mutter war im letzten Jahr verstorben. Sie war ganz plötzlich, von einer unerklärlichen Schwäche überfallen, dahingeschwunden – und kein Arzt hatte ihr helfen können.

Anna hatte viel bei ihr am Bett gesessen und die Mutter hatte ihr liebe Worte gesagt. «Achte die Natur, Anna», hatte sie gesagt. «Und achte auf das, was du tust, denn mit dem, was du tust, musst nicht nur du, sondern müssen auch die anderen Menschen, die Tiere und selbst die Pflanzen leben».

Anna hatte das verstanden – irgendwie. Denn was die Mutter sagt, versteht man einfach. Und einmal hatte die Mutter, kurz bevor sie die Augen für immer geschlossen hatte, hinzugefügt: «Die Natur ernährt uns, Anna, sie pflegt uns, und umstrahlt uns mit ihrem Licht. Sie kommt von Gott und will zu Gott zurück. Und wenn wir ihr Brot essen, essen wir das, was sie uns vom Himmel geschenkt hat. – Aber wir essen es hier auf Erden, und so müssen wir es auch hier auf Erden wiederum verwandeln und gesunden, denn die Natur will gesundet werden. Ja, Anna, das Brot, das wir essen, ist aus himmlischen Stoffen durch uns Menschen geformt, und will zum Himmel zurück. Das ist seine Gesundung in uns und durch uns. Und siehst du, so ist es auch mit unserem eigenen Leben: Wir müssen es nehmen, wie es uns vom Himmel hier auf Erden geschenkt worden ist, und müssen es zurückverwandeln in Gott».

Und dann hatte sie ihre Hand genommen, ihr in die Augen geschaut und gesagt: «Wenn ich nun sterbe, so werde ich doch nicht fort sein. Ich werde nur den äußeren Augen unsichtbar sein. Aber in deinem Herzen, Anna, werde ich auferstehen, wenn du hinausschaust in die Natur und dir von ihrem Altar das Brot zum Leben nimmst».

Das hatte sie gesagt und die Augen geschlossen. Und Anna hatte nun auch irgendwie verstanden, warum sie bei Tisch immer hatte beten müssen:

Das Brot ist Himmelsfrucht,

Dem Sternenall entsunken.

Es hat auf unserem Tische,

Die Sterne neu gefunden.

Daran dachte Anna jetzt und dachte auch, was wohl die Mutter zu der fremden Frau gesagt hätte.

„Papa“, sagte sie dann entschieden, „lass uns gehen!“

Der Vater zögerte, bezahlte, nickte der fremden Frau bedeutsam zu, und verließ mit Anna das Café. Draußen nahm er sie bei der Hand und drückte diese schweigend. Anna schaute zu ihm auf, wagte aber nichts zu sagen.

Für den Vater war Anna ein besonderes Kind. Nicht nur, weil sie eine lebendige Erinnerung an seine verstorbene Frau darstellte, sondern auch, weil sie eine Art an sich hatte, die ihm tief zu Herzen ging. Sie war niemals ungeduldig, war an allem liebevoll interessiert, und hatte für alle Wesen ein gutes Herz. Deshalb folgte der Vater nun auch ihrem diesmal ungewöhnlich ernsten Wunsch, und fuhr mit ihr heim.

Als Anna zu Hause war, malte sie schnell das Bild für die Schule fertig und ging dann in den Garten hinaus, um ihre Mutter zu begrüßen. Diese hatte ja gesagt, dass sie dort immer um sie sein würde. Also schaute Anna in die Natur, ins Licht und in die Wolken, und dachte, dass sie jetzt in ihrem Herzen ihrer Mutter eine Bleibe gab. Sie weinte und ging dann zu ihrer Mutter Bild in ihr Zimmer zurück, denn das hatte sie auf der Kommode neben dem Fenster aufgestellt, und mit schönen Steinen und frischen Blumen umrahmt.

Dann spielte sie noch ein wenig mit ihren Puppen, und als der Vater von der Arbeit wieder nach Hause kam – er kam diesmal später als sonnst –, wagte sie die Frage: „Was war das für eine Frau in dem Café?“

„Die kenne ich nicht“, antwortete er, während er ein Essen für sie vorbereitete.

„Die war komisch“

„Findest du?“

„Ja!“

„Aber du kennst sie doch gar nicht.“

„Doch!“

Der Vater schaute Anna erstaunt an. „Du kennst sie?“

„Nein, nein. Ich wollte sagen….“

„Was wolltest du sagen?“

„Sie war komisch.“

„Gut, lassen wir das. Komm, deck den Tisch, das Essen ist gleich fertig.“

Anna deckte den Tisch und fühlte sich schlecht. Warum hatte sie gesagt, dass sie die Frau kenne? Dann saßen sie gemeinsam bei Tisch und falteten die Hände zum Gebet. Früher hatten sie es mit der Mutter gesprochen, jetzt sprachen sie es alleine:

„Das Brot ist Himmelsfrucht,

Dem Sternenall entsunken.

Es hat auf unserem Tische,

Die Sterne neu gefunden.“

Und dann fragte Anna ihren Vater zum ersten Mal nach der Bedeutung dieses Gebetes.

 

„Mama hätte es dir erklären können“, sagte er, zögerte, und fügte dann hinzu: „Ich weiß nur soviel, dass es uns darauf hinweisen will, dass alles, was wir zu uns nehmen – und wofür das Brot nur ein Beispiel ist –, dem Himmel verloren gegangen ist und durch den Menschen zurückgebracht werden soll.“

„Und wie machen wir das“, wollte Anna wissen.

Der Vater zuckte ein wenig mit den Achseln: „Das weiß ich nicht so genau, Anna. Die Natur zeigt uns ja nur ihre physische Seite. Was sie geistig ist, oder werden will – oder wieder werden will, kann ich nicht ermessen. Das war Mamas Welt. Aber im Erkennen, in der Liebe und im Tun des Menschen, kann sie ihren Anschluss an die Sterne bestimmt wieder finden. Und auch, wenn wir sie in Form unserer Speise zu uns nehmen.“

Anna verstand das ein wenig und dachte an die Worte ihrer Mutter: «Das Brot, das wir essen, ist aus himmlischen Stoffen durch uns Menschen geformt, und will zum Himmel zurück. Das ist seine Gesundung in uns und durch uns».

Aber sie hatte ja noch hinzugefügt: «Und siehst du, so ist es auch mit unserem eigenen Leben: Wir müssen es nehmen, wie es uns vom Himmel hier auf Erden geschenkt worden ist, und müssen es zurückverwandeln in Gott». Und deshalb fragte sie nun auch ihren Vater: „Müssen wir uns selbst auch zurückverwandeln in Gott?“ Da schaute er sie ganz überrascht an und fragte: „Hat Mama dir das so gesagt?“

„Ja.“

„Dann ist es auch so, Anna“, nickte er und beendete das Gespräch, indem er sie bat, nun in Ruhe weiter zu essen. Das tat sie denn auch. Und so aßen sie schweigend zu Ende, und fühlten die Gegenwart der Mutter.

Aber Anna machte sich Sorgen. Und nicht von ungefähr. Denn da war etwas Fremdes im Vater, seit sie die Frau im Café gesehen hatten.

Und tatsächlich hatte der Vater an den folgenden Tagen auch abends oftmals noch etwas zu erledigen, und Anna blieb allein zu Hause.

Aber sie bemerkte die Veränderung in seinem Blick. War er vorher weit und traurig gewesen, so wurde er jetzt enger und fröhlicher. Anna spürte das und litt, denn seine neue Fröhlichkeit war ihr fremd. So fragte sie ihn wohl des Öfteren, wo er abends gewesen sei, bekam aber immer nur eine ausweichende Antwort. Bis es sich eines Tages offenbarte, denn sie bekamen Besuch.

„Anna“, sagte der Vater, „heute bekommen wir Besuch. Sei mir nicht böse und sei nett zu Frau Lotte, das ist die Dame, die wir im Café gesehen haben. Lore Lotte heißt sie.“

Anna staunte. „Ich dachte, du kennst sie nicht?“

„Das ist richtig“, sagte der Vater, „aber ich habe sie kennengelernt. Und sie ist wirklich nett – und das Beste ist“, dabei nahm er Anna in den Arm und strich ihr über den Kopf, „das Beste ist, dass sie zwei Töchter hat, die in deinem Alter sind, und mit denen du spielen kannst. Du bist acht, Nora ist sieben und Lucia neun.“

Anna schwieg und der Vater gab sie frei. „Also, freust du dich?“

Anna schwieg weiter. Was hätte sie auch sagen sollen? Dass sie die Mädchen nicht sehen wolle? Dass sie auch die fremde Frau nicht sehen wolle? Das hätte ihren Vater nur wieder traurig gemacht. Und der Besuch war ja schnell vorbei – und vielleicht konnte man ja auch mit den zwei anderen Mädchen spielen. Also gab sie sich endlich einen Ruck und fragte: „Nora und Lucia heißen sie?“

„Ja, Nora und Lucia.“

„Sind die auch auf meiner Schule?“

„Oh, das habe ich nicht gefragt“, bedauerte der Vater.

„Na gut, dann werde ich sie fragen.“ Anna gab sich jetzt ganz zuversichtlich, und half dem Vater, den Kaffetisch für den anstehenden Besuch zu decken. Aber als dieser das beste Geschirr nahm, das bisher nur sonntags auf den Tisch gekommen war, wehrte sie sich und rief: „Nicht das Geschirr mit dem goldenen Rand. Wir haben doch auch noch das ganz normale, das mit dem blauen Muster.“ Aber der Vater bestand darauf, und Anna musste sich fügen.

Und dann kamen sie. Die Mutter sah aus, wie Anna sie im Café gesehen hatte: blond gefärbte Haare, bunt wallende Kleider und dunkel gefärbte Augen. Sie war etwa in dem Alter ihres Vaters, so schätzte Anna, und kam gleich auf sie zu, um sie in den Arm zu nehmen.

„Das ist meine Tochter Anna“, sagte der Vater. Aber Anna wich zurück und war erst beruhigt, als die Frau nicht weiter auf sie eindrang.

„Das ist Lore Lotte“, stellte der Vater sie nun ihrerseits vor, und Anna musste sich plötzlich zusammennehmen, um nicht zu lachen, da ihr der Name Lore Lotte lustig vorkam. Aber dann sah sie die zwei Mädchen, die sich hinter der Mutter versteckt hatten, und wartete mit großen Augen, dass man sie ihr vorstelle.

Das tat die Mutter dann auch. Griff nach der einen Tochter, hielt sie an der Schulter fest, schob sie nach vorne, und sagte: „Das ist Nora, meine Schöne. Sie ist auch die Schönste und Beste in der Klasse – und das“, dabei griff sie nach der anderen, „das ist Lucia, in ihrer Klasse auch die Schönste. Wenn du lieb zu ihnen bist, Anna, könnt ihr miteinander spielen. Wollt ihr das?“

Die beiden Mädchen nickten brav und Anna wusste nicht, was sie sagen sollte. Denn so schön fand sie die beiden gar nicht, und hatte sie auch noch nicht an ihrer Schule gesehen. Also nickte sie nur hilflos, und der Vater schickte sie alle drei auf Annas Zimmer. „Macht euch ein bisschen bekannt“, sagte er, „bis wir euch rufen.“

Anna ging voraus und die beiden anderen folgten. Dabei betrachteten sie einander kritisch. Objektiv gesehen war Anna die Schönste. Aber das empfanden die beiden anderen natürlich anders. Lucia spielte sich auf, fuchtelte mit den Armen in der Luft herum, strich mit gespreizten Fingern dauernd durch ihre hellblonden Haare, und rief: „Ja, lasst uns spielen, ich kann ganz tolle Spiele – stimmt’s Nora, kann ich toll spielen?“

Nora war die Jüngere und Dunklere. Sie war auch schweigsamer und sah missmutig drein. Auf den Ausbruch ihrer Schwester reagierte sie nur mit einem Achselzucken. Dann nahm sie, in Annas Zimmer angekommen, alles genau und streng in Augenschein, und schien fast ein wenig angewidert von der Ordnung, die sie vorfand. Anna ließ ihnen Zeit sich umzuschauen, und sagte dann: „Wir könnten ein bisschen mit den Puppen spielen.“

„Au ja!“ rief Lucia begeistert, und hatte schon die erste Puppe in der Hand.

„Ich mag Puppen nicht“, knurrte Nora.

Aber Lucia hatte sich schon den Puppenwagen geschnappt und die größte Puppe darin verstaut. Dann jagte sie mit dem Wagen durchs Zimmer, so dass Anna erschrocken rief: „Das ist zu schnell, das mag Alma nicht!“

Lucia lachte und Nora brummte: „Siehste.“

Da nahm sich Lucia etwas zurück, machte aber deutlich, dass man so nicht spielen könne. Nora griff derweil nach einem Stein, der vor dem Bild von Annas Mutter lag, hielt ihn fest in der Hand und fragte: „Darf ich den haben?“

„Nein“, sagte Anna erschrocken, und Nora legte ihn widerwillig an seinen Platz zurück. Dann begann sie, die Bücher durchzuschauen, die schön geordnet im Regal standen. Nahm verschiedene heraus, drehte sie hin und her und blätterte sie durch. Aber gefallen taten sie ihr anscheinend nicht. Trotzdem tat sie sehr interessiert, setzte sich und vertiefte sich flüchtig in das eine oder andere.

Währenddessen hatte Lucia gleich mehrere Puppen zum Spielen ergriffen, setzte sie hin und her und fuhr sie spazieren. Aber zum richtigen Spielen kam es nicht, denn sie bezog Anna nicht mit ein, sondern ließ sie nur stumm beiseite stehen. Anna ertrug das mit Geduld und wunderte sich nur über diese Art des Spielens. Da rief der Vater: „Anna!“

Und Frau Lotte rief: „Nora, Lucia, ihr Süßen, kommt Kaffeetrinken!“ – Obgleich das ja Unsinn war, denn Kaffee bekamen nur die Erwachsenen. Die beiden Mädchen bekamen Kakao und Anna ihren Tee.

Also stürmten sie ins Wohnzimmer, und Anna freute sich schon auf den Kuchen, den der Vater im Café besorgt hatte. Sie suchten sich ihre Plätze, und der Vater nahm neben Lore platz. Sie waren sich – während die Kinder in Annas Zimmer gewesen waren – einig geworden zusammenzuziehen, und nun wollten sie es den Kindern offenbaren.

Und nachdem sich dann alle fünf Personen am Tisch platziert hatten, jeder ein Stückchen Kuchen vor sich stehen hatte, Kaffee, Kakao und Tee eingeschenkt waren, begann der Vater mit seiner Ansprache:

„Liebe Familie“, er machte eine Pause. „Ja“, bekräftigte er, „liebe Familie.“ Annas Hände wurden kalt. „Ich möchte, dass wir uns jetzt wie eine Familie fühlen, denn Lore und ich, wir haben beschlossen – zusammen mit euch Kindern – ab jetzt eine einzige große Familie zu sein.“

Alle schwiegen. Selbst Lucia, die immer etwas zu sagen hatte, schwieg. Aber Nora schaute sich verstohlen im Zimmer um, so, als überlege sie, was ihr jetzt alles gehöre. Anna saß wie gelähmt, und ihr war, als weine die Mutter in ihrem Herzen. Dann sprang sie auf und lief durch die Terrassentür hindurch in den Garten hinaus.

Lore stand auf, stellte sich hinter ihre Töchter, legte ihre Arme um sie und fragte: „Freut ihr euch, wenn wir hier einziehen?“

„Haben wir dann auch ein eigenes Zimmer?“, fragte Lucia, die ihre Sprache wiedergefunden hatte.

„Ja“, sagte ihre Mutter. „Axel sagt, dass es genug Zimmer gibt.“

„Ich möchte es sehen“, sagte Nora trocken.

Lore schaute Axel an, der gerade im Begriff gewesen war, seiner Tochter zu folgen. „Ja, gerne“, sagte er, wandte sich um und führte die drei die Treppe hinauf, wo sich noch eine Anzahl Zimmer befand.

Anna hatte ihr Zimmer im Erdgeschoss neben dem ihres Vaters, der nach dem Tode der Mutter mit zu ihr nach unten gezogen war, um ihr näher zu sein. Oben befanden sich das Schlafzimmer der Eltern und zwei Gästezimmer. Früher hatte Anna in einem dieser Zimmer geschlafen. Aber nachdem sie in die Schule gekommen war, hatte sie darauf bestanden nach unten zu ziehen, um ihre Selbständigkeit auch räumlich zu erleben. Außerdem konnte sie von ihrem Zimmer aus direkt in den Garten gehen, und das war ihr wichtig gewesen.

Nora und Lucia besichtigten die Zimmer und Lucia rief: „Cool, kann ich das Größere haben? Ich bin ja auch die Ältere.“

Nora rümpfte die Nase, denn sie wusste, dass sie gegen dieses Argument nicht ankam. Also gab sie sich mit dem kleineren zufrieden und tat so, als sei sie schon eingezogen. Sie warf sich aufs Bett, knipste die Nachtischlampe an und aus und meinte, indem sie sich umschaute: „Gehört das jetzt alles mir?“

Der Vater lachte etwas hilflos, doch die Mutter beeilte sich zu sagen: „Natürlich, mein Schatz.“

Es waren ordentliche und saubere Zimmer, weil Anna ihrem Vater half, sie sauber zu halten. Eine Haushilfe hatten sie nicht. Aber sie waren jetzt nur für Gäste eingerichtet, und die beiden Mädchen überlegten, wo sie ihre Sachen hinstellen könnten.

Dann schauten sie sich weiter um. Und während sie so durch das Haus gingen, und der Vater ihnen alles zeigte, und gleichzeitig über ihr Benehmen etwas irritiert war, hatte sich Anna im Garten auf ihren Lieblingsplatz unter die Jasminhecke gesetzt, und suchte Kontakt zu ihrer Mutter.

Die Sonne hatte sich an diesem Tage schon dem Horizont zugeneigt, und die Vögel sangen ihr lauthals hinterher. Anna trauerte ihr nach. Sie liebte es, ins Licht zu schauen, und die Sonne als ein Tor zur Mutter zu empfinden. Denn diese hatte ja gesagt, dass sie vom Himmel immer auf sie herabschauen würde. Und das konnte nur aus der Sonne sein – und aus den Sonnenstrahlen, die jetzt auf ihre Füße fielen.

„Mutter“, sagte sie leise, „holst du mich zu dir? Ich will die anderen nicht in unserem Haus.“ Aber die Mutter antwortete nicht. Stattdessen spürte sie, wie in ihrem Rücken die Nacht über sie kam. Es wurde ihr unheimlich, und als sie es nicht mehr aushielt, drehte sie sich abrupt um. Da erblickte sie ihren Vater, der gerade Frau Lotte und ihre Töchter verabschiedet hatte, und sich ihr nun näherte.

Sie stand auf und ging ihm entgegen. Es war kein weiter Weg, denn es war auch kein sehr weitläufiger Garten, obgleich er groß genug war, um Blumen, Büsche und eine Spielwiese zu beherbergen. Als sie den Vater erreicht hatte, umschlang sie ihn mit beiden Armen und schluchzte: „Ich will nicht, dass die kommen, die sind böse!“

Der Vater erschrak, und drückte sie fest an sich. Dann sprach er beruhigend auf sie ein. „Anna“, sagte er, „Schau mal, wir haben ein so großes Haus und Frau Lotte mit ihren Töchtern hat nur eine kleine Wohnung. Ist es da nicht für beide Parteien richtig, sich auszugleichen? Du hast doch auch etwas davon, wenn sie zu uns kommen.“

„Was denn“, fragte Anna abwehrend.

„Na, Gesellschaft zum Beispiel, wenn ich nachmittags bei der Arbeit bin. Und das Essen kann dann auch schon fertig sein, wenn ich komme. Außerdem hast du jemanden, der dir bei den Hausaufgaben helfen kann, hast zwei andere Kinder zum Spielen, und brauchst mir im Haus nicht mehr so viel zu helfen. Lore ist eine tüchtige Frau.“

 

Bei diesen Worten sah Anna im Geiste ein Schifflein vor sich, das mit dem Schönsten ihrer Seele beladen, am Horizont verschwand. Sie machte sich von ihm los und schaute traurig zu Boden.

„Komm“, sagte der Vater nach einer Pause, „wir wollen den Kaffeetisch abräumen.“

Aber Anna reagierte nicht sofort, sondern fragte noch: „Woher weißt du denn, dass Frau Lotte tüchtig ist?“

„Lore“, korrigierte er sie und erklärte dann: „Wir haben uns in der letzten Zeit öfters getroffen und sie hat mir tiefe Einblicke in ihr Leben gewährt. Sie ist Schneiderin und hat ihre Kinder ganz alleine groß gezogen. Das beweist ja schon, dass sie sehr tüchtig ist. Aber jetzt freut sie sich darauf, dass sie bei uns ein Zuhause und eine gute Gemeinschaft findet. Ihre Kinder finden in mir einen Vater, und du findest in ihr eine Mutter.“

Darauf wusste Anna erst einmal nichts zu sagen und räumte schweigend den Kaffeetisch ab. Aber in ihrem Herzen kämpften Welten miteinander. Nach einer neuen Mutter hatte sie kein Bedürfnis, und dass die anderen Kinder ihren Vater als Vater bekamen, würde ihn ihr gewiss entfremden. Wie sollte sie damit umgehen? War der Verlust der Mutter nicht schon schlimm genug gewesen? Sollte sie nun auch noch den Vater verlieren? Sie ging auf ihr Zimmer, betrachtete das Bild ihrer Mutter, und bat den Himmel ihr zu helfen. Dann ging sie zu Bett und weinte sich in den Schlaf.

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